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Im Zweifel gegen die Freiheit...   Heft 4/2003
Arbeit
Ausgrenzung und Ausbeutung

Seite 131-134
Einige Überlegungen zur (nachträglichen) Sicherungsverwahrung1  
 

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat am Freitag, den 18. Juli 2003 den Eilantrag eines Strafgefangenen aus Sachsen-Anhalt abgelehnt, ihn aus der nachträglichen Sicherungsverwahrung (SV) zu entlassen. Nach summarischer Prüfung stellte das BVerfG fest, dass im konkreten Fall das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit gegenüber dem Interesse des Antragstellers überwiege. Damit sei jedoch keineswegs eine Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des sachsen-anhaltinischen "Gesetzes über die Unterbringung besonders rückfallgefährdeter Personen zur Abwehr erheblicher Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung (UBG)" getroffen worden.2 § 1 I UBG bestimmt:

"Gegen eine Person, die in einer Justizvollzugsanstalt des Landes unter den Voraussetzungen von § 66 I Nr.1, 2, II-IV StGB eine zeitige Freiheitsstrafe verbüßt, kann das Gericht die Unterbringung in der Justizvollzugsanstalt anordnen, wenn aufgrund von Tatsachen, die nach der Verurteilung bekannt geworden sind, davon auszugehen ist, dass von dem Betroffenen eine erhebliche gegenwärtige Gefahr für das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung anderer ausgeht, insbesondere weil er im Vollzug der Freiheitsstrafe beharrlich die Mitwirkung an der Erreichung des Vollzugsziels (...) verweigert, namentlich eine rückfallvermeidende Psycho- oder Sozialtherapie ablehnt oder abbricht."3

Eine Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der nachträglichen SV nach dem sachsen-anhaltinischen UBG ist noch in diesem Jahr zu erwarten4 und vor dem Hintergrund weiterer nahezu wortidentischer Regelungen in Baden-Württemberg und Bayern von erheblicher rechtspolitischer Bedeutung.

Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit

Bemerkenswert ist, dass das BVerfG in seiner Pressemitteilung lediglich formelle Probleme bei der Gesetzgebungskompetenz anklingen lässt5, obschon die SV aus gutem Grunde seit langem kritisiert und ihre Abschaffung gefordert wird.6 Die Möglichkeit, die SV neuerdings nachträglich anzuordnen, spitzt die für die Betroffenen ohnehin schon unerträgliche Situation weiter zu. Nach einem kurzen Überblick zur Geschichte der SV sollen deren verfassungsrechtliche Probleme generell sowie die besonderen Bedenken gegen die nachträgliche SV dargestellt werden.

Geschichte der Sicherungsverwahrung

Die SV wurde zusammen mit den anderen Maßregeln der Besserung und Sicherung durch das "Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung" von 24. November 1933 eingeführt.7 Überlegungen zur Einführung sichernder Maßnahmen wurden - insbesondere durch die Arbeiten Franz von Liszts - jedoch bereits vor der "Machtergreifung" getroffen, so dass der SV von der herrschenden Meinung kein spezifisch nationalsozialistisches Gedankengut bescheinigt wird.8
Die Formulierungen von Liszts, der vielfach als Begründer des modernen humanen Strafrechts gilt9, zeigen jedoch, dass die Nationalsozialisten keine Schwierigkeiten hatten, die Überlegungen von Liszts in das NS-Recht zu übertragen. Liszt forderte in seinem "Marburger Programm" den Eingang des Zweckgedankens in das Strafrecht. Er sprach sich für ein Täterstrafrecht aus, das "unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher" unschädlich zu machen habe. Unschädlichmachung sollte nach der dritten Verurteilung durch "Einschließung auf unbestimmte Zeit erfolgen."10 Wie der Vollzug der "Sicherheitshaft" aussehen solle, schilderte Liszt in einem Brief an Dochow:

"Sicherheitshaft für Gewohnheitsverbrecher: Arbeitshaus mit militärischer Strenge ohne Federlesen und so billig wie möglich, wenn auch die Kerle zugrunde gehen. Prügelstrafe unerlässlich (...) Der Gewohnheitsverbrecher (...) muss unschädlichgemacht werden, und zwar auf seine Kosten und nicht auf die unseren. Ihm Nahrung, Luft, Bewegung usw. nach rationellen Grundsätzen zuzumessen, ist Missbrauch der Steuerzahler."11 Naucke resümiert treffend, dass ein "Teil des NS-Strafrechts konsequente Kriminalpolitik im Sinne des Marburger Programms" Liszts ist.12 Während der NS-Zeit wurden zwischen 15.000 und 16.000 Menschen zur SV verurteilt.13 Die SV fügte sich mithin in die NS-Kriminal- und Sozialpolitik der "Ausmerzung" missliebiger Personengruppen ohne weiteres ein.
Nach dem Ende des Dritten Reichs wurde die SV zusammen mit den anderen Maßregeln der Besserung und Sicherung beibehalten. Lediglich die Maßregel der "Entmannung"14 [§ 42 k Strafgesetzbuch (StGB) alte Fassung] sowie die 1941 eingeführte Todesstrafe für Gewohnheits- und SittlichkeitsverbrecherInnen wurden abgeschafft.15 Weiterhin befanden sich jedoch nicht in erster Linie besonders gefährliche StraftäterInnen in der SV, sondern in hohem Maße auch ungefährliche Kleinkriminelle.16 Inzwischen hat der Anteil der wegen schwerer Straftaten (Tötungsdelikte, Sexualstraftaten) Sicherungsverwahrten zu Lasten der gewaltlosen Eigentums- und VermögenstäterInnen erheblich zugenommen. Doch weiterhin sind etwa 25 % der Betroffenen lediglich wegen gewaltloser Eigentums- und Vermögensdelikte inhaftiert.17 Zu dieser Gruppe gehören vorrangig DiebInnen und BetrügerInnen, wobei zu den verwirklichten Anlasstaten für die Verhängung der SV Einbruchsserien, der Erwerb von Waren unter Täuschung über die Zahlungsfähigkeit oder Heiratsschwindel zählen.18

Freiheitsgrundrechte

Die SV knüpft i.d.R. an eine bereits langjährige Freiheitsstrafe an. Auf Grund ihrer unbestimmten Dauer sehen Betroffene oftmals keine Chance, jemals wieder ein Leben in Freiheit führen zu können. Die Gewissheit, mit großer Wahrscheinlichkeit niemals wieder aus dem Gefängnis zu kommen, ist wohl für jeden Menschen eine unerträgliche Vorstellung. Ein solcher unbestimmter Freiheitsvollzug stellt daher eine enorme Belastung für die Betroffenen dar. Psychische Erkrankungen (Depression, Hospitalismus, allgemeines "Abstumpfen") und Suizide sind mit dem Langzeitvollzug der SV verbunden.19 Lang andauernde Haft bringt generell erhebliche gesundheitliche Nachteile mit sich. Die Kumulation von Freiheitsstrafe und SV führt insofern zu einer weiteren Verschärfung der gesundheitlichen Situation der Betroffenen.20 Dies wird im Falle der SV bewusst - im Interesse der Allgemeinheit - einkalkuliert. Die SV verstößt aus diesen Gründen gegen das Verbot seelischer und körperlicher Misshandlung bzw. unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung [Art. 104 I 2 Grundgesetz (GG); Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention].21
Das Grundrecht auf Achtung der Menschenwürde (Art. 1 I GG) verlangt, dass der Mensch niemals zum bloßen Objekt staatlicher Maßnahmen degradiert werden darf.22 Dies ist jedoch der Fall, wenn Menschen ausschließlich als Gemeinschaftsgefahr behandelt und u.U. lebenslang zum Zwecke des Schutzes anderer verwahrt werden.23

