Frank Schreiber |
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Das Richterbild der Zivilgesellschaft | Heft
2/2004 freie Leere Bildung für den Wettbewerb Seite 61-65 |
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Die Auswahl der Projektionsfläche Die Suche nach einem Richterbild ist auch in Zeiten medialer Abwege wie Court-TV und Barbara Salesch kein nur popkulturelles oder feuilletonistisches Unterfangen: Der JuristInnenausbildung, den Beurteilungsrichtlinien und den Personalentwicklungskonzepten der Justizministerien liegt zumindest stillschweigend ein Richterbild zugrunde, das als letztlich politisches Leitbild über das Handeln der Justizverwaltung u.a. bei Einstellung, Beförderung und Fortbildung in erheblichem Maße den Justizalltag prägt. Unabhängig davon sollte natürlich jede Richterin und jeder Richter über ein gefestigtes Selbstverständnis verfügen, insoweit dient die Debatte über Richterbilder auch der Selbstvergewisserung und der Selbstbewusstseinsbildung im wörtlichen Sinne. Für wie bedeutend letztgenannter Aspekt gehalten wird, zeigt sich am Bemühen von Europarat und Vereinten Nationen, den Bereich richterlichen Handelns jenseits der Bindung an Recht und Gesetz mit ethischen Prinzipien und Kodices zu regeln. Die Vereinten Nationen haben im Rahmen des "Projekts Bangalore" Prinzipien richterlicher Ethik herausgearbeitet, die z.B. die Mitgliedschaft in einer politischen Partei verbieten und Vorgaben für das "korrekte" Verhalten im Privatleben machen; ein moderates Gegenmodell hierzu lieferte im Auftrag des Europarates der "Conseil Consultatif des Juges Europeén".1 Richterbilder entstehen zudem durch gesellschaftliche Projektion. Der
Dialog über Fremdbild und Selbstbild der Justiz kann Vorurteile und Missverständnisse
abbauen und zu einem aufgeklärten Bild der Dritten Gewalt beitragen. Das
Richterbild ist bedingt durch ein Gesellschaftsbild. Die justizpolitische
Diskussion ist momentan primär auf die Übertragung wirtschaftswissenschaftlicher
Paradigmen beschränkt2 und man scheint sich zu wundern, dass diese Transformation
von Ökonomismen auf die Dritte Gewalt eher schief gerät. Demgegenüber
soll im Folgenden eine gesamtgesellschaftliche Perspektive eingenommen
werden. Hier hält sich seit mehr als zehn Jahren erstaunlich hartnäckig
der Begriff der "Zivilgesellschaft", sei es als affirmative Gegenwartsbeschreibung
westeuropäischer Gesellschaften im Globalisierungsdruck oder als politisches
Ideal. Mit dem Anspruch zivilgesellschaftlicher Rechtspolitik wird versucht,
anstelle der strikten Trennung der Sphären von Staat und Gesellschaft
das Dreieck Bürger/-in - Staat - Bürger/-in in die rechtliche Steuerungsperspektive
zu rücken. Letztlich geht es dabei immer um die Frage, mit welchen Steuerungsinstrumenten
des Rechts die individuelle Freiheit einschließlich der Voraussetzungen
der Ausübung individueller Freiheit gegenüber dem Staat einerseits und
strukturell mächtigen Privaten andererseits zu sichern sind. Dabei werden
die Steuerungsmöglichkeiten in Grenzbereichen zwischen Staat und Gesellschaft
erweitert, sei es mit der Übertragung staatlicher Aufgaben an autonome
Gemeinwohl orientierte Institutionen außerhalb der genuin staatlichen
Sphäre oder aber durch die materiell-rechtliche Aufladung des Privatrechts
(z.B. Diskriminierungsschutz). Richterin oder Mediator? Spätestens seit die Streit schlichtende Funktion der Justiz bereits auf
dem Weg "zurück in die Gesellschaft" verortet wird7, steht die Frage nach
staatlichen Alternativangeboten zum überkommenen Gerichtsverfahren auf
der rechtspolitischen Agenda - auch um das durch lange Verfahrensdauer
und (vermeintlich) starre Verfahrensregeln geprägte, angegraute Bild der
