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Ein großes Problem für kritische JuristInnen in Deutschland ist, dass
kritische Rechtstheorie - wie so ziemlich jede Form des Über-den-Tellerrand-Blickens
- in der täglichen Ausbildung der Freischuss-JuristInnen an den Universitäten
kaum eine Rolle spielt - Einrichtungen wie etwa der Lehrstuhl von Prof.
Susanne Baer, die an der Humboldt-Universität Öffentliches Recht und Geschlechterstudien
unterrichtet,1 sind in Deutschland eher Ausnahmeerscheinungen.
Interessanterweise ist dies in den Vereinigten Staaten, wo die Jura-Ausbildung
noch kürzer und konkurrenzträchtiger ist - das Studium an der law school
dauert drei Jahre, die Jagd nach den ersten Stellen beginnt meist schon
im zweiten Jahr - anders: Zwar kann mensch das Jura-Studium absolvieren,
ohne sich je mit den Critical Approaches to the Law beschäftigt zu haben,
jedenfalls aber gehören Veranstaltungen, die das Recht kritisch hinterfragen
und im Zusammenhang mit Klassen-, Gender- und Race2-Fragen beleuchten,
ganz selbstverständlich zum Kurrikulum an fast allen amerikanischen Universitäten,
und in amerikanischen Fachzeitschriften sind regelmäßig kritische Aufsätze
zu diesen und ähnlichen Themen zu lesen.
Im Folgenden werde ich einen kursorischen Überblick über die Entwicklung
der Critical Approaches und die verschiedenen "Schulen" geben und einige
Spekulationen anstellen, wieso die kritische Beschäftigung mit dem Recht
in den Vereinigten Staaten so viel verbreiteter zu sein scheint als in
Deutschland. Ich hoffe, dass der Blick in die USA für kritische JuristInnen
hierzulande auch bei der Beschäftigung mit dem deutschen Recht hilfreich
sein und der Artikel insoweit als Schatzkarte für diejenigen dienen kann,
die an der einen oder anderen Stelle tiefer graben wollen.
Theoretische Grundlagen - American Legal Realism
Die Grundlage, auf der alle heutigen Critical Approaches - nach Meinung
einiger sogar alle modernen Rechtstheorien in den USA3 - aufbauen, ist
der Amerikanische Rechtsrealismus, der seine Hochphase in den Zwanziger-
bis Vierzigerjahren des letzten Jahrhunderts hatte. Da Hauptrechtsquelle
im anglo-amerikanischen Common Law nicht Parlamentsgesetze, sondern Gerichtsentscheidungen
sind, war die Rechtstheorie in den USA schon immer stark auf die Gerichte
fixiert, mit den Worten des "Urahnen" des Rechtsrealismus, Oliver Wendell
Holmes: "The prophecies of what the courts will do in fact, and nothing
more pretentious, are what I mean by the law."4
Diese Grundannahme nahmen die RechtsrealistInnen auf und widmeten sich
der Frage, auf welcher Grundlage die Gerichte Fälle entscheiden. Ihre
als Indeterminacy Thesis bekannt gewordene Grundthese lautet: Da es zu
nahezu jedem anerkanntem juristischen Argument ein ebenso anerkanntes
Gegenargument gibt, nahezu jeder Fall also auf juristisch "korrekte" Weise
zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen gebracht werden kann, müssen die
Entscheidungen der Gerichte - bei aller Prägung durch juristischen Stil
etc. - in bedeutendem Umfang von nichtjuristischen Erwägungen abhängen.5
Eine Feststellung, die so simpel wie bedeutend ist, die sich aber, soweit
mir bekannt, in der deutschen Jurisprudenz keiner großen Verbreitung erfreut,
und das obwohl jedeR JurastudentIn schon einmal während einer Klausurbesprechung
den Satz "Hier sind mit entsprechender Argumentation alle Ergebnisse vertretbar"
gehört haben dürfte.
