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Wozu Jura studieren?
2002/2003

Seite 14-15
 
  Die Europäische Union  
 

Vor allem Anderen zeichnet sich Europa dadurch aus, dass damit nicht nur ein geographischer Raum angesprochen ist, sondern dass ganz besondere rechtliche und politische Verknüpfungen zwischen den europäischen Staaten bestehen.
Diese Art der Verbindung ist von großer Bedeutung, nicht nur angesichts der Geschichte der kriegerischen Auseinandersetzungen in Europa, sondern auch aufgrund der Probleme, die in einem Zeitalter der grenzüberschreitenden Kommunikation, der grenzüberschreitenden Katastrophen und des alle Grenzen sprengenden Kapitalismus auf keinen Fall mehr von Nationalstaaten allein und ohne Absprache mit anderen Staaten gelöst werden können. Insofern ist die Zusammenarbeit der europäischen Staaten, nicht nur notwendig, sondern grundsätzlich auch zu begrüßen.

Die Verbindungen

Es gibt zunächst die Europäische Union (EU) mit ihren fünfzehn Mitgliedstaaten. Die EU hat weitreichende, auch eigenständige Aufgaben und Rechte, was unter dem allgemeinen Begriff "Kompetenzen" zusammenzufassen ist. Für die Erfüllung dieser Kompetenzen ist eine Vielzahl von Institutionen zuständig.
Daneben existiert der Europarat als originär völkerrechtlicher Zusammenschluss, dem eine sehr viel größere Anzahl von Staaten, auch aus dem osteuropäischen Raum, angehört, und dessen Entscheidungen im Gegensatz zu manchen Entscheidungen der EU keine unmittelbare Wirkung entfalten. Wie die EU hat auch der Europarat eigene Institutionen, so zum Beispiel den in Straßburg ansässigen Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der nicht mit dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) zu verwechseln ist, der Teil der EU ist.
Die Zahl der sonstigen Zusammenschlüsse, einzelstaatlichen Verbindungen und Kooperationen in den verschiedensten Bereichen und mit Beteiligung verschiedenster Einzelstaaten kann kaum übersehen werden. Beispiele dafür sind die Europäische Freihandelsassoziation (EFTA), einfache Abkommen zwischen Nachbarstaaten über Flughafenlärm oder informelle Vereinbarungen der polizeilichen Zusammenarbeit.
Dieser Artikel wird sich wegen ihrer komplexen Struktur und der besonderen Reichweite, die ihre Politik entfaltet, mit der EU als wichtigster europäischer Verbindung befassen.

Die Struktur

Schon bei der Einordnung der Union nach den Begriffen des Staats- und Völkerrechts ergeben sich Schwierigkeiten: die EU ist mehr als eine rein völkerrechtliche multilaterale Vereinbarung zwischen Staaten wie zum Beispiel die UNO, aber weniger als ein eigener Staat. Sie hat zwar eigene Organe mit eigenen Entscheidungskompetenzen, aber keine allumfassende Zuständigkeit. Das heißt, sie kann anders als ein Nationalstaat nicht in jedem Bereich jede Maßnahme ergreifen, die sie für notwendig hält, sondern ist auf einen bestimmten Katalog von Aufgaben beschränkt. Hilfsweise wird sie deshalb als Staatenverbund bezeichnet.
Der innere Aufbau der EU zeichnet sich vorrangig durch seine kaum zu durchschauende Vielzahl von Institutionen und Entscheidungsfindungsverfahren aus. Rat, Kommission, Parlament und Gerichtshof stehen in einem Verhältnis zueinander, das mit dem nationalstaatlichen Verständnis von Staatsorganen wenig zu tun hat - Hauptentscheidungsträger ist der Rat, in dem die Regierungen der Mitgliedstaaten als Gesetzgeber tätig sind, die Kommission nimmt eine Zwischenstellung ein, indem sie sowohl für Ausführung als auch für Vorschläge von Gesetzen zuständig ist, wohingegen das Parlament weitgehend nur Mitentscheidungsrechte hat. Daneben befasst sich der Gerichtshof mit Einzelfällen des Gemeinschaftsrechts. Über allem stehen die Regierungskonferenzen, die über die Grundfragen der Zusammenarbeit entscheiden.
Neben dem Institutionsgefüge sind auch die Sachgebiete in besonderer Weise strukturiert. Die Sachgebiete gehören jeweils einer von drei so genannten Säulen an, die der Wirtschafts- und Währungsunion, die der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und die der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (ZBJI). Dabei gehören zur ersten Säule auch weitere Politikbereiche über die Wirtschaftspolitik hinaus, so zum Beispiel Umwelt-, Sozial-, Verkehrs-, Bildungs- und Regionalpolitik.
Innerhalb der Säulen gelten unterschiedliche Entscheidungsverfahren: in der ersten Säule wirken in unterschiedlichen Formen Kommission, Rat und Parlament bei der Entscheidung zusammen, in der zweiten und dritten Säule sind die Staats- und Regierungschefs/ -chefinnen der Mitgliedstaaten die alleinigen EntscheidungsträgerInnen. Dementsprechend werden die Politikbereiche der ersten Säule als "vergemeinschaftet" bezeichnet und die anderen beiden als intergouvernemental.

