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Bei den internationalen Anstrengungen, die rechtlichen und tatsächlichen
Verhältnisse der Menschen zu verbessern, spielen die wirtschaftlichen,
sozialen und kulturellen Menschenrechte ("WSK-Rechte" - zum Beispiel das
Recht auf Nahrung, Arbeit, Wohnung, Gesundheit) eine zunehmend größere
Rolle. So wurden Ende des Jahres 2004 im Rahmen der Welternährungsorganisation
der Vereinten Nationen nach längeren Verhandlungen Richtlinien zum Menschenrecht
auf Nahrung verabschiedet, die dieses im Pakt über wirtschaftliche, soziale
und kulturelle Rechte (WSK-Pakt) von 1966 statuierte Recht näher bestimmen
und operationalisieren. Es besteht nun die begründete Hoffnung, auf dieser
neuen Grundlage bei den anstehenden Verhandlungen der Vereinten Nationen
zu den "Millennium Development Goals + 5" mit menschenrechtlichen Instrumenten
zu verbindlichen Vereinbarungen zu gelangen, die zu einer substanziellen
Reduzierung des Hungers in der Welt führen.
Ein Argument, das immer wieder gegen einen weiteren Ausbau der Rolle der
WSK-Rechte im internationalen, regionalen und nationalen Rahmen vorgebracht
wird, ist das ihrer mangelnden Justiziabilität. So sieht die Bundesregierung
zum Beispiel in ihrem 6. Menschenrechtsbericht "zur Frage der Justiziabilität
dieser Rechte [...] noch Klärungsbedarf." Dabei wird der Vorwurf der mangelnden
Justiziabilität oft mehrdeutig und wenig klar verwandt und scheint gelegentlich
die Funktion einer Art juristischer "Restmüllkategorie" anzunehmen, mit
deren Hilfe der zu erfassende normativ relevante Gegenstandsbereich für
gerichtlich nicht überprüfbar und nicht zuletzt für rechtlich nicht überprüfungswürdig
erklärt wird. Viele Sachverhalte, deren gerichtliche Überprüfung rechtspolitisch
wünschenswert ist, werden so zu Unrecht durch das stumpfe Messer "mangelnde
Justiziabilität" aus dem Blickfeld der RichterInnen ausgeschnitten.
Ausgangslage
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) von 1948 umfasst ungeschieden
sowohl die bürgerlich-politischen ("BP-Rechte" - zum Beispiel das Recht
auf Leben, persönliche Freiheit, Meinungsfreiheit, fairen Prozess) als
auch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte. Im
Rahmen der das 20. Jahrhundert prägenden Ost-West-Konfrontation kam es
in den langwierigen Vorarbeiten für die schließlich 1966 unterzeichneten
(und 1976 in Kraft getretenen) zwei großen Menschenrechtspakte1 zu einem
"Trade-Off" zwischen den politischen Blöcken und damit zu einer Aufspaltung
in die beiden genannten Kategorien von Menschenrechten.
Die Justiziabilität der BP-Rechte stand dabei im Wesentlichen nicht in
Frage. Für den Pakt über bürgerliche und politische Rechte (BP-Pakt) gibt
es die Möglichkeit eines Individualbeschwerdeverfahrens vor dem Menschenrechtskomitee
des Paktes, das unter bestimmten Bedingungen Individuen erlaubt, eine
behauptete Menschenrechtsverletzung überprüfen zu lassen. Ein solches
Individualbeschwerdeverfahren existiert für den WSK-Pakt bisher nicht.
Die deutliche Trennung in zwei unabhängige Pakte untermauert und zementiert
die oft vertretene Annahme, dieser formalen Trennung entspreche eine materielle
und wesentliche Differenz im Rechtscharakter der in den beiden Pakten
jeweils zusammengefassten Rechte.
Neben den Pakten von 1966 gibt es eine Reihe von weiteren Übereinkommen,
in denen WSK-Rechte normiert sind, und bei denen die Frage nach der Justiziabilität
in ähnlicher Weise auftaucht, zum Beispiel bei der Europäischen Sozialcharta.