Bei der Frage, welche außerjuristischen Erwägungen es denn sind, die die
Gerichte ihren Erwägungen zu Grunde legen, lassen sich vor allem zwei
"Schulen" ausmachen: Während etwa Jerome Frank einen an der Person des
einzelnen Richters / der einzelnen Richterin orientierten, psychoanalytisch
beeinflussten Ansatz vertrat, versuchten die meisten seiner KollegInnen,
Muster in den Entscheidungen der Gerichte anhand gesellschaftlicher Einflüssen,
etwa der gesellschaftlichen Herkunft und der Ausbildung der späteren RichterInnen,
zu erklären.6
Die Schlussfolgerungen, die die RechtsrealistInnen aus dieser These zogen,
waren im Einzelnen unterschiedlich, viele vertraten schlichtweg, dass
Gerichte die sozial- und gesellschaftspolitischen Erwägungen, die ihren
Urteilen ohnehin zu Grunde lägen, explizit nennen sollten - so lässt sich
wohl auch erklären, dass viele RechtsrealistInnen VertreterInnen der sozialdemokratischen
Politik des new deal waren bzw. wurden.7 Ihre NachfolgerInnen sollten
an dieser Stelle erheblich kritischere Positionen einnehmen.
Eine weitere Errungenschaft der Rechtsrealisten, die ebenfalls eine Grundlage
für moderne kritische Theorien darstellt, liegt in der Widerlegung der
sog. public-private-distinction: In den USA hatte sich seit etwa 1860
auf der Grundlage einer strengen Trennung der öffentlichen Sphäre (des
Staates) und der privaten Sphäre (unter anderem des Marktes) die Auffassung
durchgesetzt, dass der Staat sich Eingriffen in den - als selbstregulierend
und unabhängig vom Staat dargestellten - Markt möglichst enthalten solle.
Solche Eingriffe - etwa der Schutz unterlegener Parteien im Vertragsrecht
- wurden daher als grundsätzlich rechtfertigungsbedürftig angesehen; Aufgabe
des Staates war eigentlich nur der Schutz der Parteien vor der Ausübung
von Zwang.8
Die RechtsrealistInnen griffen die Grundlage dieser Argumentation an,
indem sie zeigten, dass der Staat notwendigerweise an jeder Transaktion
auf dem Markt beteiligt ist - und sei es nur durch die Möglichkeit der
gerichtlichen Durchsetzung von Verträgen - und dass auch ansonsten die
Idee des sich frei von staatlichen Eingriffen selbst regulierenden Marktes
nicht tragfähig war,9 vielmehr der Markt notwendigerweise von rechtlichen
Regelungen nicht nur gelenkt, sondern sogar geformt wurde - so ist etwa
die Struktur des Marktes eindeutig von rechtlicher Regelung und Schutz
des Eigentumsrechts abhängig. Deutlich formuliert findet sich dieser Gedanke
bei Morris Cohen: Indem staatliche Behörden in Ausübung ihrer staatlichen
Souveränität die Eigentumsrechte Privater und damit deren verbesserte
Verhandlungsposition gegenüber anderen Privaten schützten, stelle letztendlich
der Staat dem Privaten souveräne Gewalt zur Durchsetzung privater Zwecke
zur Verfügung.10 Weiter griffen die RealistInnen auch die Unterscheidung
zwischen auf Zwang beruhenden und "frei" geschlossenen Verträgen an.11
Auf der Grundlage solcher Argumente ließ sich etwa die Frage, wie und
in welchem Umfang der Staat in den Markt eingreifen soll oder darf, nicht
mehr mit dem simplen Verweis auf dessen selbstregulierende Natur abbügeln,
sondern war anderen, etwa sozialpolitischen, Argumenten zugänglich.
Moderne Anfänge - Critical Legal Studies
Die von den RechtsrealistInnen gelegten Grundsteine nahm die Critical
Legal Studies-Bewegung auf und verlieh ihnen zusätzlichen kritischen Biss.
Der Startschuss für die moderne kritische Rechtstheorie fiel im Jahre
1977 mit dem ersten Treffen der Conference on Critical Legal Studies,
einem Kreis engagierter ProfessorInnen, viele aus der BürgerInnenrechtsbewegung
der 1960er kommend, die versuchten, ihre politischen Überzeugungen und
ihre Tätigkeit an den Universitäten unter einen Hut zu bringen. Auf der
Basis der Erkenntnisse der RechtsrealistInnen griffen sie vor allem grundlegende
Annahmen der vorherrschenden Ideologie des so genannten liberalism an.
