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Die Staats- und Regierungschefs der EU nahmen in Brüssel Ende 2003 den
Entwurf des Verfassungskonvents nicht an. Der EU-/EG-Vertrag bleibt also
in der Fassung von Nizza in Kraft. Auch in nächster Zukunft ist nicht
mit einer Einigung über eine EU-Verfassung zu rechnen. Für den Fall einer
Einigung bleibt der Verfassungsentwurf (VE) für den Grundrechtsschutz
aktuell, denn die Verhandlungen scheiterten nicht an der EU-Grundrechte-Charta.
Daher lohnt ein Blick auf die Änderungen, die der VE im Hinblick auf die
Grundrechte-Charta enthält.
Als Zugeständnis an Gastgeber Deutschland gab der Europäische
Rat 1999 in Köln die Erarbeitung einer Grundrechte-Charta in Auftrag.
Diese sollte die in der EU geltenden Grundrechte zusammenfassen und transparenter
machen. Ende 2000 konnte die Charta nur feierlich verkündet werden,
denn wegen des britischen Widerstands wurde vorläufig von einer Aufnahme
in die Europäischen Verträge abgesehen. Die Charta wäre
sonst rechtsverbindlich geworden.
Für den VE wird das bezweifelt: die Formulierung, dass die EU die in der
Charta enthaltenen Rechte und Pflichten anerkennt (Art. I-7 VE), sei unklar
und so hätte der Europäische Gerichtshof (EuGH) über den rechtlichen Status
zu entscheiden.1 Das ist nicht notwendig, denn durch den Verweis auf die
im Vertrag enthaltene Charta (Art. I-7 Abs. 2 VE) wird diese rechtsverbindlich.2
So ging der Grundrechte-Konvent bei der Ausarbeitung der Charta von dieser
Situation aus; auch die EU-Rechtsprechung bezog sich schon auf die Charta.3
Grundrechte sekundär
Dem Anspruch der Grundrechte als Fundament des Handelns der EU (Art.
I-2 VE) kann eine Charta im zweiten Teil der Verfassung aber nicht genügen.
Dies wiegt um so schlimmer, als die EU-BürgerInnen sich erst durch Hunderte
von Artikeln kämpfen müssen, bevor sie die ihnen zustehenden Grundrechte
erkennen können. Die Länge des VEs wird damit verteidigt, dass das deutsche
Grundgesetz (GG) noch länger sei.4 Den Unterschied macht aber nicht die
Länge, sondern ob sich die Grundrechte den BürgerInnen unmittelbar erschließen.
Die Grundrechte sind im GG an erster Stelle genannt, womit ihre Bedeutung
hervorgehoben und die Abkehr von der grundrechtslosen NS-Zeit verdeutlicht
wird. Auch in den meisten anderen europäischen Verfassungen setzt der
Grundrechtekatalog schon nach wenigen einleitenden Artikeln ein.5
Zwei Präambeln
An der Präambel des Entwurfs wird u.a. die Reihenfolge bei der Aufzählung
der Werte kritisiert.6 Gravierender ist, dass der VE eine Präambel für
die ganze Verfassung und auch die ursprüngliche Präambel der Charta enthält.
Das ist keine elegante Lösung. Außerdem wird dadurch die Wirkung des gesamten
Textes geschwächt: die Grundrechte-Charta wirkt wie ein Fremdkörper in
der Verfassung. Präambeln sollen sich auch auf das Notwendige und Wichtige
beschränken;7 die beiden Präambeln überlappen sich aber z.T. inhaltlich.
Vielleicht wäre auch der bei der Charta beigelegte Streit um den Gottesbezug
nicht wieder aufgeflammt, wenn die Charta-Präambel als Basis für eine
einzige Verfassungspräambel gedient hätte.
"Remedies precede rights"
Positiv für den EU-Grundrechtsschutz ist am VE zunächst, dass die Charta
rechtsverbindlich wird. Von Bedeutung ist aber v.a., inwieweit die Grundrechte
geltend gemacht werden können. Großbritannien zögerte anfänglich, die
Grundrechte-Charta rechtsverbindlich zu machen. Das könnte daran liegen,
dass in der englischen Rechtstradition Rechtsmittel wichtiger sind als
Rechte. So sind die historischen Freiheitsverbürgungen, Magna Charta und
Habeas Corpus Act, eher mit Verfahrensrechten denn mit materiellen Rechten
verbunden.8 Wichtiger erschien es, jemanden aus der Haft freizubekommen
als diesem ein abstraktes Recht zu gewähren, das kaum durchzusetzen war.
Ein Rechtssprichwort lautet: "remedies precede rights"9, oder genauer:
"ubi remedium ibi jus: where there's a remedy there's a right"10. Ein
Recht existiert praktisch nur, wenn es auch ein Rechtsmittel gibt, um
es durchzusetzen.
