Thomas Biebricher |
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Die Disziplinierung des Rechts. | Heft
1/2003 Szenen einer Ehe Zum Verhältnis von Recht und Macht Seite 4-8 |
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Möglichkeiten einer Foucaultschen Rechtskritik |
Washington D.C. im Jahre 2054. Seit sechs Jahren hat es in der Stadt
keinen Mord mehr gegeben. Dies ist der Verdienst von Pre-Crime, einem
neuartigen Programm präventiver Verbrechensbekämpfung. Mit Hilfe der Visionen
dreier sogenannter Pre-Cogs, die Aufschluss über TäterInnen und Opfer
eines zukünftigen Gewaltverbrechens geben, ermitteln die MitarbeiterInnen
des Programms Zeit und Ort der zukünftigen Tat und schreiten im Vorfeld
ein. Voraussetzung hierfür ist eine lückenlose Erfassung und Überwachung
der gesamten Bevölkerung durch stationäre und mobile Netzhautscanner,
welche es möglich machen, ein Individuum innerhalb von Minuten zu lokalisieren,
denn oftmals kündigen sich Morde erst kurz vor der tatsächlichen Tat in
den Visionen der Pre-Cogs an. Ich werde folgendermaßen versuchen, eine solche Rechtskritik plausibel zu machen. Zunächst wird Foucaults Vorstellung rekonstruiert und erläutert, nach der Recht und Disziplin zwei unterschiedliche Machttypen darstellen. In den Studien der frühen 70er Jahre impliziert diese Gegenüberstellung von Disziplin und Recht eine weitgehende Marginalisierung des Rechts, da es als überkommener und prämoderner Machtmodus zu verstehen sei. Im Anschluss werden bestimmte Weiterentwicklungen in Foucaults Denken skizziert, die es ihm in den späten 70er Jahren ermöglichen, verschiedene neue Hypothesen bezüglich des Verhältnisses von rechtlicher und disziplinärer Macht zu formulieren. Einer dieser Thesen, nach der die Disziplin das Recht unterwandert und kolonisiert, sollen schärfere Konturen verliehen werden, da sie als eine mögliche Grundlage zeitgenössischer Rechtskritik fungieren kann. Abschließend soll das kritisch-diagnostische Potential der These mit Bezugnahme auf zwei aktuelle Phänomene aus der britischen Strafverfolgung bzw. dem deutschen Strafvollzug verdeutlicht werden. Disziplin - Foucaults Analytik moderner Macht Foucaults radikal neue Sichtweise des Phänomens der Macht stellt wohl seinen wichtigsten Beitrag zu den zeitgenössischen Sozialwissenschaften dar. Diese ringen gemeinsam mit der politischen Philosophie von je her um die Konzeptionalisierung von Macht und den Möglichkeiten ihrer Analyse. Foucaults Werke der 70er Jahre, vor allem Überwachen und Strafen sowie Der Wille zum Wissen, vollziehen einen Bruch mit den konventionellen Vorstellungen von Macht in der politischen Philosophie und eröffnen damit neue Wege und Perspektiven der Machtanalyse. Moderne Macht, die in Überwachen und Strafen unter dem Begriff der Disziplin gefasst wird, ist laut Foucault zu verstehen als die "Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren; das Spiel das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kraftverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt; die Stützen, die diese Kraftverhältnisse aneinander finden, indem sie sich zu Systemen verketten - oder die Verschiebungen und Widersprüche, die sie gegeneinander isolieren."1 Konkretisiert man diese etwas allgemeine Definition, so kann Macht laut Foucault folgendermaßen charakterisiert und dementsprechend analysiert werden:2 Die Attribute der Macht Macht ist relational. Sie ist keine Substanz, die besessen oder delegiert werden kann, sondern bezeichnet ein Verhältnis. Terminologisch korrekt muss daher immer von einer Machtbeziehung die Rede sein. Damit wendet sich Foucault gegen Konzeptionen, wie sie sich in so unterschiedlichen Theorieströmungen wie etwa Marxismus und Liberalismus finden, die Macht als Ware oder als Gut, jedenfalls immer als eine Substanz betrachten. Machtbeziehungen bestehen des Weiteren nie im Singular. Moderne Macht ist gekennzeichnet durch Heterogenität und Pluralität. Es gibt nicht die eine globale Zweiteilung zwischen den Mächtigen