Der Ursprung

Ursache für diese verwirrende Struktur ist der Ursprung der Union und ihre geschichtliche Entwicklung. In den fünfziger Jahren war eine Gemeinschaft der fünf Gründerstaaten auf wirtschaftlicher Basis gebildet worden, die einen Verwaltungsapparat, die Kommission, und ein Entscheidungsgremium, den Rat, hatte. Diese Struktur war an das Selbstverständnis angepasst, nach dem die Nationalstaaten eine völkerrechtliche Bindung eingehen wollten, die sie in ihrer Souveränität nicht einschränkt. Dadurch dass der Rat nur einstimmig Beschlüsse fasste, war gesichert, dass nichts über den einzelnen Mitgliedstaat hinweg entschieden werden konnte.
Mit der Zeit wurden die Kompetenzen der EU immer mehr, auch über Fragen der Wirtschaftspolitik hinaus, erweitert. Im Zuge dessen wurde auch der Ruf nach mehr Demokratie in Bezug auf die Entscheidungsverfahren immer lauter, so dass ein Parlament errichtet und die Kommission mit mehr Unabhängigkeit ausgestattet wurde.
Zu einer grundsätzlichen Abkehr von der Zentrierung der Union in Richtung auf den Rat kam es jedoch bis heute nicht. Neben einer bedeutenden Erweiterung der Kompetenzen der EU, die inzwischen nicht nur eine gemeinsame Währung besitzt, sondern auch in den ureigensten nationalen Gefilden wie der Innen- und Außenpolitik tätig wird, wie in letzter Zeit die Einführung eines Europäischen Haftbefehls oder die Diskussion zu einer gemeinsamen Europäischen Eingreiftruppe zeigen, wurden bislang jedoch die Institutionen, ihre Zusammensetzung und ihr Verhältnis zueinander grundsätzlich nicht angetastet.
Einen Versuch der strukturellen Neuorientierung unternimmt zurzeit der extra zu diesem Zweck eingesetzte, so genannte Konvent, der nach Abschluss seiner Beratungen den Regierungen der Mitgliedstaaten einen Vorschlag unterbreiten soll, wie die EU umgebaut werden könnte.

Die Demokratie

Diese Struktur hat weitreichende Folgen für die demokratische Ausrichtung der EU. Dadurch dass die Regierungen der Mitgliedstaaten über den Rat weiterhin die Hauptentscheidungsträger sind, stellt eine auf nationaler Ebene rein exekutivisch tätige Institution auf europäischer Ebene plötzlich den Gesetzgeber dar. Eine demokratische Kontrolle der so getroffenen legislativen Akte ist dabei, anders als bei einem direkt gewählten Parlament, nur über Umwege möglich. Dies bedeutet ein krasses demokratisches Defizit innerhalb der EU.
Dazu kommt, dass auch die in den Mitgliedstaaten sehr wirksame, über die Medien vermittelte Kontrolle der Entscheidungen auf europäischer Ebene weitgehend fehlt, da wegen kultureller und sprachlicher Unterschiede keine genuin europäische Öffentlichkeit existiert. Die Medien in den einzelnen Mitgliedstaaten behandeln häufig nur die Themen, die einen nationalen Bezug aufweisen und lassen die gesamteuropäische Ebene oft außer Betracht.