Im deutschen Grundgesetz (GG) - im Gegensatz zu manchen Landesverfassungen
- sind kaum soziale Grundrechte explizit aufgeführt. Es findet eine gewisse
Herleitung solcher Rechte über das Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 GG
statt, im Übrigen sind in der Bundesrepublik soziale Rechte einfachrechtlich
gewährleistet. Auch in der Arbeit der gemeinsamen Verfassungskommission
nach der Vereinigung der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen
Republik ist das Argument der mangelnden Justiziabilität sozialer Grundrechte
und sozialer Staatszielbestimmungen schlagend aufgetaucht, so dass die
Aufnahme auch nur sozialer Staatszielbestimmungen - die als solche keine
unmittelbar verpflichtende Wirkung für die öffentliche Gewalt besitzen
- im Grundgesetz damals keine Chance hatte.
Unteilbarkeit der Menschenrechte
Die in der AEMR noch vorhandene Einheit der Menschenrechte wurde seitdem
in vielen Erklärungen internationaler und nationaler Gremien bekräftigt.
Hier spielt insbesondere die Abschlusserklärung der Wiener Menschenrechtskonferenz
von 1993 eine wichtige Rolle, in der die Unteilbarkeit und Universalität
aller Menschenrechte erneut festgehalten wird. Die Unteilbarkeit und Universalität
der Menschenrechte wird theoretisch auch von der Europäischen Union und
von der Bundesregierung vertreten und ihrem Handeln zugrunde gelegt. Nichtregierungsorganisationen
wie zum Beispiel die sich für das Menschenrecht auf Nahrung einsetzende
Organisation FIAN, Organisationen auf dem Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit
oder amnesty international betonen die Untrennbarkeit der verschiedenen
Generationen bzw. Dimensionen der Menschenrechte und machen die prinzipielle
Gleichwertigkeit von BP- und WSK-Rechten zur Grundlage ihrer Arbeit.
Auch wenn damit zumindest dem Anspruch nach heute eine weitgehende Einigkeit
darüber besteht, dass eine Trennung der genannten Dimensionen der Menschenrechte
nicht möglich ist, so bleiben zwischen diesen doch durchaus beachtenswerte
Unterschiede, die in einer prinzipiellen Tendenz der WSK-Rechte zu verstärkten,
kostenintensiven Positiv-Maßnahmen des Staates gesehen werden können,
im Gegensatz zu den eher unterlassensorientierten Pflichten, die sich
aus den bürgerlich-politischen Menschenrechten ergeben. Rechtfertigen
die angedeuteten Unterschiede aber die Behauptung, dass WSK-Rechte nicht
justiziabel sind?
De-facto-Justiziabilität
Die Frage nach der Justiziabilität kann zunächst als die Frage verstanden
werden, ob die WSK-Rechte geeignet sind, Gegenstand eines gerichtlichen
Verfahrens zu sein. Dies ist dann nicht der Fall, wenn es schlicht keine
zuständigen und kompetenten Spruchkörper gibt, die gerichtlich - oder
im internationalen Rahmen auch quasi-gerichtlich - über Fragen betreffend
die WSK-Rechte urteilen können, wenn also effektive Durchsetzungsmechanismen
fehlen.
Darin kann sich der Vorwurf der mangelnden Justiziabilität der WSK-Rechte
aber kaum erschöpfen. Denn wenn diese Rechte ansonsten Gegenstand eines
gerichtlichen Verfahrens sein könnten, und es lediglich an entsprechend
kompetenten Gerichten fehlte, dann könnten solche Gremien geschaffen bzw.
vorhandene Gremien - wie etwa der WSK-Ausschuss des Wirtschafts- und Sozialrats
der Vereinten Nationen - gestärkt werden, zum Beispiel durch das "Optional
Protocol" (Zusatzprotokoll) zum WSK-Pakt, das ein Individualbeschwerdeverfahren
einrichten soll. Letztlich liefe es hier auf eine Frage der politischen
Priorität und darauf hinaus, ob die entsprechenden Beschwerdeverfahren
politisch gewollt sind oder nicht. Welche gesellschaftlichen Interessen
einer Stärkung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Menschenrechte
entgegenstehen, und ob nicht solche Interessen - "wohl verstanden" - durchaus
auch für diese Rechte sollten streiten können, kann hier nicht erörtert
werden.
