Heft 1 / 2000: status quo vadis Die Europäische Union zwischen Neoliberalismus und Demokratisierung |
Mark Schieritz | ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
Warum nicht sozialer? | |
Die EU braucht mehr sozialpolitische Kompetenzen - und sie muß diese nutzen |
Zentralthema der Europäischen Integration war und ist die Errichtung eines "imperium oeconomicum" mit dem Herzstück eines gemeinsamen europäischen Marktes. Die Geburtsurkunde der Gemeinschaft, der Römische Vertrag aus dem Jahre 1957, gibt zwar das vage politische Ziel einer "immer engeren Union" vor, beschränkte die operationalen Kompetenzen der Gemeinschaftsinstitutionen aber vor allem auf die Liberalisierung des innereuropäischen Güter-, Waren-, Geld- und Personenverkehrs. Seitdem wurden eine ganze Menge neuer Verträge gemacht - von Sozialpolitik allerdings war aus Brüssel, sieht man von gelegentlichen feierlichen Beschwörungen einmal ab, nicht viel zu hören. Warum eigentlich nicht? Ever closer union? Als die ArchitektInnen der Einigung die Union erschufen, bestand wenig Anlaß, über eine soziale Dimension des neuen Gebildes nachzudenken. Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung und eine geringe Kapitalmobilität ermöglichten eine aktive Steuerung der Wirtschaft auf nationaler Ebene. Inzwischen hat sich die Welt verändert: Der sozialpolitische Handlungsspielraum der europäischen Nationalstaaten wird zunehmend geringer: Der Binnenmarkt ist vollendet und setzt die europäischen Nationalstaaten einem Wettbewerb um mobile Produktionsfaktoren aus, wodurch nationale soziale Sicherungssysteme unter Druck geraten. Dazu kommt, daß die Mitgliedstaaten der Union wirtschaftspolitische Steuerungsinstrumente auf die Gemeinschaftsinstitutionen übertragen haben und die Konvergenzkriterien des Maastrichter Vertrags den Haushaltsspielraum der Euro-Staaten beschränken. Märkte und Staaten Für Wirtschaftsliberale sind Märkte das Mittel, um in einer sich ständig ändernden Welt optimale Ressourcenausnutzung zu garantieren. Staatliche Interventionen stören das empfindliche Marktgleichgewicht und können zu Wohlfahrtsverlusten führen. Auch aus einem zweiten Grund stehen Wirtschaftsliberale staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft skeptisch gegenüber: Sobald dem Staat Interventionsmöglichkeiten eingeräumt werden, besteht die Gefahr, daß diese zu populistischen oder anderen Zwecken mißbraucht werden - mit gravierenden Folgen für die gesamte Volkswirtschaft. Deshalb sehnen sich Liberale nach einer Ordnung, die die Macht des Staates begrenzt - weswegen die schleichende Staatswerdung der EU, die womöglich in eine gemeinschaftlichen Fiskalpolitik mündet, mit Argwohn beobachtet wird. Ganz ohne Staat geht es aber doch nicht: Dieser ist dafür zuständig, vertragsrechtliche Spielregeln bereitzustellen, die Markttransaktionen erst ermöglichen. Umverteilung ist in der liberalen Sichtweise Teufelszeug, der freie Markt sorgt für Produktivität und Innovation - und fördert damit den Wohlstand aller. Sozialpolitik ist nur insofern legitim, als sie Marktversagen korrigiert und die Funktionsweise von Märkten unterstützt. Aus diesem Grund konzentriert sich liberale Sozialpolitik auf regulative Bereiche wie Arbeits- und Gesundheitsschutz oder die Verbesserung der Mobilität von ArbeitnehmerInnen. Die soziale Dimension Europas Die soziale Dimension Europas setzt sich zusammen aus den sozialpolitischen Bestimmungen der einzelnen