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Im Prozess gegen den Sohn eines Berliner Bordellbesitzers wegen 52-facher
Vergewaltigung und Zuhälterei ordnete das Landgericht (LG) Berlin am 7.
April 2003 fünf Monate Beugehaft gegen die Hauptbelastungszeugin T. an,
weil sie sich in der Hauptverhandlung weigerte, ihre Aussagen aus dem
Ermittlungsverfahren zu wiederholen. T. trat die Haft zusammen mit ihrem
damals sechs Monate alten Sohn an.
Nach § 70 Abs. 2 Strafprozessordnung kann gegen ZeugInnen zur Erzwingung
der Aussage Beugehaft angeordnet werden, wenn sie die Aussage grundlos,
also ohne sich auf ein Zeugnis- oder Aussageverweigerungsrecht berufen
zu können, verweigern. In engen Ausnahmefällen ist die Haftanordnung unzulässig,
wenn durch die Aussage konkrete Gefahren für Leben oder Gesundheit der
ZeugInnen oder engen Angehörigen bestehen.
Nach Angaben der Anwältin von T. gab es Bedrohungen der in der Ukraine
lebenden Familie der Zeugin. Dem Vater des Angeklagten war es gelungen,
die Ausländerakte der Zeugin zu besorgen; er drohte ihr mit seinen Kontakten
zur Polizei. T. hatte Anhaltspunkte dafür, dass er sie observieren ließ.
Dem LG war bekannt, dass der Vater des Angeklagten versucht hatte, eine
andere Zeugin zu einer falschen Aussagen zu bringen.
Trotzdem sah das LG keine konkrete Gefährdung von T. Die Zeugin hätte
detaillierter über konkrete Drohungen aussagen müssen. Die Verhängung
der Beugehaft sei zulässig und verhältnismäßig, denn für die Verurteilung
des dringend verdächtigen Angeklagten sei die Aussage der Zeugin erforderlich.
Hier wird ein Dilemma deutlich: Bei Straftaten im Bereich des Menschenhandels
kann die Verurteilung des Täters meistens nur auf die Aussage der Opfer
gestützt werden, die sich hierdurch gefährden und mit ausländerrechtlichen
Repressionen rechnen müssen. Bestehende ZeugInnenschutzprogramme bieten
keinen wirksamen Schutz. In dieser Situation muss ein Gericht abwägen
zwischen der Bedeutung der Aussage für die Verurteilung und dem Ausmaß
der Gefährdung der Zeugin, für deren Schutz es verantwortlich ist.
Die Anordnung der Beugehaft gegen T. ist nicht verhältnismäßig. Aufgrund
der geschilderten Vorfälle hätte das LG nicht an der Gefährdung zweifeln
dürfen. Zu berücksichtigen ist dabei, dass weitere Angaben der Zeugin
ihre Gefährdung hätten erhöhen können. Hierauf weist der Bundesgerichtshof
(BGH) in einem Urteil zu Beugehaftanordnungen hin (BGH, Neue Zeitschrift
für Strafrecht 1984, 32). Das LG hätte der Zeugin daher das Vorliegen
von Notstand zugestehen müssen.
T. wurde am 6. September aus der Haft entlassen. Sie sagte nicht zur Sache
aus. Auch dies bestätigt die Fragwürdigkeit der Haftanordnung. Am 11.
September soll T. erneut vernommen werden.
Claudia Perlitius, Berlin
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