Eine dieser Grundannahmen war, die Rolle des Rechts in der Lösung gesellschaftlicher
Konflikte beschränke sich weit gehend auf den Schutz individueller Rechte
gegen Verletzung durch andere sowie auf die Ermöglichung des Zusammenwirkens
mehrerer konsentierender RechtsträgerInnen - die Rolle der Gerichte sei
also vor allem in der neutralen und tendenziell formalistischen Anwendung
rechtlicher Regelungen zur Abgrenzung der jeweiligen Rechte verschiedener
Individuen zu sehen. Hiergegen brachten die Critical Legal Scholars (crits)
die von den RealistInnen bekannten Argumente zur fehlenden Determiniertheit
von rechtlichen Entscheidungen zur Geltung und versuchten, die hinter
den vermeintlich neutralen Regelungen steckenden politischen Grundentscheidungen
und die zu ihrer Durchsetzung eingesetzten Ideologien herauszuarbeiten.12
Dabei waren sie stets bemüht, ihre theoretischen Ausführungen auch an
konkreten Rechtsfragen festzumachen, critical legal theory war meist angewandte
Theorie.13
Die schnelle Verbreitung kritischer Theorien an den amerikanischen Universitäten
führte ebenso schnell zu Abwehrreaktionen: Da viele crits sich vor allem
damit beschäftigten, die Widersprüche und Ungereimtheiten des liberalism
aufzuzeigen, wurde ihnen Beliebigkeit und "Nihilismus"14 vorgeworfen,
es kam zu Auseinandersetzungen in diversen Universitätsgremien, die darin
gipfelten, dass einigen kritischen JuristInnen wegen der Ausrichtung ihrer
Forschung die tenure, die gewöhnlich nach einigen Jahren als Assistant
Professor folgende Festanstellung an der Universität, verweigert wurde.
War die Conference on Critical Legal Studies zunächst weit gehend von
weißen Männern bestimmt, stieg der Anteil von Frauen und Minderheiten
schon recht bald deutlich.15 In den folgenden Jahren differenzierte sich
die Bewegung in zweierlei Hinsicht aus. Zum einen wandten sich viele vermehrt
den bis dato eher vernachlässigten Themen Gender und Race zu, zum anderen
veränderte sich auch die theoretische Basis: So nahm ein bedeutender Teil
der crits in den Achtziger- und Neunziger-Jahren am linguistic turn teil
und griff Ansätze (post-)strukturalistischer Theorien und der Semiotik
für die Rechtstheorie auf. Andere wandten sich Theorien wie Roberto Ungers
Progressive Alternative zu, die eine grundlegend umstrukturierte, auf
Werten wie Partizipation, Solidarität und Mitgefühl aufbauende Rechts-
und Gesellschaftsordnung beschreibt.16
Zwischen all diesen verschiedenen Themen und Ausrichtungen gibt es im
Übrigen vielfältige Überschneidungen und Verknüpfungen (postmodern feminism,
women of color feminism, etc.).
Feminist Legal Theory
Ein zentraler Ansatzpunkt feministischer Rechtswissenschaft ist es, nicht
nur einzelne Rechtsnormen als diskriminierend darzustellen, sondern darüber
hinaus Grundannahmen der Rechtstheorie, wie die der Neutralität und Objektivität
des Rechtes, als Schein zu entlarven und darzustellen, dass das Recht
in seinen Strukturen "männlich" und diskriminierend ist.17
Feministische RechtstheoretikerInnen nahmen etwa die Argumente der RechtsrealistInnen
hinsichtlich der Unterscheidung von öffentlicher und privater Sphäre auf
und bezogen diese auf die Stellung der Familie.18 Auch das internationale
Recht wurde einer grundlegenden Kritik aus feministischer Sicht unterzogen19
Wichtige Themen waren zudem die Rechtsgebiete, in denen das Recht Zugriff
auf den weiblichen Körper nahm bzw. sich mit diesem beschäftigte:20 Abtreibung,
Vergewaltigung, Pornographie,21 Prostitution (siehe unten) waren und sind
zentrale Themen feministischer Rechtswissenschaft.