Dritten Gewalt zu kolorieren. Trotz aller Unterschiede, denen bei der Konzeption der gerichtsnahen
Mediation Rechnung zu tragen ist,10 ist die Vernetzung mit den traditionellen
Angeboten der Justiz geboten. Dies entspricht der Notwendigkeit eines
Dialoges, der Notwendigkeit einer rechtlichen "Schnittstelle" zwischen
genuin staatlichen AkteurInnen und zivilgesellschaftlicher Sphäre. Gegenwärtig
beschränkt sich z.B. im Zivilprozess diese Schnittstelle im Wesentlichen
auf § 278 Abs. 5 ZPO, wonach das Gericht eine außergerichtliche Streitschlichtung
vorschlagen und das Verfahren insoweit zum Ruhen bringen kann. RichterInnen als kontrollierende SachwalterInnen rechtlich geschützter Interessen In den Medien und wohl auch in den Vorurteilen von weiten Teilen der Bevölkerung dominiert das Richterbild des verurteilenden Strafrichters. Indes arbeiten über die letzten Jahrhunderte und Jahrzehnte gesehen zumindest prozentual immer weniger Richterinnen und Richter in dieser Funktion. Der Justiz sind zunehmend neue Aufgaben übertragen worden oder in ihrer Bedeutung gewachsen, die weder den strafenden noch den/die im engeren Sinne Streit schlichtenden oder Streit entscheidenden RichterIn fordern, sondern eine Funktion betreffen, die hier als Rolle des kontrollierenden "Sachwalters" rechtlich geschützter Interessen bezeichnet werden soll - womit betont wird, dass einem "Sachwalter" eine über den "klassischen" Rechtsschutzauftrag hinaus gehende, aktivere Funktion bei der Rechtsverwirklichung zugewiesen ist. Mythos Richtervorbehalt Als erstes Beispiel für das Phänomen soll die verstärkte Normierung von
Richtervorbehalten angeführt werden: Die Palette reicht von der Ausweitung
von Überwachungsmaßnahmen im Bereich von sog. organisierter Kriminalität
und Terrorismusbekämpfung nach dem 11. September 200111 über die Diskussion
um die Entscheidung zu rechtmäßiger Sterbehilfe12, die Neuregelung oder
Präzisierung unterschiedlichsten Formen der Freiheitsentziehung in den
letzten Jahrzehnten, betreuungsrechtliche oder verwandte polizeirechtliche
Formen der Freiheitsentziehung aus psychiatrisch-medizinischen Gründen,
bis zur Abschiebehaft. Immer intensivere Grundrechtseingriffe werden über
die präventive Mitwirkung der Justiz legitimiert. Mit dem Richtervorbehalt kapituliert die Legislative dann häufig vor der Regelungskomplexität der Materie, die als Gemengelage zwischen öffentlichen Interessen und subjektiven Rechten in multilateralen Rechtsverhältnissen gekennzeichnet ist. Zuweilen flüchtet sie aber auch nur vor klaren - politisch aber nicht durchsetzbaren - Begrenzungen staatlicher Eingriffsbefugnisse. Letztlich dient die Richterschaft aber immer den "checks and balances" und unterliegt kraft Regelungstechnik einer besonderen Form des verfassungsrechtlichen Rechtsschutzauftrages. Der "Vollzug" einer staatliche Aufgabe (Gefahrenabwehr, Strafverfolgung etc.) im Einzelfall wird auf zwei Staatsgewalten verteilt. Den Richterinnen und Richtern wird zum Vollzug des Richtervorbehalts allerdings selten ein rein konditional gestricktes Normprogramm an die Hand gegeben, es dominieren unbestimmte Rechtsbegriffe und Abwägungsgebote. Damit ist ein Ausgleich von öffentlichem Interesse und Grundrechtsposition schon auf der Primärebene zu leisten: Die regelmäßig von der Exekutive angestoßene Gestaltung eines Rechtsverhältnisses wird erst durch die richterliche Entscheidung wirksam. Richterinnen und Richter sind nicht nachgeordnete Rechtsschutzorgane, sondern "Eingriffsrichter(-innen)". Die Einrichtung eines Richtervorbehalts ist zugleich Grundrechtsschutz durch Verfahren. Richterliche Tätigkeit ist dabei nicht rechtsstreitorientiert, sondern vor allem präventiv kontrollierend und den Eingriff mit verantwortend, insoweit "sachwaltend". Ausweitung der Inhaltskontrolle von Verträgen Eine in anderer Weise individuell steuernde - wenngleich nicht präventive