Materielle Justiziabilität
Hinter dem Vorwurf der mangelnden Justiziabilität der WSK-Rechte scheint
aber noch eine weiter gehende Fragestellung zu stehen: Sind die WSK-Rechte
ihrem Rechtscharakter nach geeignet, überhaupt Gegenstand eines gerichtlichen
Verfahrens zu sein? Es stellen sich hier zunächst die Fragen nach der
unmittelbaren innerstaatlichen Anwendbarkeit solcher zum Beispiel im Völkerrecht
normierten Rechte ohne vorher gehenden staatlichen Umsetzungsakt oder
nach der Qualität von WSK-Rechten als subjektiven, dem einzelnen Menschen
zustehenden Rechten. Diese Probleme tauchen auch bei anderen völkerrechtlichen
Normen auf und sollen hier nicht weiter behandelt werden. Selbst wenn
WSK-Rechte nur als objektives, lediglich die Staaten verpflichtendes Recht
verstanden werden, ohne dass damit subjektive Rechte der einzelnen Menschen
begründet würden, setzt dies noch voraus, dass solche Rechte einen voll
gültigen Rechtscharakter besitzen - und nicht bloße Staatszielbestimmungen
oder Programmsätze sind, die die öffentliche Gewalt nicht unmittelbar
binden und nur - aber immerhin - mittelbar bei gerichtlichen Entscheidungen
im Rahmen der Auslegung von Normen herangezogen werden können.
Will man WSK-Rechte als Rechte ernst nehmen, so impliziert das, ihren
vollen rechtlichen Verpflichtungscharakter anzuerkennen. Gegen diesen
werden insbesondere zwei Argumente vorgebracht: WSK-Rechte seien zu unbestimmt
bzw. vage und WSK-Rechte seien ressourcenabhängig und könnten daher keine
voll gültigen Rechte sein.
Zu unbestimmt
Art. 2 Abs. 1 WSK-Pakt verpflichtet jeden Unterzeichnerstaat, "einzeln
und durch internationale Hilfe und Zusammenarbeit [...] unter Ausschöpfung
aller seiner Möglichkeiten Maßnahmen zu treffen, um nach und nach mit
allen geeigneten Mitteln [...] die volle Verwirklichung der in dem Pakt
anerkannten Rechte zu erreichen". Diese Vorschrift lässt den Staaten einen
großen Ermessensspielraum hinsichtlich der zu wählenden Mittel. Art. 11
Abs. 1 WSK-Pakt zum Beispiel besagt: "Die Vertragsstaaten erkennen das
Recht eines jeden auf einen angemessenen Lebensstandard für sich und seine
Familie an, einschließlich ausreichender Ernährung, Bekleidung und Unterbringung,
sowie auf eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen." Formulierungen
wie "angemessener Lebensstandard" gelten als unbestimmt bzw. vage.
Konkreter hat der Saarländische Verfassungsgerichtshof sich in einer Entscheidung
mit dem Argument auseinandergesetzt, die Vagheit des in der Saarländischen
Verfassung statuierten Rechts auf Arbeit begründe dessen mangelnde Justiziabilität.2
Er stellte fest, die Norm sei zu unbestimmt, um im Wege der richterlichen
Rechtsanwendung das soziale Grundrecht im Einzelfall durchzusetzen. Die
Rechtsfolgenseite der Norm lege den Inhalt des Verschaffungsanspruches
nicht einmal ansatzweise fest. Es werde nicht gesagt, wen die Pflicht
letztlich treffe, den Arbeitsplatz bereit zu stellen und den Lohn zu zahlen.
Die Justiziabilität scheitere aber auch an der mangelnden Bestimmtheit
hinsichtlich des Leistungsgegenstandes. Die Verfassung regle nicht, ob
das Recht ein soziales Minimalrecht oder ein Anspruch auf einen wie auch
immer der Existenz und Lebensweise des einzelnen angemessenen Arbeitsplatz
mit angemessenen Arbeitsbedingungen und angemessener Entlohnung sein soll.
Durch die Statuierung einer entsprechenden Norm sei auch ebenso wenig
entschieden, ob das Anspruchsniveau auf einen wie auch immer absolut zu
bestimmenden Standard fixiert sei oder nach dem Maß der wirtschaftlichen
Prosperität des Gemeinwesens schwanke. Diese Ausführungen lassen sich
sinngemäß auf andere WSK-Rechte übertragen, zum Beispiel auf das Recht
auf Wohnen.
Exkurs in die Rechtstheorie
Vage oder unbestimmte Begriffe sind ein Phänomen, das der Sprache selbst
anhaftet. Nach der Definition von Koch und Rüßmann besitzt ein vager Begriff
die folgenden Eigenschaften:3
1. Es gibt Gegenstände, die ohne Zweifel unter den Begriff fallen ("positive
Kandidaten").