und den Machtlosen, zwischen Kapital und ArbeiterInnen oder zwischen dem herrschenden Patriarchat und unterworfenen Frauen. Darüber hinaus besteht keine qualitative Analogie zwischen der Machtrelation, welche die Beziehung Staat-BürgerIn kennzeichnet und der Machtbeziehung zwischen einem Familienvater und seinen Kindern. Das Phänomen moderner Macht kann nur adäquat erfasst werden, wenn seiner quantitativen und qualitativen Vielfalt Rechnung getragen wird. Foucault charakterisiert Macht darüber hinaus als kapillar. Dies bedeutet, dass es keinen Punkt gibt, von dem aus Macht ausstrahlt. Es existiert mit anderen Worten kein Zentrum der Macht. Weder Staat noch Produktionssphäre dürfen als solche Mittelpunkte, von denen Macht ausgeht, missverstanden und damit überbewertet werden. Vielmehr bildet sich Macht in den kleinsten Verästelungen sozialer Beziehungen, in den Kapillaren des Gesellschaftskörpers. Hinter den lokalen Kalkülen dieser Mikro-Machtverhältnisse stehen nicht die globalen Strategien einer wie auch immer gearteten herrschenden Klasse. Dies verdeutlicht Foucault mit der Charakterisierung von Macht als intentional und nicht-subjektiv. Wenn Macht sich überall bildet, dann kann es konsequenterweise kein Jenseits der Macht geben. Sie ist allumfassend. Auch diese Annahme stellt einen deutlichen Bruch mit den Traditionen der politischen Philosophie dar, die in fast all ihren Variationen davon ausgeht, dass es ein wie auch immer geartetes Jenseits der Macht gibt, unabhängig davon ob Macht positiv oder negativ verstanden wird. So ist in liberalistischen Theorien die Sphäre des Rechts ein Jenseits der Macht, in Jürgen Habermas' Diskurstheorie wären es zwanglose Argumentationen sowie entsprechende Konsense und in Hannah Arendts Theorie, in welcher Macht positiv betrachtet wird, ist es Gewalt, die das "Andere" der Macht darstellt. Die produktiven Effekte der Macht Neben diesen durchaus unkonventionellen Charakterisierungen muss eine von Foucault inspirierte Rechtskritik insbesondere auf die folgenden Elemente seiner Analytik moderner Macht Bezug nehmen: Die Disziplin ist produktiv. Ihre maßgebliche Wirkung entfaltet sie nicht durch Unterdrückung, Verbot oder erzwungenes Schweigen, stattdessen bringt sie unterschiedlichste Phänomene hervor: Sie erzeugt Identitäten und Persönlichkeitstypen, Wissensfelder und Diskurse. Von zentraler Bedeutung für diese Produktivität der Macht, welche anreizt, stärkt und fördert, ist der Begriff der Norm. Verstanden als Ideal oder als Durchschnitt ermöglicht sie die Klassifikation und Hierarchisierung verschiedener Elemente in bezug auf diese Norm. So kann beispielsweise die Vielfalt unterschiedlicher Sexualitäten in Relation zu einer als Norm verstandenen familiären Heterosexualität geordnet werden, um dann die verschiedenen Abweichungen in Typen (Pädophilie, Fetischismus etc.) zu fassen. Hier verweist Foucault nun auf die Bedeutung von Humanwissenschaften, wie etwa der Psychologie, die einen entscheidenden Beitrag zur Normbildung sowie der Untersuchung und Klassifikation der Abweichungen leisteten. Daher existiert kein Gegensatz zwischen Macht und Wissen(-schaft), vielmehr stehen beide in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis. Überwachung und Kontrolle In diesem Kontext ist zuletzt auf die zentrale Bedeutung von Überwachung und Kontrolle einzugehen, die Foucault für die Funktionsweise disziplinärer Macht gegeben sieht. Diese sind insofern integraler Bestandteil disziplinärer Machtbeziehungen, als es einer fortwährenden Beobachtung und Klassifikation der Individuen in ihrem Verhältnis zur Norm bedarf, um je nach positiver oder negativer Entwicklung gegebenenfalls intervenieren zu können. Und erst die kontinuierliche und minutiöse Überwachung der Individuen, die insbesondere in Institutionen wie der Psychiatrie oder dem Gefängnis herrscht, ermöglicht es der Wissenschaft wiederum, Informationen über diese zu sammeln, welche dann wiederum zu effizienterer Machtausübung benutzt werden