Die Politik

Diese eingeschränkte Sichtweise ist jedoch nicht nur den Medien zu attestieren, sondern stellt leider auch ein Problem der Unionspolitik insgesamt dar. Die Regierungen im Rat stellen häufig ihre nationalen Interessen in den Vordergrund und entscheiden deswegen nicht immer zugunsten der gemeinsamen Sache, sondern nach Partikularinteressen. So kommt es auf den Sitzungen der Regierungschefs und -chefinnen, den Regierungskonferenzen, zu so genannten Kuhhandeln - im Sinne von "wenn Du mir erlaubst, meine Kohle weiter zu subventionieren, dann erlaube ich Deinen Fischern mehr zu fischen."
Über die Entscheidungen der EU im Einzelnen lässt sich Vieles sagen und es gibt viel zu kritisieren, zum Beispiel im Bereich der MigrantInnen- und Asylpolitik, der Subventions- oder Haushaltspolitik. Auf der anderen Seite sind auch "gute Entscheidungen" zu verzeichnen, seien es Urteile des Europäischen Gerichtshofs, die fortschrittliche Auffassungen zur Gleichstellungspolitik beinhalten, oder die Entwicklung einer europäischen Grundrechtscharta, die die vormaligen rein auf die wirtschaftliche Betätigung gerichteten europäischen Grundfreiheiten ergänzt.
Bei jeder Kritik und jedem Lob muss aber immer mit berücksichtigt werden, dass europäische Politik zu weiten Teilen die Politik der Regierungen der Nationalstaaten ist und deswegen die Entscheidungen auch immer nur so gut sein können, wie die nationalen Regierungen. So ist es deshalb eine verlogene Taktik der Regierungen, sich auf der nationalen Ebene über die falschen Entscheidungen der Union zu beschweren, obwohl sie selbst daran mitgewirkt haben.
Insgesamt gesehen entfaltet also die Struktur der Union ihre Wirkung insbesondere auch in Bezug auf den Inhalt der Entscheidungen. Die Regierungslastigkeit führt dazu, dass vorrangig Themen behandelt werden, die aus nationalstaatlicher Sicht von brennender Wichtigkeit sind und das sind eben hauptsächlich die Wirtschafts- und Währungs-, nicht aber die Sozialpolitik, und dass sie oftmals so entschieden werden, dass die nationalstaatlichen Einzelinteressen und nicht das Gemeinschaftsinteresse im Vordergrund stehen.
So wirkt sich die Struktur der Union auf den Inhalt der Entscheidungen aus, kritisiert man die europäische Politik, muss man sich gleichzeitig darüber im Klaren sein, dass eine andere innere Gestalt, mit mehr Beteiligung von direkt gewählten Organen, auch andere Inhalte mit sich bringen könnte.

Die Zukunft

Die nächsten Entwicklungsschritte der EU werden von weitreichender Bedeutung sein. Unumkehrbar ist die Erweiterung der Union nach Osten, die seit über zehn Jahren geplant und deren Voraussetzungen weitgehend umgesetzt sind. Eine Erweiterung auf über zwanzig Mitgliedstaaten, die außerdem eine noch größere Heterogenität aufweisen, ist in der oben dargestellten Struktur nicht vorstellbar - die Schwierigkeiten, die bereits jetzt aufgrund der Einstimmigkeit im Rat und der sonstigen an die nationalen Eitelkeiten angepassten Regelungen bestehen, wie des Anspruchs auf jeweils einen Posten in der Kommission, würden so potenziert, dass jegliche Tätigkeit blockiert würde. Es ist also unbedingt nötig, dass sich die Mitgliedstaaten nach dem Vorschlag des Konvents zu einer Änderung der Struktur durchringen und eine neue, der gewünschten Tiefe der Zusammenarbeit entsprechende Kompetenzverteilung finden.

Anna Luczak promoviert in Freiburg.

Literatur:

Forum Recht Heft 1 / 2000, status quo vadis - Die EU zwischen Neoliberalismus und Demokratisierung.
Grimm, Dieter, Ohne Volk keine Verfassung, in: Die Zeit vom 18. März 1999, 4ff.
Preuß, Ulrich K. / Zürn, Michael (Hrsg.), Probleme einer Verfassung für Europa, 1995.
Weidenfeld, Werner (Hrsg.), Wie Europa verfaßt sein soll - Materialien zur politischen Union, 1991.