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Vor allem Anderen zeichnet sich Europa dadurch aus, dass damit nicht
nur ein geographischer Raum angesprochen ist, sondern dass ganz besondere
rechtliche und politische Verknüpfungen zwischen den europäischen Staaten
bestehen.
Diese Art der Verbindung ist von großer Bedeutung, nicht nur angesichts
der Geschichte der kriegerischen Auseinandersetzungen in Europa, sondern
auch aufgrund der Probleme, die in einem Zeitalter der grenzüberschreitenden
Kommunikation, der grenzüberschreitenden Katastrophen und des alle Grenzen
sprengenden Kapitalismus auf keinen Fall mehr von Nationalstaaten allein
und ohne Absprache mit anderen Staaten gelöst werden können. Insofern
ist die Zusammenarbeit der europäischen Staaten, nicht nur notwendig,
sondern grundsätzlich auch zu begrüßen.
Die Verbindungen
Es gibt zunächst die Europäische Union (EU) mit ihren fünfzehn Mitgliedstaaten.
Die EU hat weitreichende, auch eigenständige Aufgaben und Rechte, was
unter dem allgemeinen Begriff "Kompetenzen" zusammenzufassen ist. Für
die Erfüllung dieser Kompetenzen ist eine Vielzahl von Institutionen zuständig.
Daneben existiert der Europarat als originär völkerrechtlicher Zusammenschluss,
dem eine sehr viel größere Anzahl von Staaten, auch aus dem osteuropäischen
Raum, angehört, und dessen Entscheidungen im Gegensatz zu manchen Entscheidungen
der EU keine unmittelbare Wirkung entfalten. Wie die EU hat auch der Europarat
eigene Institutionen, so zum Beispiel den in Straßburg ansässigen Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der nicht mit dem Europäischen
Gerichtshof (EuGH) zu verwechseln ist, der Teil der EU ist.
Die Zahl der sonstigen Zusammenschlüsse, einzelstaatlichen Verbindungen
und Kooperationen in den verschiedensten Bereichen und mit Beteiligung
verschiedenster Einzelstaaten kann kaum übersehen werden. Beispiele dafür
sind die Europäische Freihandelsassoziation (EFTA), einfache Abkommen
zwischen Nachbarstaaten über Flughafenlärm oder informelle Vereinbarungen
der polizeilichen Zusammenarbeit.
Dieser Artikel wird sich wegen ihrer komplexen Struktur und der besonderen
Reichweite, die ihre Politik entfaltet, mit der EU als wichtigster europäischer
Verbindung befassen.
Die Struktur
Schon bei der Einordnung der Union nach den Begriffen des Staats- und
Völkerrechts ergeben sich Schwierigkeiten: die EU ist mehr als eine rein
völkerrechtliche multilaterale Vereinbarung zwischen Staaten wie zum Beispiel
die UNO, aber weniger als ein eigener Staat. Sie hat zwar eigene Organe
mit eigenen Entscheidungskompetenzen, aber keine allumfassende Zuständigkeit.
Das heißt, sie kann anders als ein Nationalstaat nicht in jedem Bereich
jede Maßnahme ergreifen, die sie für notwendig hält, sondern ist auf einen
bestimmten Katalog von Aufgaben beschränkt. Hilfsweise wird sie deshalb
als Staatenverbund bezeichnet.
Der innere Aufbau der EU zeichnet sich vorrangig durch seine kaum zu durchschauende
Vielzahl von Institutionen und Entscheidungsfindungsverfahren aus. Rat,
Kommission, Parlament und Gerichtshof stehen in einem Verhältnis zueinander,
das mit dem nationalstaatlichen Verständnis von Staatsorganen wenig zu
tun hat - Hauptentscheidungsträger ist der Rat, in dem die Regierungen
der Mitgliedstaaten als Gesetzgeber tätig sind, die Kommission nimmt eine
Zwischenstellung ein, indem sie sowohl für Ausführung als auch für Vorschläge
von Gesetzen zuständig ist, wohingegen das Parlament weitgehend nur Mitentscheidungsrechte
hat. Daneben befasst sich der Gerichtshof mit Einzelfällen des Gemeinschaftsrechts.
Über allem stehen die Regierungskonferenzen, die über die Grundfragen
der Zusammenarbeit entscheiden.