Mitgliedsstaaten und der Brüsseler Institutionen. Um letztere soll es hier gehen. Die gemeinsamen Verträge der Mitgliedstaaten der Europäischen Union übertrugen den Institutionen der EU auch sozialpolitische Kompetenzen. Diese ermächtigen die Union, die ihr eigenen legislativen Instrumente zu sozialpolitischen Zwecken einzusetzen. Zu den in diesem Zusammenhang wichtigsten gehören EU-Direktiven, die von Regierungen der Mitgliedstaaten in nationales Recht umgesetzt werden müssen, Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) sowie die EU-Fonds. Letztere sind Teil des Budgets der Union und werden von der Kommission verwaltet. Das Europaparlament ist zwar in Fragen der Gleichbehandlung von Männern und Frauen sowie der Beschäftigungsförderung per Mitentscheidungsverfahren beteiligt, seine Mitbestimmungsmöglichkeiten sind aber insgesamt gering.1 Doch nicht so sozial Sozialpolitik ist "der Gebrauch von politischer Macht, um Funktionsweisen des ökonomischen Systems zu ergänzen, zu modifizieren oder abzulösen." 4 Die Union betreibt zwar Sozialpolitik - jedoch nicht die, die sich Interventionisten wünschen. Die soziale Dimension der Gemeinschaft konzentrierte sich "auf das Herstellen eines gemeinschaftlichen Arbeitsmarktes in Gestalt der Ermöglichung gemeinschaftlicher Mobilität von Arbeitnehmern." 5 Sieht man vom Umverteilungszirkus, den die Gemeinsame Agrarpolitik Tag für Tag veranstaltet, einmal ab, wurde marktkorrigierende Redistribution in bester liberaler Manier für überflüssig gehalten, weil der Binnenmarkt, indem er Beschäftigung und Wohlstand erzeuge, selbst die bestmögliche Sozialpolitik sei: "Wenn es zum Wesenskern von Sozialpolitik gehört, daß sie umverteilend ist, dann läßt sich mit gutem Grund bestreiten, daß es sich überhaupt um Sozialpolitik gehandelt hat." 6 Binnenmarkt und Währungsunion sind vollendet, aber ein europäischer Sozialsstaat, der die Wirtschaft im interventionistischen Sinn domestizieren könnte, ist nicht in Sicht: Warum ist das Marktmachen in Europa soviel einfacher als das Staatschaffen? Dafür gibt es ökonomische, legitimatorische und institutionelle Gründe. Terror der Ökonomie? Der Blick auf die ökonomische Situation der Union müßte Umverteilungsanhänger zunächst hoffnungsvoll stimmen. Im Gegensatz zu den europäischen Nationalstaaten ist Europa wirtschaftlich relativ autark. So wird der größte Teil des Güterverkehrs der EU-Staaten innerhalb der Grenzen der Union abgewickelt. Zwar steigt der Anteil der Auslandsinvestitionen vieler europäischer Konzerne, doch investieren diese nur selten in klassische Billiglohnländer, sondern ebenfalls vor allem auf dem alten Kontinent. Die Rede von globaler Standortkonkurrenz und internationalem Wettbewerbsdruck ist also nur bedingt richtig: Das Kapital kann zwar die Steuerungs- und Extraktionskapazität einzelner europäischer Nationalstaaten durch Produktionsverlagerung in andere Staaten der Union (exit) oder die Androhung derselben (voice) unterlaufen, der Standort Europa aber ist offensichtlich nach wie vor so attraktiv, daß mit einem Massenexodus in andere Erdteile nicht zu rechnen ist. Eine gemeinschaftliche Soziapolitik könnte deshalb mit Pfunden wuchern, die dem Nationalstaat nicht mehr zur Verfügung stehen. Institutionen und Interessen Ob und wie Marktergebnisse durch staatliche Gewalt gesteuert werden, hängt wesentlich ab von der Existenz solcher "sozialer und politischer Gruppierungen, die Marktteilnehmern umverteilende Pflichten auferlegen." 