Insgesamt zeichnet sich die feministische Rechtstheorie durch eine Anzahl
grundverschiedener, zum Teil entgegengesetzter Ansätze (nicht nur in der
historischen Entwicklung22) und durch lebhafte interne Debatten aus. Neben
dem grundlegenden Dilemma zwischen Differenz und Gleichheit23 zeigt sich
dies auch in den einzelnen Rechtsgebieten. So lassen sich etwa im Umgang
mit Prostitution - vereinfacht gesagt - zwei grundverschiedene Positionen
ausmachen: Während eine tendenziell dem radikalen Feminismus zuzuordnende
Position unter den herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen jede Form
der Prostitution letztlich als Ausdruck sexueller Sklaverei begreift und
dafür eintritt, die Sexindustrie durch Verbote und Strafnormen abzuschaffen,
betont die sex workers rights-Position, dass freiwillig (wie auch immer
dieser Begriff hier zu definieren wäre) gewählte Prostitution auch Ausdruck
der Selbstbestimmung und Subjektivität von Frauen sein kann, und kämpft
für die Verbesserung der Rechtsstellung von Sexarbeiterinnen.24
Eine weitere Debatte drehte sich um den Vorwurf des Essentialismus: Den
Rechtsfeministinnen der ersten Stunde, zumeist weißen Frauen aus der Mittelklasse,
wird vorgeworfen, in ihrer Theorie die Erfahrungen aller Frauen zu sehr
als gleichartig zu beschreiben und dabei die Unterschiede aus dem Blick
zu verlieren, insbesondere die Erfahrungen derjenigen, die neben geschlechtsspezifischer
etwa auch klassen- und hautfarbenbezogener Ausgrenzung und Benachteiligung
ausgesetzt sind.25
Critical Race Theory
Die Grundannahmen der Critical Race Theory sind strukturell vor allem
denen der feministischen Rechtswissenschaft recht ähnlich: Es geht darum,
die vermeintliche "Farbenblindheit" und Neutralität des Rechts im Hinblick
auf die Hautfarbe zu entlarven und einen unbewussten Rassismus aufzuzeigen,
der weite Teile des Rechtssystems durchzieht.26 Dabei stellen Critical
Race Scholars auch die Frage, ob bzw. inwieweit die Bedürfnisse und Erfahrungen
von Minderheiten durch die Ansätze der Critical Legal Studies gefördert
werden.27
Ein Grund dafür, dass gerade die Critical Race Theory in den Universitäten
auf deutliche Abwehrreaktionen stößt, dürfte auch in der selbst für kritische
JuristInnen eher unorthodoxen Arbeitsweise und in einigen ihrer Schlussfolgerungen
liegen: Davon ausgehend, dass die überkommenen Begriffe und Formulierungen
der Rechtssprache unter anderem auch zur Verdeckung von Machtverhältnissen
dienen und es etwa Minderheiten schwer machen, ihre subjektiven Erfahrungen
mitzuteilen,28 greifen insbesondere Critical Race Scholars oft zum Mittel
des storytelling, um ihre Erfahrungen und Erlebnisse mit dem Rechtssystem
zu vermitteln - auch dies eine Parallele zur feministischen Rechtswissenschaft,
wo einige Autorinnen ebenfalls zu dieser Methode griffen. Ein frühes und
berühmtes Beispiel für einen storytelling-Aufsatz sind die "Civil Rights
Chronicles" von Derrick A. Bell, in denen er anhand einer Reihe von Unterhaltungen
mit der fiktiven Bürgerrechtsanwältin Geneva Crenshaw zentrale Aussagen
der Critical Race Theory darstellt.29 Für einiges Aufsehen sorgte auch
die Aufforderung des Strafrechtsprofessors Paul Butler, zur Bekämpfung
des dem Strafrechtssystem inhärenten Rassismus sollten schwarze Jury-Mitglieder
in Prozessen mit schwarzen Angeklagten die Frage "schuldig oder nicht
schuldig" nicht anhand der gesetzlichen Normen, sondern anhand der Bedürfnisse
der schwarzen community entscheiden.30
Interdisziplinäre und postmoderne Rechtstheorien
Was die Methode kritischer Rechtswissenschaft angeht, seien noch kurz
einige Ansätze interdisziplinärer und (post-)strukturalistischer Rechtstheorien
genannt, die in den USA die jüngste Generation kritischer Rechtstheorie
bilden. Diese Ansätze verdanken ihre Existenz zumeist der Beschäftigung
mit "klassischen" Werken aus anderen Wissenschaftszweigen.