Neben dem Institutionsgefüge sind auch die Sachgebiete in besonderer Weise
strukturiert. Die Sachgebiete gehören jeweils einer von drei so genannten
Säulen an, die der Wirtschafts- und Währungsunion, die der gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und die der Zusammenarbeit in den
Bereichen Justiz und Inneres (ZBJI). Dabei gehören zur ersten Säule auch
weitere Politikbereiche über die Wirtschaftspolitik hinaus, so zum Beispiel
Umwelt-, Sozial-, Verkehrs-, Bildungs- und Regionalpolitik.
Innerhalb der Säulen gelten unterschiedliche Entscheidungsverfahren: in
der ersten Säule wirken in unterschiedlichen Formen Kommission, Rat und
Parlament bei der Entscheidung zusammen, in der zweiten und dritten Säule
sind die Staats- und Regierungschefs/ -chefinnen der Mitgliedstaaten die
alleinigen EntscheidungsträgerInnen. Dementsprechend werden die Politikbereiche
der ersten Säule als "vergemeinschaftet" bezeichnet und die anderen beiden
als intergouvernemental.
Der Ursprung
Ursache für diese verwirrende Struktur ist der Ursprung der Union und
ihre geschichtliche Entwicklung. In den fünfziger Jahren war eine Gemeinschaft
der fünf Gründerstaaten auf wirtschaftlicher Basis gebildet worden, die
einen Verwaltungsapparat, die Kommission, und ein Entscheidungsgremium,
den Rat, hatte. Diese Struktur war an das Selbstverständnis angepasst,
nach dem die Nationalstaaten eine völkerrechtliche Bindung eingehen wollten,
die sie in ihrer Souveränität nicht einschränkt. Dadurch dass der Rat
nur einstimmig Beschlüsse fasste, war gesichert, dass nichts über den
einzelnen Mitgliedstaat hinweg entschieden werden konnte.
Mit der Zeit wurden die Kompetenzen der EU immer mehr, auch über Fragen
der Wirtschaftspolitik hinaus, erweitert. Im Zuge dessen wurde auch der
Ruf nach mehr Demokratie in Bezug auf die Entscheidungsverfahren immer
lauter, so dass ein Parlament errichtet und die Kommission mit mehr Unabhängigkeit
ausgestattet wurde.
Zu einer grundsätzlichen Abkehr von der Zentrierung der Union in Richtung
auf den Rat kam es jedoch bis heute nicht. Neben einer bedeutenden Erweiterung
der Kompetenzen der EU, die inzwischen nicht nur eine gemeinsame Währung
besitzt, sondern auch in den ureigensten nationalen Gefilden wie der Innen-
und Außenpolitik tätig wird, wie in letzter Zeit die Einführung eines
Europäischen Haftbefehls oder die Diskussion zu einer gemeinsamen Europäischen
Eingreiftruppe zeigen, wurden bislang jedoch die Institutionen, ihre Zusammensetzung
und ihr Verhältnis zueinander grundsätzlich nicht angetastet.
Einen Versuch der strukturellen Neuorientierung unternimmt zurzeit der
extra zu diesem Zweck eingesetzte, so genannte Konvent, der nach Abschluss
seiner Beratungen den Regierungen der Mitgliedstaaten einen Vorschlag
unterbreiten soll, wie die EU umgebaut werden könnte.
Die Demokratie
Diese Struktur hat weitreichende Folgen für die demokratische Ausrichtung
der EU. Dadurch dass die Regierungen der Mitgliedstaaten über den Rat
weiterhin die Hauptentscheidungsträger sind, stellt eine auf nationaler
Ebene rein exekutivisch tätige Institution auf europäischer Ebene plötzlich
den Gesetzgeber dar. Eine demokratische Kontrolle der so getroffenen legislativen
Akte ist dabei, anders als bei einem direkt gewählten Parlament, nur über
Umwege möglich. Dies bedeutet ein krasses demokratisches Defizit innerhalb
der EU.
Dazu kommt, dass auch die in den Mitgliedstaaten sehr wirksame, über die
Medien vermittelte Kontrolle der Entscheidungen auf europäischer Ebene
weitgehend fehlt, da wegen kultureller und sprachlicher Unterschiede keine
genuin europäische Öffentlichkeit existiert. Die Medien in den einzelnen
Mitgliedstaaten behandeln häufig nur die Themen, die einen nationalen
Bezug aufweisen und lassen die gesamteuropäische Ebene oft außer Betracht.