können. Konstitutiv für die Disziplin ist also ein beständiger Macht-Wissen-Kreislauf. Moderne Macht lässt sich also aus Foucaults Perspektive als eine allumfassende Pluralität heterogener Machtbeziehungen verstehen, die keiner übergeordneten Logik gehorchen und über kein Zentrum verfügen. Diese disziplinäre Macht ist produktiv, wobei für diesen Aspekt insbesondere die an einer bestimmten Norm ausgerichtete Überwachung bzw. Kontrolle von zentraler Bedeutung ist, wobei jene beiden Elemente auf das wechselseitige Bedingungsverhältnis zwischen Macht und Humanwissenschaften verweisen. Diese Charakterisierung moderner Macht kann nun als Kontrastfolie dienen, um Foucaults Konzeption des Rechts zu rekonstruieren, da er dieses zumindest Anfang der 70er Jahre als prämoderne Form von Macht ansieht. Die Marginalisierung des Rechts Foucault schenkt der Bedeutung von Recht als einer prämodernen Form von Macht lange Zeit kaum Beachtung. Diese Marginalisierung des Rechts 3 äußert sich insbesondere in zwei Thesen. Zum einen ist dies die Vorstellung einer zunehmenden "Entrechtlichung", verstanden als ein Zurückweichen des Rechts, an dessen Stelle zusehends die Disziplin tritt.4 In der Moderne löst also ein neuer Machtmodus den überkommenen ab. Die zweite These, die Foucault vor allem in Überwachen und Strafen vertritt, und die als "Kaschierungsthese" bezeichnet werden könnte, spezifiziert die Rolle, die das obsolete Recht in der Gegenwart noch spielt. Hier ist die Rede von Disziplin "als einer Art Gegenrecht".5 Damit verbunden ist die Vorstellung, dass die Funktionsweise der Disziplinen das Recht unterhöhlt und letztendlich in seiner substantiellen Bedeutung suspendiert. Foucault führt das Beispiel des Arbeitsvertrages an, dessen Symmetrie und formale Gleichheit durch das disziplinäre Setting, das etwa an einem Fabrikarbeitsplatz herrsche, überlagert und in die Bedeutungslosigkeit abgedrängt werde.6 Zurück bleiben Formalismen, welche eine ideologische Funktion ausüben, da sie die Funktionsweise der tatsächlichen disziplinären Machtmechanismen kaschieren.7 Diese These Foucaults weist beträchtliche Gemeinsamkeiten mit marxistischen Rechtskritiken auf, die ebenfalls den ideologischen Charakter des Rechts betonen, welches kapitalistische Machtverhältnisse verschleiere. Tatsächlich entsteht Überwachen und Strafen in einer Zeit, in der Marxismus und sogar Maoismus eine kurze Renaissance in Foucaults Denken erleben. Die Disziplinierung des Rechts Erst mit einer methodologischen Revision, die Foucault Ende der 70er Jahre vornimmt, kann auch das Verhältnis von Disziplin und Recht auf andere Art und Weise konzeptionalisiert werden. War zuvor von einer Ablösung des Rechts durch die Disziplin die Rede, oder zumindest von einem Verschwinden des Rechts in seinen substantiellen Gehalten, so verwirft Foucault nun nachdrücklich die Vorstellung einer zeitlichen Abfolge unterschiedlicher Machttypen. Die Gesellschaft der Souveränität werde keineswegs durch eine Gesellschaft der Disziplin ersetzt.8 Vielmehr geht Foucault nun von einem synchronen Nebeneinander unterschiedlicher Machtmodi aus, wenn auch aus historischer Perspektive zu einem bestimmten Zeitpunkt immer die Vorrangstellung eines Machttyps gegenüber den übrigen beobachtet werden könne. Mit der postulierten Gleichzeitigkeit verschiedener Machtmodi gewinnt
die methodologische und konzeptionelle Frage nach deren Verhältnis, welche
sich zuvor in dieser Art und Weise überhaupt nicht stellte, wieder an
Bedeutung: Schließlich war das Recht ein Anachronismus der Macht, dem
keine größere Bedeutung mehr geschenkt werden musste. Tatsächlich finden
sich nun im Kontext dieser Revision der Machtanalytik unterschiedlichste
Vorschläge Foucaults hinsichtlich der Konzeptionalisierung des Verhältnisses
verschiedener Machttypen. Allerdings bleibt es zumeist bei isolierten
und recht vagen Thesen, eine systematische Untersuchung dieser methodologischen