Bei dem Versuch, Widersprüche und Ungereimtheiten klassischer Rechtstheorien
darzustellen, entdeckten viele crits zum Beispiel die ursprünglich aus
der Literaturwissenschaft stammenden dekonstruktivistischen Ansätze Jacques
Derridas31 und stellten fest, dass bestimmte dekonstruktivistische Argumentationsmuster
sehr gut geeignet waren, Argumentationsmuster klassischer Rechtstheorien
aufzubrechen.32 Ein anderer Wissenschaftszweig, deren Methoden sich kritische
JuristInnen zunutze machten, war die unter anderem auf den Arbeiten des
Linguisten Ferdinand de Saussure aufbauende Semiotik. VerteterInnen der
Rechtssemiotik33 beschäftigen sich unter anderem mit der Struktur juristischer
Argumente,34 was in gewisser Weise eine Rückkehr zu den Wurzeln der Rechtswissenschaft
als Teilgebiet der Rhetorik darstellt. Großer Beliebtheit erfreuen sich
schließlich auch die Arbeiten von Michel Foucault, insbesondere der Klassiker
"Überwachen und Strafen".35
All diese Ansätze sind zwar recht verbreitet, aber auch unter kritischen
JuristInnen nicht unumstritten: So verteidigt etwa Catharine MacKinnon
klassische feministische Ansätze gegen postmodernistische Kritik und macht
deutlich, warum sie viele postmoderne Ansätze für theoretische Spielereien
hält, die von den eigentlichen Problemen ablenken.36 Und auch VertreterInnen
von Dekonstruktion und Rechtssemiotik betonen, dass beide Ansätze nicht
per se links oder kritisch sind, sondern vor allem Instrumente für die
Auseinandersetzung mit Argumenten klassischer Rechtstheorie darstellen,
die auch gegen kritische Argumente und damit auch von liberalen und rechten
AutorInnen genutzt werden können. 37
Wie kommt's?
Es stellt sich natürlich die Frage, wieso kritische Rechtsstudien in
den USA eine solche Verbreitung erlangt haben, während ihre Ausbildungsrelevanz
in Deutschland eher gering ist - an einem Mangel an kritischen bzw. linken
Studierenden wird es hoffentlich nicht liegen. Einige grobe Erklärungsansätze
sollen im folgenden vorgestellt werden.
Ein Grund für die Popularität interdisziplinärer und kritischer Rechtstheorien
liegt wohl im amerikanischen Studiensystem: Der Besuch einer law school
setzt nämlich einen College-Abschluss voraus, was bedeutet, dass alle
zukünftigen JuristInnen bereits vier Jahre lang ein anderes Fach, sei
es nun Philosophie, englische Literatur oder Physik, studiert haben. Dies
fördert sicherlich die Bereitschaft zu interdisziplinären Studien, die
neben dem neoliberalen law & economics und dem politisch eher diffusen
law & literature eben auch kritische Verbindungen mit soziologischen,
semiotischen, feministischen und anderen Theorien hervorgebracht haben
- ein ähnlicher interdisziplinärer Ansatz findet sich in Deutschland wohl
nur in der Kriminologie.
Auch die Ausbildung nach der so genannten Sokratischen Methode, bei der
der Stoff im Dialog zwischen Lehrenden und Lernenden unterrichtet wird,
wobei die ProfessorInnen zu immer wechselnden Fragestellungen und Argumentationsmustern
greifen, mag bei Studierenden zu der Erkenntnis führen, dass hinter der
Juristerei mehr steckt als bloß die Auslegung vorgegebener Rechtssätze
nach den bekannten Auslegungsmethoden Wortlaut, Systematik usw. Diese
Tendenz wird unterstützt durch die tägliche juristische Arbeit im Common
Law, wo nicht die Auslegung vorgegebener Gesetzestexte, sondern die Extraktion
abstrakter Regeln aus konkreten Fällen und die Argumentation "am Fall"
im Vordergrund stehen.