2. Es gibt Gegenstände, die ohne Zweifel nicht unter den Begriff fallen
("negative Kandidaten").
3. Es gibt Gegenstände, hinsichtlich derer nicht entschieden werden kann,
ob sie unter den Begriff fallen oder nicht ("neutrale Kandidaten").
Damit ergibt sich immerhin, dass es "auch beim unbestimmten Begriff [...]
sichere (assertorische) Urteile [gibt]; aber zwischen dem bejahenden und
dem verneinenden Urteil liegt ein Grenzgebiet der bloßen Möglichkeit (problematisches
Urteil)."4 Vage Begriffe sind damit solche Begriffe, die neutrale Kandidaten
haben.
Die äußerste Grenze der Auslegung - und damit der "positive" Bereich der
richterlichen Kompetenz - ist, jedenfalls grundsätzlich, der Wortsinn.
Der zu ermittelnde Wortsinn soll einerseits der weiteren Auslegung Grenzen
ziehen, andererseits aber auch irgendwie einen Spielraum lassen. Die Grenzen
der Wortsinnauslegung müssen insofern möglichst genau markiert werden.
Auf der Grundlage des zur Vagheit Gesagten lässt sich das Postulat vom
möglichen Wortsinn als Grenze der Auslegung klar formulieren: "Nach der
Feststellung des Wortsinns darf bei vagen Begriffen die Auslegung mit
Hilfe der anderen juristischen Auslegungsregeln nur mehr die neutralen
Kandidaten betreffen; diese dürfen den positiven oder negativen zugeordnet
werden."5
Wenn es also einen Wortsinn gibt, der "klare" - also positive oder negative
- Kandidaten hergibt, dann ist der Begriff insofern nicht mehr auslegungsbedürftig
und ohne weiteres anzuwenden; für die Rechtsfindung qua Auslegung bleibt
nur hinsichtlich der neutralen Kandidaten Raum. Der Wortsinn wiederum
bildet sich durch den jeweiligen relevanten Sprachgebrauch heraus. Dieser
relevante Sprachgebrauch bildet den Rahmen und den Ausgangspunkt der richterlichen
Suche nach der Bedeutung der Norm. Diese Suche nimmt so immer "von einer
im Lichte des relevanten Sprachgebrauchs bereits partiell semantisch interpretierten
gesetzlichen Vorschrift ihren Ausgang".6
Der relevante Sprachgebrauch - wie jeder Sprachgebrauch - entsteht durch
den tatsächlich stattfindenden Diskurs der beteiligten Kreise. In diesem
Fall ist - um auf die WSK-Rechte zurück zu kommen - bereits viel an "diskursiver
Substanz" vorhanden. So gibt es mittlerweile eine Vielzahl von so genannten
"General Comments" zu einzelnen Rechten des WSK-Paktes, so zum Beispiel
zum Recht auf Nahrung, zum Recht auf Wohnung oder Recht auf Gesundheit.
Dazu kommen immer mehr Einzelfallentscheidungen nationaler Gerichte sowie
anderer Gremien, etwa der Internationalen Arbeitsorganisation. Auch bezüglich
des BP-Paktes wurde im Rahmen des dort möglichen Individualbeschwerdeverfahrens
bereits indirekt über WSK-Rechte entschieden (etwa über das Recht auf
Gesundheit via Recht auf Leben). Zudem gibt es viele ExpertInnengremien,
nationale Menschenrechtsinstitute und Arbeiten aus dem akademischen Umfeld,
die Teile des relevanten Diskurses darstellen und die WSK-Rechte zunehmend
konkretisieren. Letztlich ist es natürlich Aufgabe der Rechtsprechung
selbst, für ein zunehmend dichteres Netz juristisch relevanten Sprachgebrauchs
und damit für eine Zunahme der Bestimmtheit bisher relativ unbestimmter
Begriffe zu sorgen.
Dimensionen der Menschenrechte
Es gibt einen weiteren Ansatzpunkt, um den Anwendungsbereich des Vagheits-
und des darauf gestützten Injustiziabilitäts-Arguments weiter zu verkleinern.