Ne bis in idem-Grundsatz

Die SV verstößt darüber hinaus gegen das Doppelbestrafungsverbot des Art. 103 III GG.24 Nach dieser Vorschrift darf niemand wegen derselben Tat mehrmals bestraft werden. Zwar handelt es sich bei der SV um keine Strafe, sondern um eine Maßregel der Besserung und Sicherung. Doch mit einer solchen formalistischen Sichtweise macht man es sich zu leicht. Der/die Sicherungsverwahrte wird weiterhin im Strafvollzug unterbracht. Den Alltag der Betroffenen berührt der Wechsel von der Strafe in die SV kaum.25 Schon früh etablierte sich von Seiten der KritikerInnen der SV das Stichwort des "Etikettenschwindels".26 Damit ist gemeint, dass die SV für die Betroffenen strafgleichen Charakter hat. Die Behauptung der BefürworterInnen, es handele sich bei der SV nicht um Strafe, ist so lange "Etikettenschwindel", wie sich die Verwahrten weiterhin im Strafvollzug befinden. Vorschläge liberaler StrafrechtlerInnen, die SV in einen "Hotelvollzug" umzuwandeln27, stoßen bei der Bevölkerungsmehrheit auf wenig Verständnis.

Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz besagt, dass staatliche Maßnahmen, die in die Grundrechte der BürgerInnen eingreifen, geeignet, erforderlich und angemessen sein müssen, um ein legitimes Ziel zu erreichen. Beweispflichtig ist der Staat. Dieser rechtsstaatliche Grundsatz wird bei der Frage, ob vermeintlich gefährliche StraftäterInnen weiterhin eine Gefahr darstellen und ob es keine milderen Mittel gibt, als die TäterInnen in Haft zu belassen - zu denken wäre an ambulante Maßnahmen - nicht hinreichend ernst genommen. Im Falle von Sexualstraftätern besteht die Tendenz, den Straftäter im Zweifel nicht "heraus" zu lassen. Dabei sind geeignete Prognosekriterien, erneute Straftaten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen, aber auch vorauszusehen, nicht bekannt. Insbesondere sind die Kriterien - z.B. der Begriff des "Hangtäters" - völlig unbestimmt, so dass "im Einzelfall (...) ihre hinreichend sichere Handhabung in der Praxis oft kaum möglich ist."28 Letztlich bleibt GutachterInnen nichts anderes übrig als -"nahezu zirkelschlüssig" - eine "aus der bisherigen kriminellen Karriere" des/der Täters/in "hergeleitete Prognose weiterer Auffälligkeit" zu treffen.29

Im Falle der Prüfung der Entlassung von vermeintlich gefährlichen StraftäterInnen aus der Haft hat ein/e GutachterIn eine Prognose künftiger Rückfälligkeit abzugeben. Die GutachterInnen stehen dabei unter erheblichem gesellschaftlichen Druck. Solange "alles gut geht", wird ihre Tätigkeit selten zur Kenntnis genommen. Wenn ein/e StraftäterIn jedoch rückfällig wird, ist der Sündenbock - der/die GutachterIn - bereits ausgemacht. Dieser Druck führt dazu, dass viele GutachterInnen oftmals nicht die Courage aufbringen, Sexualstraftätern eine Chance zu geben und sich im Zweifel gegen eine Entlassung aussprechen.30 Wenig beachtet wird jedoch, dass auch das Belassen nicht mehr gefährlicher StraftäterInnen in Haft eine Fehldiagnose darstellt, die ein Leben zerstören kann. Kriminologische Untersuchungen belegen hohe Fehlerquoten zu Lasten der Inhaftierten. Die Situation ist aus der Sicht der Betroffenen fatal: Faktisch müssen sie den Nachweis einer nicht mehr bestehenden Gefährlichkeit erbringen. Es findet eine Beweislastumkehr statt.31 Wie aber soll der/die Inhaftierte im Strafvollzug den Nachweis erbringen, dass er/sie keine Gefahr mehr darstellt?
Dass die Abschaffung der SV möglich ist, zeigt die Praxis in anderen europäischen Staaten. Die Mehrzahl der europäischen Staaten hat die SV inzwischen abgeschafft.32 Die SV verstößt mithin gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.