Die sich anschließende Frage, wie kritische Rechtstheorien trotz der genannten
Unterschiede auch in Deutschland wieder im universitären Alltag verankert
werden können, kann dieser Artikel leider nicht beantworten - aber hoffentlich
kann er immerhin als Ausgangspunkt für die Erforschung des reichen Schatzes
an kritischen Theorien in den Vereinigen Staaten dienen.
Björn Elberling ist Mitglied im akj kiel und wiss. Mitarbeiter
am Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht in Kiel.
Anmerkungen
1 Siehe http://www.rewi.hu-berlin.de/jura/ls/bae/. Vgl. auch http://gender.uni-kiel.de/
und http://www.genderstudies-hamburg.de/
2 Dieser Begriff wird in den USA auch von kritischen AutorInnen und in
(Aner-)Kenntnis der sozialen Konstruktion von "Race" benutzt, ist also
nicht in derselben Weise konnotiert wie der Begriff "Rasse" im Deutschen.
3 Vgl. Singer, California Law Review 1988, 467, 503 ff.
4 "Die Vorhersage dessen, was die Gerichte tatsächlich tun werden, [...]
ist es, was ich als Recht bezeichne." Holmes, Harvard Law Review 1897,
461.
5 Vgl. Leiter 2003, 3 ff., Singer, California Law Review 1988,
499 ff.
6 Vgl. Leiter 2003, 13.
7 Leiter 2003, 18-21.
8 Darstellung bei Singer, California Law Review 1988, 477-482.
9 Singer, California Law Review 1988, 482 ff.
10 Cohen, Cornell Law Quarterly 1927, 12; vgl. Singer, California
Law Review 1988, 487 ff.
11 Hale, Political Science Quarterly 1923.
12 Zum Beispiel Schlag, Michigan Law Review 1997; Überblick bei
Freeman 2001, 1041 ff..
13 Siehe etwa zum Strafrecht Kelman, Stanford Law Review 1981;
zum Vertragsrecht Olsen, Harvard Law Review 1985.
14 Zu diesem Vorwurf Singer, Yale Law Journal 1984, insb. 47 ff.
15 S. etwa Kennedy, Cardozo Law Review 1985, 1019 ff.
16 Zum Beispiel Unger 1998; dazu Freeman 2001, 1053-1055.
17 Bartlett, Harvard Law Review 1990, 836 ff; Lacey, Humboldt
Forum Recht 1996.
18 Olsen, Harvard Law Review 1983.
19 Charlesworth / Chinkin 2000.
20 Frug, Harvard Law Review 1992, 1048 ff.
21 Frug, Harvard Law Review 1992, 1067 ff.
22 Vgl. etwa Hernandez-Truyol, German Yearbook of International Law
2001, 145 ff.
23 Mühlke, Forum Recht 2001, 40 ff.
24 S. hierzu ausführlich Simm, Australian Year Book of International
Law 2004, 138 ff.
25 Siehe die Beiträge in Dowd / Jacobs 2003.
26 Zum Beispiel Crenshaw, Harvard Law Review 1988; Johnson, Cornell
Law Review 1988.
27 Delgado, Harvard Civil Rights - Civil Liberties Review 1987.
28 Delgado, Michigan Law Review 1988.
29 Bell, Harvard Law Review 1985.
30 Butler, Yale Law Journal 1995.
31 S. hierzu Balkin 1998 sowie die Beiträge in Hoffmann / Vismann, German
Law Journal 2004.
32 Zum Beispiel Balkin, Michigan Law Review 1992; Frug, Harvard Law
Review 1992.
33 Zu den Möglichkeiten dieser Theorie Balkin, University of Texas
Law Review 1991.
34 Zum Beispiel Balkin, Rutgers Law Review 1986.
35 Foucault 1974; zur Rezeption Kennedy, Legal Studies Forum 1991.
36 MacKinnon, Chicago-Kent Law Review 2000.
37 Balkin, University of Texas Law Review 1991, 3; Balkin 1998,
3 und 22.
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