Die Politik
Diese eingeschränkte Sichtweise ist jedoch nicht nur den Medien zu attestieren,
sondern stellt leider auch ein Problem der Unionspolitik insgesamt dar.
Die Regierungen im Rat stellen häufig ihre nationalen Interessen in den
Vordergrund und entscheiden deswegen nicht immer zugunsten der gemeinsamen
Sache, sondern nach Partikularinteressen. So kommt es auf den Sitzungen
der Regierungschefs und -chefinnen, den Regierungskonferenzen, zu so genannten
Kuhhandeln - im Sinne von "wenn Du mir erlaubst, meine Kohle weiter zu
subventionieren, dann erlaube ich Deinen Fischern mehr zu fischen."
Über die Entscheidungen der EU im Einzelnen lässt sich Vieles sagen und
es gibt viel zu kritisieren, zum Beispiel im Bereich der MigrantInnen-
und Asylpolitik, der Subventions- oder Haushaltspolitik. Auf der anderen
Seite sind auch "gute Entscheidungen" zu verzeichnen, seien es Urteile
des Europäischen Gerichtshofs, die fortschrittliche Auffassungen zur Gleichstellungspolitik
beinhalten, oder die Entwicklung einer europäischen Grundrechtscharta,
die die vormaligen rein auf die wirtschaftliche Betätigung gerichteten
europäischen Grundfreiheiten ergänzt.
Bei jeder Kritik und jedem Lob muss aber immer mit berücksichtigt werden,
dass europäische Politik zu weiten Teilen die Politik der Regierungen
der Nationalstaaten ist und deswegen die Entscheidungen auch immer nur
so gut sein können, wie die nationalen Regierungen. So ist es deshalb
eine verlogene Taktik der Regierungen, sich auf der nationalen Ebene über
die falschen Entscheidungen der Union zu beschweren, obwohl sie selbst
daran mitgewirkt haben.
Insgesamt gesehen entfaltet also die Struktur der Union ihre Wirkung insbesondere
auch in Bezug auf den Inhalt der Entscheidungen. Die Regierungslastigkeit
führt dazu, dass vorrangig Themen behandelt werden, die aus nationalstaatlicher
Sicht von brennender Wichtigkeit sind und das sind eben hauptsächlich
die Wirtschafts- und Währungs-, nicht aber die Sozialpolitik, und dass
sie oftmals so entschieden werden, dass die nationalstaatlichen Einzelinteressen
und nicht das Gemeinschaftsinteresse im Vordergrund stehen.
So wirkt sich die Struktur der Union auf den Inhalt der Entscheidungen
aus, kritisiert man die europäische Politik, muss man sich gleichzeitig
darüber im Klaren sein, dass eine andere innere Gestalt, mit mehr Beteiligung
von direkt gewählten Organen, auch andere Inhalte mit sich bringen könnte.
Die Zukunft
Die nächsten Entwicklungsschritte der EU werden von weitreichender Bedeutung
sein. Unumkehrbar ist die Erweiterung der Union nach Osten, die seit über
zehn Jahren geplant und deren Voraussetzungen weitgehend umgesetzt sind.
Eine Erweiterung auf über zwanzig Mitgliedstaaten, die außerdem eine noch
größere Heterogenität aufweisen, ist in der oben dargestellten Struktur
nicht vorstellbar - die Schwierigkeiten, die bereits jetzt aufgrund der
Einstimmigkeit im Rat und der sonstigen an die nationalen Eitelkeiten
angepassten Regelungen bestehen, wie des Anspruchs auf jeweils einen Posten
in der Kommission, würden so potenziert, dass jegliche Tätigkeit blockiert
würde. Es ist also unbedingt nötig, dass sich die Mitgliedstaaten nach
dem Vorschlag des Konvents zu einer Änderung der Struktur durchringen
und eine neue, der gewünschten Tiefe der Zusammenarbeit entsprechende
Kompetenzverteilung finden.
Anna Luczak promoviert in Freiburg.
Literatur:
Forum Recht Heft 1 / 2000,
status quo vadis - Die EU zwischen Neoliberalismus und Demokratisierung.
Grimm, Dieter, Ohne Volk keine Verfassung, in: Die Zeit vom 18.
März 1999, 4ff.
Preuß, Ulrich K. / Zürn, Michael (Hrsg.), Probleme einer Verfassung
für Europa, 1995.
Weidenfeld, Werner (Hrsg.), Wie Europa verfaßt sein soll - Materialien
zur politischen Union, 1991.
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