- Rolle kommt dem/der Streit entscheidenden ZivilrichterIn bei der Inhaltskontrolle
von Verträgen und demnächst beim zivilrechtlichen Diskriminierungsschutz
zu. Dabei handelt es sich eigentlich um nichts Neues, bereits Max Weber
diagnostizierte die "Entformalisierung" des Privatrechts u.a. über Generalklauseln.13
Relativ neu ist aber die Ausdifferenzierung und Ausweitung der gerichtlichen
Inhaltskontrolle: Neben den altbekannten Generalklauseln ist das inzwischen
in das BGB integrierte Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen hinzugetreten,
Sonderrechtsgebiete wurden z.B. mit dem Verbraucherschutzrecht neu geschaffen
und erweitert. Das Richterindividuum in der Zivilgesellschaft Dass das Richteramt für eine Vielzahl von sich durch Biographie, politische
Anschauung, soziales und kulturelles Selbstbild unterscheidende Juristinnen
und Juristen zugänglich sein sollte, gebietet unabhängig vom Grundgesetz
auch der Befund einer maximalen Pluralisierung und Segmentierung der Zivilgesellschaft.
Die Zivilgesellschaft hat ein pluralistisches Richterbild. Richterindividuum und JuristInnenausbildung Die Realität sieht zum Glück besser aus - und "schuld" daran dürfte eine
"Dysfunktionalität" im System der deutschen JuristInnenausbildung sein:
Die Richterfixierung im Ausbildungsleitbild hat dazu geführt, dass Juristinnen
und Juristen zwar bereits in der Ausbildung eine harte Schule an berufsorientierter
Sozialisation durchlaufen müssen, da aber das Ausbildungsziel "fertige"
Richterinnen und Richter sind, fehlt in der Bundesrepublik weitgehend
eine Selektion in der an die Ausbildung anschließenden ersten Berufsphase
und - zumindest beim Eingangsamt noch weit gehend - eine Auswahl nach
politischen Gesichtspunkten. Insoweit steht es um eine zivilgesellschaftliche
Permissivität beim Zugang zum Richteramt gar nicht einmal schlecht - wenn
man von der momentanen Haushaltskrise der Länder einmal absieht. Die Debatte um den politischen Richter Während das Leitbild einer politischen Richterin früher eher unter dem Gesichtspunkt der Gesetzesbindung oder des Berufsrechts (Mäßigungsgebot) und Prozessrechts (Befangenheit) diskutiert wurde,17 ist für das Richterbild der Zivilgesellschaft der/die politische RichterIn bereits funktional unabdingbar: Auch die Dritte Gewalt hat sich mit den politischen Erwartungen an sie auseinander zu setzen (was natürlich nicht heißt, ihnen immer zu folgen) und dabei Kritikverträglichkeit und Dialogfähigkeit heraus zu bilden. Bedeutsam sind zwei Ebenen des Politischen: Die Selbstwahrnehmung der "natürlichen" Richterperson als politisch denkender und handelnder Teil der Gesellschaft und der politische Gehalt des Handelns im Richteramt. Der/die politische RichterIn ist daher keinesfalls als IdeologIn, sondern vielmehr als selbstreflexiveR RichterIn gefordert: Nur wer seine Richterrolle in der staatlichen Sphäre und im Wechselspiel mit den politischen Erwartungen an das Staatshandeln analysiert, die Unmöglichkeit unpolitischen Richtens erkannt hat und sich mit seinen subjektiven Erwartungen als Auch-StaatsbürgerIn abgleicht, kann das Richteramt verantwortungsvoll ausüben. Befürchtet werden müssen also keine machtherrlichen Selbstverwirklichungsexzesse. Anzuerkennen ist schlicht die gesellschaftlichen Realität, in der die Richterperson - ohne die das Richteramt ja nicht denkbar ist - lebt und wirkt. Zur Selbstverwaltung der Dritten Gewalt Die Zivilgesellschaft spiegelt ihre Pluralität in einer Vielfalt von