Diese Erkenntnis lässt sich auf die Grundrechte-Charta übertragen: schön
formulierte Rechte nutzen wenig, solange sie nicht einklagbar sind. Im
VE werden jedoch die bestehenden Klagemechanismen nicht im Hinblick auf
die Einbindung der Charta angepasst.
Verbesserte Nichtigkeitsklage?
Einen Ansatz für die Rechtsdurchsetzung bietet die individuelle Nichtigkeitsklage
nach Art. 230 Abs. 4 EG. Danach kann jede natürliche oder juristische
Person gegen Rechtsakte der EG klagen, sofern sie den EG-Vertrag verletzen;
dann wird der betreffende Rechtsakt vom EuGH für nichtig erklärt. Angreifbar
sind Rechtsakte, die direkt gegen die KlägerInnen ergingen oder sie unmittelbar
und individuell betreffen. Auch Verordnungen oder an andere Personen ergangene
Entscheidungen sind also angreifbar. Nach der sog. "Plaumann"-Formel ist
individuell betroffen, wen der angegriffene Rechtsakt wegen persönlicher
Eigenschaften oder wegen besonderer Umstände berührt und dadurch so ähnlich
individualisiert wie eine AdressatIn.11
Um die Anwendbarkeit der Nichtigkeitsklage gegen indirekte Rechtsakte
zu erweitern, sollte der Wortlaut in "direkt oder individuell" statt "direkt
und individuell" geändert werden.12 Doch fragt sich, ob dies ausreicht,
um die Erfolgschancen einer Nichtigkeitsklage zu erhöhen. Denn in der
Praxis wird v.a. das Merkmal "individuell" sehr restriktiv gehandhabt.13
So wurde der Versuch einer weiten Auslegung dieses Merkmals durch das
Gericht erster Instanz (EuG)14 vom EuGH abgelehnt: individuelle Betroffenheit
liege nicht vor, wenn die Rechte eines Klägers durch eine Verordnung beeinträchtigt
werden, die dessen Rechte einschränkt oder ihm Pflichten auferlegt.15
Ein Problem besteht in Fällen, wo dem Klagenden weder nationale noch andere
Klagen nach EG-Recht eröffnet sind. Eine zu enge Auslegung des Art. 230
Abs. 4 EG würde KlägerInnen keinen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz
mehr gewähren. Der Hinweis des EuGH, dass die Mitgliedstaaten den effektiven
Rechtsschutz garantieren sollen, ist dabei wenig hilfreich. Wenn der EuGH
eine Klage nicht zulässt, weil auf nationaler Ebene effektiver Rechtsschutz
gewährleistet ist, dann heißt das im Umkehrschluss, dass er eine Klage
zulassen muss, wenn nationaler Rechtsschutz nicht garantiert ist.16 Denn
sonst würde eine Situation der Rechtsverweigerung entstehen.
Zwar mag eine weite Auslegung des Merkmals "individuell" wie durch das
EuG zu einem Anstieg der Klagen führen.17 Doch würde die Überlastung nicht
den EuGH, sondern das EuG als für Individualklagen zuständiges Gericht
treffen. Eine Interpretation der "individuellen Betroffenheit" wie im
Urteil "Jégo-Quéré" wäre kohärenter und weniger komplex; zudem stünde
sonst einem ausgewachsenen Grundrechtekatalog eine nur rudimentäre Klagemöglichkeit
gegenüber. Dies wäre auch angesichts der jüngsten Entwicklungen beim Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte (EuGMR) bedenklich. Infolge seiner chronischen
Überlastung liegen nämlich Reformvorschläge vor, die Zulässigkeitsbedingungen
der Individualklage bei der Europäischen Menschenrechtskonvention zu verschärfen.18
Für den endgültigen Verfassungstext bleibt zu wünschen, dass dem indirekten
Aufruf des EuGH19 gefolgt wird und die Vorschriften bezüglich der Klagebefugnis
bei Nichtigkeitsklagen ergänzt werden.
(K)eine neue Klage ?
Eine eigenständige Grundrechtsbeschwerde20 würde die Bedeutung der Charta
unterstreichen, doch der Konvent über die Zukunft Europas blieb auf halbem
Wege stehen.21 Eine eigenständige Klage könnte nach dem "Freiburger Vorschlag"
von Schwarze entsprechend der deutschen Verfassungsbeschwerde gestaltet
sein.22
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) stellt allerdings hohe Anforderungen
an den Erfolg von Verfassungsbeschwerden. Trotz ihrer Beliebtheit sind
nur knapp 3 % dieser Klagen erfolgreich. Überträgt man diese Zahlen auf
EU-Ebene, so müsste sich eine der deutschen Verfassungsbeschwerde vergleichbare
Klage erst in der gemeinschaftsrechtlichen Praxis bewähren. Einen praktischen
Einwand hat der Präsident des BVerfG, Papier: bei fast 500 Millionen BürgerInnen
sei eine EU-Verfassungsbeschwerde technisch nicht zu bewältigen; denkbar
sei die Übernahme der Aufgabe durch die nationalen Verfassungsgerichte.23
Das würde zwar ihrem Bedeutungsverfall entgegen wirken, ist aber bedenklich,
da die nationalverfassungsrichterliche Kontrolle nicht nur nationale Behörden
betrifft, soweit sie Unionsrecht anwenden, sondern auch Akte der EU-Organe.
