Heft 2 / 1999:
Zensur Macht Meinung
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Tillmann Löhr
Kürzung von Sozialhilfe bei Bürgerkriegsflüchtlingen unzulässig
 

Bosnischen Bürgerkriegsflüchtlingen wurde im Winter 1996/97 in Niedersachsen die Sozialhilfe zu Unrecht gekürzt. Das entschied das niedersächsische Oberverwaltungsgericht (OVG) am 20. Dezember 1998.
Niedersächsische Sozialämter hatten den Flüchtlingen statt des vollen Sozialhilfesatzes nur noch Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ausgezahlt, welche ca. 20 % unter dem üblichen Sozialhilfesatz liegen.
Einem Erlaß des niedersächsischen Innenministeriums entsprechend, der nach dem Friedensabkommen von Dayton die Rückführung von Flüchtlingen nach Bosnien-Herzegowina vorsah, wurden bosnische Flüchtlinge ab Winter 1996 zur freiwilligen Ausreise aufgefordert bzw. in der Folgezeit auch abgeschoben, wenn sie der Ausreiseaufforderung nicht nachkamen. Zunächst wurden jedoch als finanzielles Druckmittel die erwähnten Kürzungen eingesetzt, um die entsprechenden Familien so zur "freiwilligen" Ausreise zu bewegen. Die Ämter beriefen sich dabei auf Einschätzungen verschiedener Innenministerien, denen zufolge Flüchtlingen aus der Region Bosnien-Herzegowina zu diesem Zeitpunkt eine gefahrlose Rückkehr in aller Regel zumutbar gewesen sei.
So auch in dem verhandelten Fall einer bosnischen Familie, die daraufhin Widerspruch gegen die Kürzungen erhob. Das OVG gab der Familie nun recht und stellte fest, daß ihr eine Rückkehr entgegen der Behauptung des Sozialamtes zu diesem Zeitpunkt unzumutbar gewesen sei. Daher habe sie Anspruch auf den vollen Sozialhilfesatz gehabt. Gleichzeitig verpflichtete das Gericht den Landkreis, der Familie die Differenz nachzuzahlen, welche ihr durch die Kürzung entstanden sei.
In der Urteilsbegründung heißt es, daß die Familie, da sie kroatischer Volkszugehörigkeit und katholischen Glaubens ist, in dem betreffenden Zeitraum nicht in ihren Herkunftsort in der von Serben dominierten Republik Srpska habe zurückkehren können.
Eine Ausreise in den kroatisch dominierten Teil Bosnien-Herzegowinas sei aber ebenfalls nicht zumutbar gewesen, da freiwillige RückkehrerInnen nach Berichten des Flüchtlingshilfswerks der UNO zu diesem Zeitpunkt nicht registriert worden wären. Ohne eine solche Registrierung aber hätte die Familie weder Wohnung noch Lebensmittel von staatlichen Stellen oder internationalen Hilfsorganisationen bekommen.
Dazu kam, daß die drei Kinder aus dem Schuljahr herausgerissen worden wären und höchstwahrscheinlich nach der Rückkehr ein Jahr hätten wiederholen müssen.
Nach dem Urteil könnten nun auf die Sozialämter erhebliche Rückzahlungsforderungen zukommen. Nach Angaben des Anwalts der Familie sind allein beim Verwaltungsgericht Göttingen über hundert ähnlich gelagerte Verfahren anhängig.

Tillmann Löhr, Göttingen

Quellen:

Urteil des OVG Lüneburg (Az. 12 L 1232/98), Frankfurter Rundschau v. 21.12.1998, junge welt v. 22.12.1998.