Defizite im Vollzug

Nach der Vorstellung des Gesetzgebers sollen auch die Sicherungsverwahrten Resozialisierungshilfen erhalten. § 129 S. 2 Strafvollzugsgesetz fordert, dass den Sicherungsverwahrten geholfen werden solle, sich in das Leben in Freiheit einzugliedern. Die Praxis der SV wird diesem Anspruch nicht gerecht. Der Vollzug der SV ist i.d.R. bloße Verwahrung.33 Man muss vermuten, dass sich in den Justizvollzugsanstalten auf Grund der Personalknappheit eine Praxis eingeschlichen hat, dass nur noch diejenigen hinreichende sozialtherapeutische Hilfe erhalten, die gemeinhin als resozialisierungsfähig gelten. Auf Grund der zu erwartenden langen Haftdauer bei Sicherungsverwahrten werde diese mehr oder weniger "abgeschrieben."

Verschärfung durch nachträgliche SV

Die SV ist mit grundlegenden Verfassungsprinzipien in der BRD, insbesondere mit der Achtung der Menschenwürde, nicht zu vereinbaren. Der öffentliche Diskurs über bekannt gewordene - zugegebenermaßen schlimme - Sexualverbrechen an Kindern führte zu einer gesellschaftlichen Stimmung, in welcher die weitere Verschärfung des Sexualstrafrechts und die Einführung der nachträglichen SV möglich wurden. Die nachträgliche SV ist weiteren erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt.

Rückwirkungsverbot

Das Rückwirkungsverbot des Art. 103 II GG, § 1 StGB garantiert, dass eine Tat nur bestraft werden darf, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Ob das Rückwirkungsverbot auf die Maßregeln der Besserung und Sicherung (§§ 61 ff. StGB) anzuwenden ist, ist lebhaft umstritten, insbesondere weil § 2 VI StGB das Rückwirkungsverbot ausdrücklich nicht auf die Maßregeln anwendet. 34
Man wird eine Anwendung des Rückwirkungsverbotes auf die Maßregeln der Besserung und Sicherung, die oftmals intensiver als Strafe in die Freiheit der Betroffenen eingreifen, jedoch aus rechtsstaatlichen Gründen bejahen müssen. Gute Gründe sprechen daher dafür, § 2 VI StGB für verfassungswidrig zu halten.35 Die Anwendung von Art. 103 II GG auf die mit strafähnlichem Charakter behaftete SV ist zwingend geboten. Gegen Personen, die vor der Einführung der Möglichkeit der nachträglichen Anordnung der SV in Haft kamen, ist die SV mithin unzulässig.36

Behandlungszwang

Die Regelungen der nachträgliche SV manifestieren darüber hinaus einen mit der Würde des Menschen nicht zu vereinbarenden Behandlungszwang. In der sanktionsrechtlichen Wissenschaft herrscht weitgehende Einigkeit, dass eine Zwangsbehandlung verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen ist.37 Das UBG geht von der unhaltbaren Annahme aus, dass der/ diejenige, der/die sich den "Behandlungs"-maßnahmen verweigert, automatisch gefährlich ist, was als Indiz für die Notwendigkeit der SV gilt. Dies läuft jedoch darauf hinaus, dass jede/r Strafgefangene, auf den/die die Voraussetzungen der SV nach dem StGB zutreffen, gezwungen ist, aktiv an seiner/ihrer "Behandlung" mitzuwirken, auch wenn er/sie dies nicht will. Die "Behandlung" unter der Drohung, anderenfalls erfolge u.U. lebenslange SV, ist eine Zwangsbehandlung. Die SV ist mit der Verbürgung der Unantastbarkeit der Menschenwürde in Art. 1 I GG nicht zu vereinbaren.