EU-Organe müssten sich also nationalgerichtlichen Entscheidungen unterwerfen,
was mit dem Grundsatz vom Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts24
unvereinbar wäre. Zudem besteht die Gefahr divergierender Auslegungen
der Charta durch die nationalen Verfassungsgerichte. Ein Vorlageverfahren
könnte dennoch eine einheitliche Rechtsprechung gewährleisten. Ein solches
wird auch bei der Reform des EuGMR diskutiert.25 Für die EU-Grundrechte-Charta
könnte auf das Vorabentscheidungsverfahren gem. Art. 234 EG zurückgegriffen
werden, wonach der EuGH über Auslegungsfragen des EG-Vertrags entscheidet.
Nach dem VE wäre die Charta Bestandteil der Verfassung; der EuGH könnte
sie also interpretieren. Die nationalen Verfassungsgerichte unterlägen
als Gerichte in letzter Instanz der Vorlagepflicht.
Die Vorlageverfahren könnten von einer Grundrechtekammer durchgeführt
werden. Nach Art. 225a EG können zur Entlastung von EuGH und EuG Kammern
mit einer spezifischen Funktion gebildet werde. Der EuGH ist ein multifunktionales
Gericht: Er ist zugleich Verfassungs-, Verwaltungs-, Zivil-, Dienst- und
Disziplinargericht. Die Verfassungsgerichtsbarkeit des EuGH z.T. einer
dem EuG beigeordneten Grundrechtekammer zu überantworten, wäre also denkbar.
Allerdings ist ein Vorlageverfahren nur soweit durchführbar, wie das vorlegende
Gericht eine Anwendung des EU-Rechts durch nationale Behörden überprüft.
Eine Grundrechtekammer hätte für die EU-BürgerInnen nur symbolische Wirkung,
denn sie kann nicht darüber hinweg täuschen, dass den Grundrechtsschutz
Suchenden der Zugang erschwert ist, solange es bei einer restriktiven
Interpretation der Nichtigkeitsklage bleibt oder keine spezifische Grundrechtsbeschwerde
vorgesehen ist.
Jean-Claude Alexandre Ho, Maître en Droit, LL.M. (Köln/Paris I) studiert
Jura in Tübingen
Anmerkungen:
1 Chalmers, European Law Review (ELR) 2003, 449 (450).
2 Epping, JZ 2003, 823.
3 EuG, Urt. v. 30.01.2002 "Max Mobil".
4 Oppermann, DVBl 2003, 1168.
5 B: Art. 8; E: Art. 10; FIN: § 6; GR: Art. 4; I: Art. 2, 13; L: Art.
9; NL: Art. 1; P: Art. 12; S: § 16; TR: Art. 10.
6 Oppermann, (Fn.4), 1169.
7 Häberle, Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, FS Broermann,
1982, 211 (246).
8 Grewe/Ruiz-Fabri, Droits constitutionnels européens, 1995, 146.
9 David/Jauffret-Spinosi, Les grands systèmes de droit contemporains11,
2002, Rn. 224.
10 Lawson, Remedies of English Law, 1980, 1.
11 EuGHE 1963, 211 (238) "Plaumann".
12 Meyer, Editorial NJW 20/2003.
13 Cremer, Art. 230, Rn. 49, 58, in: Calliess/Ruffert, EU-Vertrag und
EG-Vertrag, 1999.
14 Urt. v. 3. Mai 2002 "Jégo-Quéré" (T-177/01).
15 Urt. v. 25. Juli 2002 "Unión de Pequenos Agricultores" (C-50/00 P).
16 Hamer, JA 2003, 666 (671).
17 Hamer, (Fn. 15), 671; Ragolle, ELR 2003, 101.
18 Benoît-Rohmer, Dalloz 2003, 2584.
19 Kronenberger/Dejmek, European Legal Forum 2002, 265.
20 Renucci, Droit européen des Droits de l'Homme, 2002, Rn. 428; Mayer,
Europäische Verfassungsgerichtsbarkeit, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europ.
Verfassungsrecht, 2003, 278.
21 Epping, (Fn. 2), 827.
22 Meyer, (Fn. 12).
23 SPIEGEL-Gespräch, in: DER SPIEGEL 39/2003.
24 St.Rspr. seit EuGHE 1963, 1 ff "Van Gend & Loos".
25 Benoît-Rohmer,(Fn. 17), 2588ff.
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