8 Für die Europäische Union aber gilt wie für viele internationale Kooperationsprojekte: Die Internationalisierung politischer Entscheidungsprozesse bedeutet fast immer die Übertragung politischer Kompetenzen auf Diplomatie und ExpertInnen-Runden, die weitgehend unbehelligt von der öffentlichen Meinung operieren. Das verringert "den innenpolitischen Einfluß solcher Gruppen, die an marktverzerrenden Interventionen interessiert sind." 9 Freunde und Feinde Normatives Ziel demokratischer politischer Systeme ist die kollektive Selbstbestimmung. Demokratische Systeme beziehen ihre Legitimität deshalb aus zwei Quellen: Auf der Input-Seite fordert das Prinzip der Selbstbestimmung die Ableitung politischer Entscheidungen aus den authentischen Präferenzen der BürgerInnen: "Politische Entscheidungen sind legitim, wenn und weil sie den Willen des Volkes widerspiegeln." 12 Demokratie aber bleibt Ritual, wenn das politische System nicht in der Lage ist, kollektive Ziele umzusetzen. Auf der Output-Seite legitimiert sich demokratische Politik deshalb durch die effektive Förderung dessen, was mit einiger Sicherheit als das Wohl aller Mitglieder des Gemeinwesens bezeichnet werden kann. Kommt er oder nicht? EuropessimistInnen bedienen sich gerne der Geschichte, um zu zeigen, daß einheitliche staatliche Herrschaft und damit Solidarität in fast allen Fällen Ergebnis von Zwang und Gewalt war: "Umfassende Gemeinschaften, deren Mitglieder sich von einem einheitlichen Zwangsapparat füreinander in die Pflicht nehmen lassen, bilden sich nicht durch freiwillige Identifikation von unten." 14 Weil militärische oder kulturelle Repressionen als Instrument zur Kreation von Solidarität normativ ausscheiden, ist auch der europäische Wohlfahrtsstaat politisch nicht zu realisieren. Diese Argumentation greift zu kurz: Sie vergißt den freiwilligen Zwang, der auch mit den Legitimitätsvorstellungen demokratisch verfaßter Gemeinwesen zu vereinbaren ist. Solidarität ist im modernen Staat immer rechtlich vermittelt und nicht organisch gewachsen. Natürlich wächst nichts von heute auf morgen, nicht zu unterschätzen aber ist die "induzierende Wirkung" (Habermas), die institutionelle Arrangements ausüben können. Solidaritätszusammenhänge entstehen nicht aus dem Nichts, sie können in Grenzen durchaus aktiv herbeigeführt werden. Jedoch ist Regierungskunst nicht alles: Viel wird davon abhängen, wer in Zukunft in Europa mitmischt - wie gesellschaftliche Interessengegensätze verlaufen, welche sozialen Gruppierungen sich als strategisch handlungsfähige Akteurinnen konstituieren und gesamteuropäische Interessenpolitik betreiben werden. Ob Europa ein interventionistisches oder ein liberales Gesicht bekommt, entscheidet sich letztlich daran. Wie auch immer: Märkte operieren in sozial konstruierten Regelsystemen - wie diese aussehen, bestimmt die Politik. Mark Schieritz studiert Politik an der London School of Economics und schreibt für die taz.
Anmerkungen: 1 Kowalsky 1999, 230ff.2 Kath/Kuck 1998, 375. 3 Leibfried/Pierson 1998, 65. 4 Marshall, Thomas 1975, 15.15. 5 Streeck 1998a, 377. 6 Genschel 1998, 10. 7 Scharpf 1998, 162. 8 Streeck 1998a, 391. 9 Streeck 1998b, 15. 10 Coen 1997, 105. 11 Kohler-Koch 1996, 195. 12 Scharpf 1999, 16. 13 Scharpf 1998, 155. 14 Streeck 1998b, 23. Literatur: Coen, David, The evolution of the large firm as a political actor, in: Journal of European Public Policy 4:1 März 1997, 91-108. |