Frage unternimmt Foucault nicht mehr. Die Kolonisierungsthese In einer 1976/77 gehaltenen Vorlesung heißt es: "Dass [...] diese Techniken der Disziplin und diese aus der Disziplin hervorgegangenen Diskurse in das Recht eindringen, dass die Normalisierungsvorgänge mehr und mehr die Gesetzesverfahren kolonisieren, kann das globale Funktionieren dessen erklären, was ich ‚Normalisierungsgesellschaft' nennen würde."10 Diese These konstatiert also eine Vermischung oder Überlagerung von disziplinärer und rechtlicher Macht. Der konzeptionelle Raum zur Formulierung dieses Vorschlags ergibt sich aus der Revision der Machtanalytik: Erst wenn an die Stelle der Vorstellung eines Nacheinanders der Machtypen ein Nebeneinander tritt, ist auch ein Miteinander, eine Überlagerung unterschiedlicher Machtmodi denkbar. Doch was bedeutet die Rede von einer Kolonisierung des Rechts durch die Disziplin? Zur Erläuterung lässt sich auf die weiter oben eingeführten Begriffe von Norm und Gesetz zurückgreifen, denen zentrale Bedeutung für die Funktionsweise von Disziplin bzw. Recht zukommt. Das Gesetz operiert auf der Basis einer binären Unterscheidung von Erlaubtem und Verbotenem und ermöglicht so die Beurteilung einer bestimmten Tat. Die Norm ist nicht binär strukturiert, mit ihrer Hilfe lassen sich Individuen hinsichtlich ihrer differentiellen Abweichung von der Norm klassifizieren. Sie organisiert also einen Raum unüberschaubarer Vielfalt, indem sie die einzelnen Elemente (Individuen) in einem Kontinuum zwischen Normalität und Pathologie verortet, um auf dieser Basis zu einer Beurteilung zu gelangen. Die Überlagerung von Gesetz und Norm Foucaults Kolonisierungsthese konstatiert eine Überlagerung des Gesetzes durch die Norm. Die binäre Unterscheidung zwischen erlaubten und verbotenen Handlungen wird überlagert durch ein Raster, das Individuen in einem Spektrum zwischen Normalität und Pathologie beurteilt. Die Folgen lassen sich im Bereich des Strafrechts als eine zeitliche und institutionelle Dispersion des Aktes der Be- bzw. Verurteilung charakterisieren. Steht im Justizapparat unter den Vorzeichen rechtlicher Macht die Beurteilung der Tat im Mittelpunkt, so gilt mit dem Eindringen der Norm den Individuen hinter den Taten die Hauptaufmerksamkeit. Ihre Vergangenheit, sei es eine kriminelle Karriere oder eine schwere Kindheit, muss nun verstanden werden, um das Individuum unter einen Typus auf der normal-pathologisch Achse einzuordnen, welcher Aussagen darüber zulassen soll, welche Gefahr in Zukunft von einem bestimmten Individuum ausgeht, d.h. welche Gefahr es für die Gesellschaft darstellt. Diese Schwerpunktverlagerung von der Tat zu den TäterInnen spiegelt sich wider in einem Konglomerat von Institutionen, das sich um den eigentlichen Justizapparat herum gruppiert. Kriminologische Institute erstellen Täterprofile, PsychologInnen müssen DelinquentInnen auf ihre Schuldfähigkeit hin untersuchen, während SoziologInnen sich mit den Ursachen von Kriminalität beschäftigen. Die Justiz bedient sich des humanwissenschaftlichen Wissens, und diese Wissenschaften selbst werden zum Bestandteil eines Netzwerkes der Überwachung, Beurteilung und Klassifikation, das von der Unterwanderung krimineller Organisationen durch Polizei und Justiz bis zu Resozialisierungsprogrammen für ehemalige Häftlinge reicht, von SchulsozialarbeiterInnen, die sich mit verhaltensauffälligen Jugendlichen beschäftigen, bis zu PsychiaterInnen, welche von Verurteilten als Bewährungsauflage konsultiert werden müssen. Die Logik des disziplinierten Rechts Anstelle einer einmaligen Beurteilung der Tat im Gerichtssaal durch den/die RichterIn nach dem Maßstab "erlaubt/verboten" steht eine kontinuierliche und räumlich bzw. institutionell dezentrierte Beurteilung von Individuen auf einer Achse "normal/pathologisch" durch juristische und humanwissenschaftliche ExpertInnen. Daher bedarf es umfassender Überwachung und einer Interpretation bzw. Operationalisierung der so generierten Daten durch wissenschaftliche ExpertInnen, um gegebenenfalls zu intervenieren, wenn möglich präventiv. Schließlich