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"Die Werte auf denen die Union sich gründet, sind die Achtung der
Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und
die Wahrung der Menschenrechte. ... Die Union bietet ihren Bürgerinnen
und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. ...
Sie ist auf ein hohes Maß an Umweltschutz [...] bestrebt. ... Sie trägt
bei zu Frieden, Sicherheit, nachhaltiger Entwicklung der Erde [...]."
In diesen Sätzen definiert der Entwurf einer Verfassung für Europa die
Ziele der Europäischen Union. Doch die hehren Worte täuschen. Hinter der
blaubetuchten Fassade Europas, verdeckt durch den Glanz der Feierlichkeiten
und Zeremonien, herrscht allgemeine Verunsicherung. Die BürgerInnen Europas
sind auf der Suche nach einer Identität. Der zitierte Text des Verfassungsentwurfs
eröffnet erst das breite Feld der Debatte darüber, wie die Europäische
Union in Zukunft aussehen soll - und er bietet ein Inhaltsverzeichnis
für unser Heft, in dem wir danach fragen, welche Ziele Europa tatsächlich
verfolgt.
Seit den 90er Jahren hat sich Europa die Rechts- und Innenpolitik auf
die Agenda gesetzt. Nunmehr soll Strafverfolgung über alle Grenzen greifen,
eine europäische Polizei und Staatsanwaltschaft sind im Entstehen, die
äußere Abschottung gegen Migration wird gemeinsam organisiert und in der
Terrorismusbekämpfung feiern die InnenministerInnen ihre neue Einigkeit.
Die Hoffnung, der europäische Rechtsstaat trage liberalere Züge als seine
nationalen Vorgänger, wird dabei schnell enttäuscht. Die Feindbilder,
die den innerstaatlichen Umgang mit Kriminalität und Migration bestimmen,
werden auf europäischer Ebene potenziert.
Europa rüstet auf - rhetorisch und militärisch. Die Kriege auf dem Balkan
und im Irak haben bei Europas StrategInnen Gelüste geweckt nach einer
eigenständigen Rolle als politische und militärische Weltmacht. Dabei
wird Europa noch nicht einmal seiner Verantwortung als wirtschaftliche
Supermacht gerecht. Während sich die EU rühmt, als Beschützerin einer
multilateralen internationalen Politik auch die Interessen des armen Südens
und der bedrohten Umwelt zu verteidigen, verhindern Brüsseler DiplomatInnen
erfolgreich schärfere Umweltstandards und den Zugang der unterentwickelten
Welt zum europäischen Markt.
Mit dem Beitritt großer Teile Mittel- und Osteuropas verändert die EU
ihren Charakter. Sie umfasst dann Gesellschaften mit anderen historischen
Erfahrung und eigenen Identitäten. Wird sie diesen Besonderheiten gerecht,
wenn sie ihre eigene Rechtstradition einfach nach Osten exportiert? Die
Sorge, dass etwa erzwungene Umweltstandards in den Beitrittsstaaten wenig
der Natur helfen, dafür aber erhebliche Legitimationsprobleme schaffen,
ist nicht von der Hand zu weisen.
Die BürgerInnen der EU schließlich nehmen bei all diesen Entwicklungen
eher eine Nebenrolle ein. Es ist vielleicht kein Zufall, dass die zukünftige
Verfassung Europas den Grundrechtsteil nicht an ihre Spitze stellt. Indem
die Grundrechte in den zweiten Abschnitt verbannt werden, verwandeln sie
sich von vorstaatlich gedachten Freiheiten zu staatlich verliehenen Rechtspositionen.
In Parallele dazu beruht auch die politische Willensbildung in der EU
immer noch auf dem Primat der Exekutivorgane anstatt auf einer offenen
Diskussion aller BürgerInnen und ihrer parlamentarischen Vertretung. Ohne
demokratische Legitimation der zunehmenden Entscheidungsmacht von Gemeinschaftsinstanzen,
ohne Gewaltenteilung zwischen Gesetzgebung und Exekutive führt die Europäische
Union jedoch ihre eigene Ideengeschichte ad absurdum.
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