Fragwürdigkeit von Diagnosen

Die nachträgliche SV soll der Justiz ein flexibleres Instrument geben, um die Gesellschaft vor Personen, die sich erst im Strafvollzug als gefährlich erweisen, zu schützen. Ein Rückschluss von dem Verhalten einer/s Gefangenen im Strafvollzug auf ihr/sein Verhalten in Freiheit ist jedoch nicht möglich.38 Es ist denkbar, dass Inhaftierte im Vollzug enorm aggressiv sind und anschließend in Freiheit ein völlig normkonformes Leben führen. Doch auch das Gegenteil ist denkbar: Der/die Gefangene beugt sich dem Druck des Gefängnissystems und verhält sich angepasst, wird jedoch nach der Entlassung erneut gewalttätig.

Resozialisierungsgebot

Darüber hinaus verstößt die nachträgliche Anordnung der SV gegen das Resozialisierungsgebot. Das BVerfG hat unter Heranziehung des Sozialstaatsgebotes ein Recht der Strafgefangenen auf Resozialisierung entwickelt.39
Man wird sich nicht zu unrecht fragen müssen, ob ein Leben in Unfreiheit im Gefängnis den Strafgefangenen tatsächlich hilft, in Zukunft in der Gesellschaft zurecht zu kommen. Viel spricht dafür, dass man froh sein kann, wenn der Strafvollzug keine dissozialisierenden Wirkungen entfaltet.40 Jedoch darf niemand abgeschrieben werden; der Strafvollzug muss so ausgerichtet werden, dass der/die Gefangene eine Chance auf Resozialisierung hat. Dies ist ein Gebot ihrer/seiner Menschenwürde.
Resozialisierungschancen im Strafvollzug werden jedoch durch die Möglichkeit der nachträglichen Anordnung der SV gefährdet. Ein großer Anteil der Strafgefangenen - z.T. wird von bis zu 80 % ausgegangen41 - leidet unter psychischen Störungen. Insbesondere gewalttätige StraftäterInnen bedürfen psychologischer Unterstützung, die i.d.R. von PsychologInnen gewährleistet wird.

Diese befinden sich jedoch in einer unauflöslichen Konfliktsituation zwischen nicht miteinander zu vereinbarenden Anforderungen: Erfolgversprechende Resozialisierung setzt ein Vertrauensverhältnis zwischen den Strafgefangenen und den BetreuerInnen voraus. Der/die Strafgefangene muss sich, damit Therapie einen Sinn macht, gegenüber dem/der BetreuerIn öffnen können, muss von seinen/ ihren u.U. noch vorhandenen Aggressionen sprechen können. Gleichzeitig sind jedoch die PsychologInnen auch GutachterInnen, wenn es um die Frage der Entlassung geht. Die Möglichkeit nachträglich die SV zu verhängen, hängt nun wie ein Damoklesschwert über den Strafgefangenen. Wenn man sich den PsychologInnen öffnet, so die (nachvollziehbare) Vorstellung der Strafgefangenen, bedeutet dies die Gefahr der Anordnung der SV und damit u.U. ein Leben im Gefängnis. Darum scheint es aus der Sicht der StraftäterInnen sinnvoller zu sein, sich nicht zu offenbaren, sich unauffällig zu verhalten, wenn man sich nicht den Weg in die Freiheit verbauen will. Mit diesen Ängsten sind TäterInnen schwerer Straftaten nun ständig konfrontiert. Vertrauen zu einem/einer PsychologIn - und damit Erfolg versprechende Therapie - wird damit unmöglich.