stellt in der Logik des disziplinierten Rechts jedes Individuum ein potentielles Risiko dar, das es zu kalkulieren gilt. Die Rationalität eines durch die Disziplin kolonisierten Rechts wird im eingangs skizzierten Szenario von Spielbergs Minority Report radikal zu Ende gedacht. Allumfassende Kontrolle wird hier durch spinnenartige Roboter gewährleistet, die, falls notwendig, auch zwangsweise Netzhautscans durchführen. Spielbergs Pre-Cogs mit ihrem unfehlbaren Wissen über zukünftige Gewaltverbrechen sind das Ideal der realen Wissenschaften, die sich um den Justizapparat herum angesiedelt haben, insofern als die Pre-Cogs nicht mehr potentielle Gefahren kalkulieren müssen, sondern über tatsächliches Faktenwissen verfügen (was sich im Laufe des Films allerdings als trügerisch herausstellt). Spielbergs Zukunftsvision bezeichnet so in gewisser Weise den Zielzustand einer Logik des disziplinierten Rechts. Diszipliniertes Recht - Zwei Beispiele aus der Praxis Zur Stützung der These von einer Überlagerung des Rechts durch die Disziplin kann beispielsweise eine zunehmende zeitliche und institutionelle Dispersion des Aktes der Ver- bzw. Beurteilung gelten, die in erster Linie auf das Individuum und nicht die Tat abzielt. Die Praxis der Sicherungsverwahrung Im Bereich des deutschen Strafvollzugs kann die Novellierung von § 66
Strafgesetzbuch (StGB) durch das "Gesetz zur Einführung der vorbehaltenen
Sicherungsverwahrung" angeführt werden, dessen neue Fassung am 28. August
2002 in Kraft getreten ist. Mit der Praxis der nachträglichen Sicherungsverwahrung sind mehrere Elemente verbunden, die als kennzeichnend für eine Überlagerung von Gesetz und Norm herausgearbeitet wurden: Zunächst handelt es sich vor allem um eine zeitliche Dispersion der Verurteilung, die sich bis in den Strafvollzug hinein erstreckt. Auch die institutionelle Dispersion wird sichtbar, da bei der Entscheidung über eine nachträgliche Sicherungsverwahrung nicht nur die RichterInnen, sondern auch RepräsentantInnen der Vollzugsanstalt sowie Sachverständige beteiligt sind. In gegenseitiger Absprache muss der/die Inhaftierte durch sie auf einer Achse zwischen Normalität und Pathologie verortet werden, um das Gefahrenpotential zu bestimmen, das von ihm/ihr ausgeht. Die Sicherungsverwahrung darf nur verhängt werden, "wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und seiner Entwicklung während des Strafvollzuges ergibt, dass von ihm erhebliche Straftaten zu erwarten sind", wie es in der neuen Fassung von § 66 StGB heißt. Die Praxis der Sicherungsverwahrung, welche derzeit bundesweit über etwa 300 Personen verhängt ist, dokumentiert also in aller Deutlichkeit, was unter einer Überlagerung des Rechts durch die Disziplin in der Praxis verstanden werden kann. Es bleibt anzumerken, dass von den unionsregierten Bundesländern Thüringen, Baden-Württemberg und Bayern bzw. der Unionsfraktion im deutschen Bundestag im November 2002 Gesetzesentwürfe in den Bundesrat bzw. Bundestag eingebracht worden sind, welche die Begutachtung von TäterInnen vor der Haftentlassung obligatorisch machen und eine Sicherungsverwahrung unabhängig von einem Vorbehalt im Urteil ermöglichen soll. Auf Landesebene ist die Möglichkeit, eine nachträgliche Sicherungsverwahrung ohne Vorbehalt im Urteil anzuordnen, derzeit zumindest in Baden-Württemberg gegeben. Die Sicherungsverwahrung wird hier mit Bezug auf das Ordnungsrecht, welches in die Zuständigkeit der Länder fällt, begründet: Sie diene dem ordnungsrechtlichen Zweck der Gefahrenabwehr. Der Crime and Disorder Act Als zweiten Beleg für die These einer Disziplinierung des Rechts können bestimmte Regelungen im Crime and Disorder Act angeführt werden, der 1998 in Großbritannien verabschiedet wurde. Das Gesetz eröffnet nicht nur die Möglichkeit einer Art Sicherungsverwahrung - allerdings ohne die Vorbehaltsregelung - vor allem enthält es neuartige Instrumente der präventiven Verbrechensbekämpfung. Es handelt sich um sogenannte orders, die sowohl im Falle "asozialen