Was der Saarländische Verfassungsgerichtshof in der zitierten Entscheidung
- und mit ihm viele andere - vorauszusetzen scheint, ist, dass das betroffene
Recht überhaupt und in erster Linie als ein Leistungsrecht zu verstehen
ist, also als ein Recht, eine positive Leistung vom Staat zu fordern.
Dies deckt sich mit der üblichen Anschauung, dass BP-Rechte Abwehrrechte,
WSK-Rechte jedoch Leistungs- oder Anspruchsrechte seien.
Gegen eine solche "vertikale" Trennung der Menschenrechte lässt sich jedoch
eine sozusagen "horizontal" orientierte Unterscheidung anführen, die an
allen Menschenrechten drei wesentliche Aspekte unterscheidet. Nach dieser
Ansicht gibt es eine Abstufung von Pflichten des Staates, die sich als
erstes in der Pflicht zur Achtung von Menschenrechtsausübung, des weiteren
in der Pflicht zum Schutz der Ausübung der Menschenrechte vor Beeinträchtigungen
durch Dritte und schließlich in der Pflicht zur positiven Gewährleistung
der Voraussetzungen für die Ausübung der Menschenrechte äußert. Im internationalen
Sprachgebrauch hat sich dazu die Terminologie "respect, protect, fulfill"7
durchgesetzt, wobei die Verpflichtungsstufe des "fulfill" noch weiter
untergliedert werden kann in die Aspekte "facilitate" (erleichtern), "promote"
(fördern) und "provide" (bereitstellen). Die geläufigen Einteilungen von
Menschen- bzw. Grundrechten in Abwehrrechte, Teilhaberechte und Anspruchs-
oder Leistungsrechte findet sich hier wieder - mit dem Unterschied, dass
sie als Momente in unterschiedlicher Gewichtung an allen und jedem einzelnen
Menschenrecht auftauchen.
Die Möglichkeiten, justiziable Komponenten innerhalb der WSK-Rechte zu
finden, werden so erweitert, denn nun stellt sich die Frage nach der Vagheit
für jede "Stufe" der Intensität und Richtung staatlichen Handelns auf
differenzierte Weise neu. So muss zum Beispiel das Recht auf Wohnen nicht
gleichbedeutend sein mit einem einklagbaren Anspruch auf eine Wohnung
- ohne dass damit das Recht auf Wohnen seine Rechtsqualität als justiziables
Recht einbüßen müsste. Vielmehr erlaubt das oben ausgeführte Begriffsverständnis
eine weiter gehende Differenzierung hinsichtlich der Verpflichtung des
Staats bezüglich des Rechtes auf Wohnen.8 So müsste der Staat etwa auf
der Stufe der Achtung das Recht auf Zugang zu einer menschenwürdigen Wohnung
für jeden Menschen respektieren; Menschen, die eine Wohnung haben, dürften
prima facie vom Staat aus dieser nicht vertrieben werden. Auf der Stufe
des Schutzes müsste der Staat Eingriffe von Dritten abwehren, zum Beispiel
Landvertreibungen verhindern. Auch auf der Stufe der positiven Gewährleistung
bliebe Raum für weiter gehende Differenzierungen: Von der Ausarbeitung
einer nationalen "Housing Strategy" über die Bereitstellung von Wohnungshilfen
für arme Bevölkerungsgruppen oder neuer Siedlungsplätze und Zugang zu
neuem Produktionsland u.a. bei unvermeidbaren Umsiedlungen bis hin zur
Zur-Verfügung-Stellung von Wohnraum durch den Staat.
Im Rahmen des hier vorgestellten Verständnisses der WSK-Rechte erscheint
somit eine pauschale und undifferenzierte Annahme ihrer mangelnden Justiziabilität
nicht mehr überzeugend. Die auf jeder der genannten Stufen auftretenden
vagen Begriffe müssen und können nach ihren positiven, negativen und neutralen
Kandidaten untersucht werden. Der Umfang der auch nach diesen Differenzierungen
noch übrig bleibenden Unbestimmtheiten scheint jedenfalls geringer, als
es der erste Blick vermuten lässt.
Ressourcenabhängigkeit
Zur Erfüllung der ersten zwei Komponenten der Menschenrechte - die Abwehr-
und die Schutzdimension - genügen oft legislative oder administrative
staatliche Maßnahmen, die regelmäßig keine großen finanziellen Belastungen
des Staates zur Folge haben. Jedoch kann ein Menschenrecht auch die Verpflichtung
des Staats zu kostenintensiven Leistungen bedeuten, wie etwa in der Bereitstellung
eines funktionierenden Justizapparates zur Wahrung des Rechts auf ein
faires Verfahren, oder der Polizei zur Wahrung des Rechts auf Leben und
körperliche Unversehrtheit. Oder eben in der Bereitstellung einer menschenwürdigen
Wohnung.