Bedrohter Rechtsstaat


Die SV ist mit grundlegenden Prinzipien des deutschen Verfassungsrechts - insbesondere mit der Unverletzlichkeit der Menschenwürde - nicht zu vereinbaren. Die nachträgliche SV nach Landesrecht führt zu einer weiteren Verschärfung der Situation der Betroffenen.
Trotz dieser offenkundigen Bedenken gegen die SV scheint in letzter Zeit ein Stimmungswechsel hin zu einer deutlich punitiveren Gesellschaft stattzufinden. Bestand noch vor einigen Jahren die Hoffnung auf ein Ende der SV, zeigt die Sicherheitshysterie der letzten Zeit im Sanktionsrecht ihre Wirkung. Die SV nach Landesrecht und die neu eingeführte Möglichkeit der vorbehaltenen SV (§ 66 a StGB) sind Ausdruck dieser für den Rechtsstaat bedrohlichen Stimmung. Eine Versachlichung der Diskussion ist erforderlich. Risiken im Umgang mit TäterInnen schwerer Gewalttaten lassen sich nicht völlig ausschließen. Bemerkenswert ist, dass die Zahl der Sexualstraftaten in der BRD beachtlich abgenommen hat. Würde man jedoch ausschließlich den Medien glauben, müsste man annehmen, dass die Zahl derartiger Delikte epidemische Ausmaße angenommen hätte.42
Eine öffentliche Erörterung der verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die SV ist angesichts neuerer Forderungen nach der Einführung der SV im Jugendstrafrecht43 (derzeit wegen § 106 II 1 Jugendgerichtsgesetz unzulässig) dringend geboten. Nicht nur zur Frage der Verschärfung des Sanktionsrechts muss hinterfragt werden, ob eine Gesellschaft ohne Risiken möglich und wünschenswert ist. "Der Mensch, der bereit ist, seine Freiheit aufzugeben, um Sicherheit zu gewinnen, wird beides verlieren."44 Diesem Satz des ehemaligen US-Präsidenten Benjamin Franklin ist nichts weiter hinzuzufügen.

Tobias Mushoff lebt und promoviert in Bielefeld.

Anmerkungen:

1 Vgl. zur nachträglichen Sicherungsverwahrung bereits: Middelberg, Verena, Mehr Sicherheit durch Sicherungsverwahrung? In: Forum Recht 2002, 47-48.
2 Vgl. die Pressemitteilung des BVerfG 54/2003 vom 18.07.2003.
3 Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Sachsen-Anhalt N.12/2002, ausgegeben am 08.03.2002.
4 Frankfurter Rundschau (FR) v. 19.07.2003
5 BVerfG a.a.O.; vgl. zu dieser Frage: Pieroth 2002 m.w.N.
6 Schon Mayer, Hellmuth, Strafrechtsreform für heute und morgen, 1962, VI passim; NK/Böllinger, Lorenz, 1998, § 66 Rn.41; Weichert 1989; Weber/Reindl 2001; sowie: Kinzig, Jörg, Die Sicherungsverwahrung: bewährt oder obsolet? In: Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP) 1997, 99, 105.
7 Reichsgesetzblatt I 995; vgl. hierzu: Müller, Christian, Das Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24.11.33, 1997.
8 Z.B. Pieroth 2002, 123.
9 Gegen diese Vorstellung grundlegend: Naucke, Wolfgang, Die Kriminalpolitik des Marburger Programms, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (ZStW) 1982, 525 ff.
10 Liszt, Franz von, Der Zweckgedanke im Strafrecht, in: ders., Gesammelte Aufsätze, 1905, 126, 170.
11 Zitiert nach Radbruch, Gustav, Elegantiae Juris Criminalis, 1950, 229.
12 Naucke, Wolfgang, Die Kriminalpolitik des Marburger Programms, in: ders., Über die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts, 2000, 254.
13 Weber/ Reindl 2001, 16.
14 Entmannung = Kastration.
15 Müller 1997, 95.
16 Mayer, Hellmuth, Strafrecht AT, 1967, 185, vgl. auch: Walter, Michael, Strafvollzugsrecht, 1999, 106.
17 Walter 1999, 108
. 18 Kinzig 1996, 302 f.
19 Weichert 1989, 271; NK/Böllinger, 1998, § 66 Rn.39.
20 Weichert 1989, 271.
21 Weber/Reindl 2001, 19; Weichert 1989, 272.
22 Vgl. Müller-Dietz, Heinz, Menschenwürde und Strafvollzug, 1994, 19.
23 Wie hier: NK/Böllinger, 1998, § 66 Rn.33.
24 Weber/Reindl 2001, 19; vgl. auch: Köhler, Michael, Strafrecht AT, 1997, 58.
25 Vgl. Kaiser, Günther, Befinden sich die kriminalrechtlichen Maßregeln in der Krise? 1990, 33; ders., in: ders./ Schöch, Heinz, Strafvollzug, 2002, 429.
26 Vgl. Kohlrausch, Eduard, Sicherungshaft, in: ZStW 1924, 20, 33.
27 Baumann, Jürgen, Die Dienst- und Vollzugsordnung vom 1.12.61, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 1964, 57, 59.
28 LK-Hanack § 66 Rn.22.
29 Streng, Franz, Strafrechtliche Sanktionen, 1991, 149.
30 Feltes, Thomas, Prognosen sind heikel, in: FR v. 21.07.2003.
31 Weber/Reindl 2001, 18.
32 Weber/Reindl 2001, 17 mit Verweis auf Kinzig 1996.
33 Kaiser 1990, 20.
34 Gegen eine Anwendung des Rückwirkungsverbots auf Maßregeln der Besserung und Sicherung und für die Verfassungsmäßigkeit von § 2 VI StGB die Rechtsprechung und Tröndle, Herbert/Fischer, Thomas, StGB, 2001, § 1 Rn.4.
35 Jung, Heike, Rückwirkungsverbot und Maßregeln, in: Wassermann Festschrift, 1985, 875 ff.; SK/Rudolphi, Hans-Joachim, 1997, § 2 Rn.18; Ullenbruch, Thomas, Verschärfung der Sicherungsverwahrung, in: Neue Strafrechtszeitschrift 1998, 329 f.
36 Wie hier: Kinzig, Jörg, in: FR v. 21.07.2003.
37 NK/Böllinger, 1998, § 61 Rn.31; AK-StVollzG/Feest, Johannes, 1990, Vor § 2 Rn.19.
38 Feltes 2003.
39 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 35, 202, 235; 45, 187, 238 f.; Pieroth, Bodo/ Jarras, Hans, GG-Kommentar, 1992, Art. 2 Rn.30.
40 Albrecht, Peter-Alexis, Kriminologie, 2. Aufl. 2002, 57.
41 Feltes 2003.
42 Hierzu grundlegend: Hitzler, Ronald/Peters, Helge, Inszenierung: Innere Sicherheit, 1998.
43 Hinz, Werner, Jugendstrafrecht auf dem Prüfstand, in: ZRP 2001, 106, 110.
44 Franklin, Benjamin zitiert nach: Sack, Fritz, Vorwort, in: Humanistische Union (Hg.), Innere Sicherheit als Gefahr, 2003.

Literatur:

Kamalatta Flugschrift, Totgesagte leben länger, 1992.
Kinzig, Jörg, Die Sicherungsverwahrung auf dem Prüfstand, 1996.
Pieroth, Bodo, Gesetzgebungskompetenz- und Grundrechtsfragen zur nachträglichen Sicherungsverwahrung, in: Juristenzeitung 2002, 922-928.
Weber, Hartmut-Michael/ Reindl, Richard, Sicherungsverwahrung - Argumente zur Abschaffung eines umstrittenen Rechtsinstituts, in: Neue Kriminalpolitik 1/2001, 16-21.
Weichert, Thilo, Sicherungsverwahrung - verfassungsgemäß? In: Strafverteidiger 1989, 265-274.