Organisationsformen, der eine Netzwerkstruktur der Machtausübung und -verteilung (und damit einer Selbstverwaltungsstruktur) eher entspricht als ein hierarchisches Modell. Nähert man sich von einem zivilgesellschaftlichen Rechtsstaats- und Demokratieverständnis den Anforderungen an die Verwaltung der Justiz, so stellt sich die Frage der Unabhängigkeit der Justiz nicht primär als Frage nach subjektiven Rechten der Richterinnen und Richter, sondern folgt aus dem Anspruch der Bürgerinnen und Bürger auf eine von Einfluss- und Parteinahme unabhängige und möglichst unmittelbar legitimierten Rechtsprechung. So bedarf es zumindest nicht primär wehrfähiger Positionen der einzelnen Richterinnen und Richter als vielmehr einer strukturellen Absicherung der Unabhängigkeit, die konsequent nur durch eine Selbstverwaltung gewährleistet werden kann. Dazu muss man den Demokratiebegriff gar nicht einmal "zivilgesellschaftlich" - d.h. materiell - aufladen: Die Legitimationskette vom Parlament über das Exekutivorgan Justizministerium ist schlicht ein Glied zu lang, wenn z.B. RichterInnenwahlausschüsse der Landesparlamente in einigen Landesrichtergesetzen gänzlich fehlen. Mit Blick auf die Gewaltenteilung erwartet die Zivilgesellschaft von der Richterschaft, dass sie sich nicht hinter der Justizverwaltung versteckt. Kritikverträglichkeit und Dialogfähigkeit können nur herausgebildet werden, wenn sich die Justiz selbst in die Auseinandersetzung mit den anderen beiden Gewalten begibt. Selbstverwaltung kann somit sowohl Rechenschaft als auch Transparenz fördern. Ein vom Parlament und/oder der Richterschaft gewählter "Gerichtsbarkeitsrat" wäre - wie etwa von der Neuen Richtervereinigung (NRV) gefordert - unmittelbar gegenüber dem Parlament haushaltsverantwortlich. Der Blick über die Grenzen zeigt, dass die Selbstverwaltung der Dritten Gewalt keine Utopie ist: In Italien, Portugal und Spanien entscheiden Justizverwaltungsräte, in denen vom Parlament oder der Richterschaft gewählte Richterinnen und Richter jeweils die Mehrheit stellen, über jede Ernennung, Versetzung und Beförderung. Ausblick Auch auf der Folie der Zivilgesellschaft - so komplex und zuweilen diffus dieses Gesellschaftsbild sein mag - bleiben Fragen aktuell, die seit Jahrzehnten aus anderen Blickwinkeln im Mittelpunkt der justizpolitischen Diskussion standen, sei es "der politische Richter" oder die Forderung nach mehr Selbstverwaltung der Justiz. Deutlich wird auch, dass sich die Erwartungen der bourgeois und citoyens der Zivilgesellschaft deutlich von bislang unterstellten Bedürfnissen der Nachfragerinnen und Nachfrager eines Produkts "Justizdienstleistung" unterscheiden. Die Potentiale einer zivilgesellschaftlichen Justizpolitik bestehen gerade darin, dass sie den ökonomistischen Ansätzen bereits wegen der breiteren Perspektive überlegen ist, aber zugleich die Herausforderung der dort sog. "Output-Orientierung" annimmt - nämlich der simplen Frage, welche Justiz gerade die Bürgerinnen und Bürger der Zivilgesellschaft wollen. Damit kann die zuweilen in der auch progressiven Justizpolitik anzutreffende Tendenz zur Selbstbespiegelung überwunden und der Weg zu neuen Allianzen geebnet werden. Die justizpolitische Diskussion verspricht jedenfalls spannend zu bleiben - sicherlich auch in den nächsten zwanzig Forum Recht-Jahrgängen. Frank Schreiber ist Richter in Darmstadt und Redakteur von Betrifft JUSTIZ. Er war von 1994 bis 2000 Redakteur von Forum Recht. Anmerkungen: 1 Vgl. Horst Häuser, Vorfragen (passim); CCJE-Entwurf: www.drb/ccje-richterethik.pdf.
Literatur Günter Frankenberg, Die Verfassung der Republik - Autorität und
Solidarität in der Zivilgesellschaft, Frankfurt 1997; insb. 41-55, 150-236. |