Der Saarländische Verfassungsgerichtshof hat in dem bereits zitierten
Urteil zum Recht auf Arbeit ausgeführt, ein so konzipiertes Recht würde
in die Haushaltskompetenz des Parlaments derart weit gehend eingreifen,
dass im Falle krisenhafter Wirtschaftsentwicklungen mit hohen Arbeitslosenzahlen
die Haushaltsmittel in einem so großen Umfang durch Löhne für an sich
nicht benötigte Arbeitskräfte im öffentlichen Dienst blockiert wären,
dass von einer eigenständigen Haushaltspolitik des Parlaments keine Rede
mehr sein könnte und so ein Urrecht des Parlaments, das Budgetrecht, auf
dem Wege des justiziellen unmittelbaren Verfassungsvollzugs unterlaufen
würde.
Abgesehen davon, dass solche kostenintensiven Leistungen des Staates für
bestimmte Menschenrechte außer Frage stehen (s.o.), erscheint nach dem
Gesagten jedoch jedenfalls fraglich, ob eine solche Argumentation für
alle oder auch nur die Mehrzahl der in Frage kommenden Fälle von Verletzungen
von WSK-Rechten in Betracht kommt. Je nach betroffenem Menschenrecht und
nach betroffener Verpflichtungsdimension erscheinen auch die finanziellen
Folgen und damit der Eingriff in die Budgethoheit des Parlaments höchst
unterschiedlich. Viele Maßnahmen zum Schutz der WSK-Rechte über die bloße
Diskriminierungsfreiheit in der Anwendung sowie pauschale und statische
Mindeststandards hinaus sind auch für Staaten mit kleinem finanziellen
Spielraum möglich und nötig.
Im Ergebnis bedeutet dies eine stärkere Bindung der öffentlichen Gewalt
an wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechtsstandards. Auch
wenn dadurch das immer bestehende Spannungsfeld zwischen den Menschenrechten
einerseits und der staatlichen Souveränität andererseits betreten wird
und der politische Gestaltungsspielraum entsprechend verengt wird, so
erscheint dies doch angesichts der Vielzahl an Differenzierungsmöglichkeiten,
die aufgrund einer Begrifflichkeit möglich erscheint, die die WSK-Rechte
als Menschenrechte ernst nimmt, nicht als überzogen. Das Potential des
Menschenrechtsansatzes in diesem Bereich der wirtschaftlichen, sozialen
und kulturellen Menschenrechte ist sicherlich noch nicht ausgereizt.
Wilko Bauer hat Jura und Philosophie studiert und ist Vorstandsmitglied
der Menschenrechtsorganisation FIAN e.V., Ressort Grundsatz und Menschenrechtsinstrumente.
Anmerkungen
1 Pakt über bürgerliche und politische Rechte und der Pakt über wirtschaftliche,
soziale und kulturelle Rechte.
2 Saarländischer Verfassungsgerichtshof, in: Neue Juristische Wochenschrift
1996, 383 ff.
3 Vgl. zum Folgenden: Koch, Hans-Joachim / Rüßmann, Helmut, Juristische
Begründungslehre, 1982, 194 ff.
4 Jellinek, Georg, Gesetz, Gesetzesanwendung und Zweckmäßigkeitserwägung,
1913, 37, zitiert nach: Koch / Rüßmann, 1982, 195.
5 Koch / Rüßmann, 1982, 197 (Hervorhebung vom Verfasser).
6 Ebenda, 221 (Hervorhebung vom Verfasser).
7 Vgl. dazu bereits den Bericht des UN-Sonderberichterstatters für das
Recht auf Nahrung, Asbjörn Eide, an die UN (E/CN.4/Sub.2/1987/23).
8 Vgl. zum Folgenden: Krennerich, Michael / Stamminger, Priska, Die wirtschaftlichen,
sozialen und kulturellen Menschenrechte: Die Interpretation ist nicht
beliebig! http://www.menschenrechte.org/beitraege/WSK/wsk003.pdf (2.3.2005).
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