Verhaltens" (anti-social behaviour orders) wie auch gegen mutmaßliche Sexualstraftäter (sexual offender orders) ausgesprochen werden können.11 Im Falle "asozialen Verhaltens" werden die Anordnungen auf Antrag durch ein Gericht in Absprache mit den lokalen Behörden und der Polizei ausgesprochen. Im zweiten Falle ist allein der/die PolizeichefIn antragsberechtigt, die Anordnung wird ebenfalls von einem Gericht ausgesprochen. Welche Sanktionen in einer order enthalten sind, liegt im Ermessen des Gerichts, das gemäß dem Crime and Disorder Act dabei aber vor allem den Schutz potentieller Opfer im Auge haben muss. Diese orders sind insofern ein Beleg für die hier vertretene These, als auch sie den Akt der Beurteilung verflüssigen und - im Gegensatz zum deutschen Beispiel - diesen noch vor der eigentlichen Tat beginnen lassen. Die sexual offender orders betreffen Individuen, von denen die Polizei aufgrund wie auch immer gearteter Klassifikationen glaubt, dass von ihnen die Gefahr zukünftiger Sexualstraftaten ausgeht, was einen präventiven Eingriff notwendig mache. Leider, so lässt sich ergänzen, dürfte das Wissen der Polizei noch weit fehlbarer als das scheinbare Faktenwissen der Pre-Cogs in Spielbergs Minority Report sein. Auch die anti-social behaviour orders unterlaufen die klassische Binarität des Gesetzes, das die Beurteilung einer vorangegangenen Tat ermöglicht: Asoziales Verhalten beinhaltet keine kriminelle Handlungen, es ist so unscharf definiert, dass alles, was bei Mitmenschen Ärger, Stress oder Angst hervorruft, darunter gefasst werden kann. Kurz, die orders sind Sanktionsmittel, mit denen Individuen belangt werden können, die gegen kein Gesetz verstoßen haben, die jedoch auf die eine oder andere Weise von gewissen Normalitätsstandards abweichen. Die Norm überlagert auch hier das Gesetz. Schluss Im vorliegenden Beitrag sollte die These einer Disziplinierung des Rechts als eine mögliche Grundlage zeitgenössischer Rechtskritik im Anschluss an Foucault plausibel gemacht werden. Hierfür wurden zunächst Disziplin und Recht als moderne bzw. prämoderne Formen der Macht erläutert. Diese Vorstellung des "frühen" Foucault führte zu einer weitgehenden Marginalisierung des Rechts, da die Disziplin an die Stelle des Rechts trete und letzteres allenfalls als Ideologie weiterexistiere, welche die wahren Machtmechanismen mystifiziert. Der "späte" Foucault sieht dagegen ein Nebeneinander verschiedener Machtmodi, und unter der Vielzahl von nicht weiter ausgearbeiteten Vorschlägen zur Konzeptionalisierung des Verhältnisses zwischen Recht und Disziplin findet sich auch die These einer Kolonisierung des Rechts durch die Disziplin. Diese These wurde hier in ihren verschiedenen Aspekten expliziert, um ihren Inhalt genauer zu erfassen und die Merkmale einer solchen Entwicklung herauszuarbeiten. Abschließend wurde die These anhand zweier aktueller Beispiele aus dem deutschen und britischen Rechtsraum, die jene Indikatoren aufweisen, empirisch unterfüttert. Der These einer Disziplinierung des Rechts kann also ein gewisser kritisch-diagnostischer Gehalt attestiert werden. Dennoch soll hier mit einem Hinweis auf einige problematische Implikationen der These geschlossen werden. Von ihrer Kritik sind letztendlich auch Phänomene betroffen, die gemeinhin als Beleg für eine Humanisierung des Strafvollzugs betrachtet werden: Verminderte Schuldfähigkeit aufgrund von Persönlichkeitsstörungen, Resozialisierungsmaßnahmen für Häftlinge, psychosoziale Betreuung etc. Die Verlagerung von der bloßen Tat auf die TäterInnen bringt beispielsweise gerade auch die Möglichkeit einer gewissen Relativierung der Schuld mit sich. Wer die Disziplinierung des Rechts kritisieren will, der muss konsequenterweise auch all dies in seine Kritik einschließen. Thomas Biebricher ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Wissenschaftliche Politik in Freiburg. Anmerkungen 1 Foucault 1998, 113. Literatur Foucault, Michel, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses,
1994. |