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Europavisionen   Heft 1/2004
Europavisionen
Ode an die Freude?

Seite 2
 
 

"Die Werte auf denen die Union sich gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte. ... Die Union bietet ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. ... Sie ist auf ein hohes Maß an Umweltschutz [...] bestrebt. ... Sie trägt bei zu Frieden, Sicherheit, nachhaltiger Entwicklung der Erde [...]."

In diesen Sätzen definiert der Entwurf einer Verfassung für Europa die Ziele der Europäischen Union. Doch die hehren Worte täuschen. Hinter der blaubetuchten Fassade Europas, verdeckt durch den Glanz der Feierlichkeiten und Zeremonien, herrscht allgemeine Verunsicherung. Die BürgerInnen Europas sind auf der Suche nach einer Identität. Der zitierte Text des Verfassungsentwurfs eröffnet erst das breite Feld der Debatte darüber, wie die Europäische Union in Zukunft aussehen soll - und er bietet ein Inhaltsverzeichnis für unser Heft, in dem wir danach fragen, welche Ziele Europa tatsächlich verfolgt.
Seit den 90er Jahren hat sich Europa die Rechts- und Innenpolitik auf die Agenda gesetzt. Nunmehr soll Strafverfolgung über alle Grenzen greifen, eine europäische Polizei und Staatsanwaltschaft sind im Entstehen, die äußere Abschottung gegen Migration wird gemeinsam organisiert und in der Terrorismusbekämpfung feiern die InnenministerInnen ihre neue Einigkeit. Die Hoffnung, der europäische Rechtsstaat trage liberalere Züge als seine nationalen Vorgänger, wird dabei schnell enttäuscht. Die Feindbilder, die den innerstaatlichen Umgang mit Kriminalität und Migration bestimmen, werden auf europäischer Ebene potenziert.
Europa rüstet auf - rhetorisch und militärisch. Die Kriege auf dem Balkan und im Irak haben bei Europas StrategInnen Gelüste geweckt nach einer eigenständigen Rolle als politische und militärische Weltmacht. Dabei wird Europa noch nicht einmal seiner Verantwortung als wirtschaftliche Supermacht gerecht. Während sich die EU rühmt, als Beschützerin einer multilateralen internationalen Politik auch die Interessen des armen Südens und der bedrohten Umwelt zu verteidigen, verhindern Brüsseler DiplomatInnen erfolgreich schärfere Umweltstandards und den Zugang der unterentwickelten Welt zum europäischen Markt.

Mit dem Beitritt großer Teile Mittel- und Osteuropas verändert die EU ihren Charakter. Sie umfasst dann Gesellschaften mit anderen historischen Erfahrung und eigenen Identitäten. Wird sie diesen Besonderheiten gerecht, wenn sie ihre eigene Rechtstradition einfach nach Osten exportiert? Die Sorge, dass etwa erzwungene Umweltstandards in den Beitrittsstaaten wenig der Natur helfen, dafür aber erhebliche Legitimationsprobleme schaffen, ist nicht von der Hand zu weisen.
Die BürgerInnen der EU schließlich nehmen bei all diesen Entwicklungen eher eine Nebenrolle ein. Es ist vielleicht kein Zufall, dass die zukünftige Verfassung Europas den Grundrechtsteil nicht an ihre Spitze stellt. Indem die Grundrechte in den zweiten Abschnitt verbannt werden, verwandeln sie sich von vorstaatlich gedachten Freiheiten zu staatlich verliehenen Rechtspositionen. In Parallele dazu beruht auch die politische Willensbildung in der EU immer noch auf dem Primat der Exekutivorgane anstatt auf einer offenen Diskussion aller BürgerInnen und ihrer parlamentarischen Vertretung. Ohne demokratische Legitimation der zunehmenden Entscheidungsmacht von Gemeinschaftsinstanzen, ohne Gewaltenteilung zwischen Gesetzgebung und Exekutive führt die Europäische Union jedoch ihre eigene Ideengeschichte ad absurdum.