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Johannesburg 2002 - ein Prüfstein für den Multilateralismus   Heft 1/2004
Europavisionen
Ode an die Freude?

Seite 13-15
Zur Rolle der EU in der Weltumweltpolitik  
 

Die Europäische Union gibt sich gern als umweltpolitische Vorreiterin und Verfechterin des Multilateralismus - im Gegensatz zu den USA. America bashing liegt im Trend. Gut ins Bild passte Rumsfelds Gegenüberstellung der USA mit dem "alten Europa". Die Grünen ließen sich sofort Aufkleber und T-Shirts mit dem neuen Schlagwort bedrucken. Während die USA auf der anderen Seite des Atlantiks den unilateralen Angriffskrieg gegen den Irak vorbereiteten, stand das "alte Europa" für Menschenrechte und Demokratie.
Dort Krieg für Öl, hier Umweltschutz und erneuerbare Energien - geht diese Rechnung auf? Klar ist: Die USA haben weltweit mit Abstand den höchsten Ressourcenverbrauch und sind am wenigsten gewillt, sich an internationalen Umweltabkommen zu beteiligen. Ist aber die EU wirklich umweltpolitische Vorreiterin in der Welt? Und: Sind die USA allein verantwortlich für die vermeintliche Krise des Multilateralismus? Im Jahr 2002 fand in Johannesburg der Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung "Rio + 10" statt. Anhand der Verhandlungen zum Hauptdokument des Gipfels, dem Plan of Implementation1, soll diesen beiden Fragen nachgegangen werden.

WTO und Umweltschutz

Der Weltgipfel für Nachhaltige Entwicklung in Johannesburg 2002 war der bisher größte Gipfel in der Geschichte der Vereinten Nationen (UN). An ihm nahmen Delegierte aus 191 Staaten teil. Entsprechend wurde eine ganze Fülle von Themen diskutiert und verhandelt. Dies geschah nicht nur in Johannesburg selbst, sondern u.a. auf vier offiziellen UN-Vorbereitungskonferenzen. Auf der Agenda stand auch das Verhältnis von multilateralen Umweltabkommen und den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO). Dieser Verhandlungspunkt verdeutlicht den Widerspruch zwischen Image und tatsächlicher Rolle der EU in Abgrenzung zu den USA.
Die Welthandelsorganisation wurde 1994 in Marrakesch gegründet und steht komplett außerhalb des UN-Systems. Sie verfolgt das Ziel eines grenzenlosen Freihandels, auf dem Kapital und Waren sich ungehindert entsprechend Angebot und Nachfrage bewegen können. Ökologische und soziale Kriterien werden zurück gestellt. Das schafft natürlich Rivalitäten zu den Umweltabkommen. Zum Beispiel verbieten einige Staaten unter Berufung auf das Vorsorgeprinzip von Rio den Anbau und Import von gentechnisch veränderten Organismen. Nach den Regeln der Welthandelsorganisation ist jedoch ein solches Importverbot eine unerlaubte Handelsbarriere.

Im Gegensatz zu den Umweltabkommen verfügt die Welthandelsorganisation über Sanktionsmechanismen, d.h. ein Verstoß gegen ihre Regeln zieht für den jeweiligen Mitgliedsstaat eventuell Strafen nach sich, ein Verstoß gegen die Umweltabkommen nicht. In der Praxis genießen die Regeln der Welthandelsorganisation deshalb Vorrang vor den Umweltabkommen, obwohl internationale Abkommen grundsätzlich gleichwertig nebeneinander existieren.
In der EU wird der Anbau und Import von Gentech-Produkten de facto nicht erlaubt. Die USA haben deshalb ein Beschwerdeverfahren bei der Welthandelsorganisation eingeleitet. Bei der Gentechnik scheint der Fall deshalb klar: Die USA wollen Freihandel um jeden Preis, das "alte Europa" sorgt sich auch um Mensch und Umwelt. Umweltminister Trittin rühmte sich, in Johannesburg den Vorrang der Welthandelsorganisation verhindert und die Gleichrangigkeit der Umweltabkommen und der Regeln der Welthandelsorganisation durchgesetzt zu haben (in Art. 92, Plan of Implementation).2 Dies ist jedoch eine einseitige Darstellung, denn zum einen ist die verabschiedete Formulierung nicht ganz so klar und zum zweiten verursachte auch die EU den Schaden, den es zu verhindern galt.

Vermeintliche Vorreiterin EU

Im Vorfeld des Gipfels von Johannesburg hatte es nämlich eine Absprache zwischen EU und USA zum Vorrang der Regeln der Welthandelsorganisation gegeben. In Johannesburg stimmte dann auch die Gruppe der Entwicklungsstaaten der Formulierung zu. Die Verabschiedung konnte nur durch das Veto einer Hand voll Reststaaten, die keinem der großen Blöcke angehören, verhindert werden. Bei genauerem Hinsehen also verliert die EU die Rolle der Umwelt-Märtyrerin. Von Seiten der Nichtregierungsorganisationen hieß es sogar, die EU sei der letzte Verhandlungsblock gewesen, der eingelenkt hätte - noch nach den USA.3
Der von Trittin mit Lob versehene endgültige Plan of Implementation sieht zudem neben der vorläufigen Gleichrangigkeit der Umweltabkommen und der Regeln der Welthandelsorganisation auch die Unterstützung des Arbeitsprogramms von Doha vor. Bei der Doha-Konferenz der Welthandelsorganisation im November 2001 war die Klärung der Verhältnisses von Welthandelsorganisation und Umweltabkommen an einen Ausschuss der Welthandelsorganisation delegiert worden. Dass das Verhältnis durch die Welthandelsorganisation entschieden werden soll, lässt bereits auf einen Vorrang der Welthandelsorganisation schließen und ist aus umweltpolitischer Sicht höchst bedenklich. Der Fuchs wurde hier gewissermaßen zum Wärter im Hühnerstall gemacht. Im Grunde haben sich somit die USA in den Verhandlungen durchgesetzt. Zwar wurde der Vorrang der Welthandelsorganisation nicht formal entschieden, aber der Weg dafür bereitet.

Die EU bildete in den erläuterten Verhandlungen kein Gegengewicht zu den USA. Das lag nicht daran, dass sie nicht genug Gewicht gehabt hätte, sondern daran, dass sie keine deutliche Gegenposition einnahm. Die gravierende Interessengegenüberstellung in der Welt verläuft schließlich nicht zwischen den USA und der EU, sondern zwischen Industrie- und Entwicklungsstaaten bzw. in der Umweltpolitik zwischen Verursachern und denen, die die Folgen von Umweltzerstörung und Klimawandel mitzutragen haben.4 Die klassische Gegenüberstellung zwischen globalem Norden und Süden tritt allerdings immer mehr in den Hintergrund. Im Mittelpunkt der aktuellen Debatte steht der Gegensatz von EU und USA.
Die Entwicklungsstaaten sind den Industriestaaten trotz des UN-Prinzips one country - one vote nicht ebenbürtig. Das beginnt damit, dass die Entwicklungsstaaten es sich oft nicht leisten können, überhaupt Delegierte zu den UN-Versammlungen zu schicken. Darüber hinaus kommen in der G 77 / China, der Gruppe der Entwicklungsstaaten, sowohl die Interessen der ärmsten Länder als auch beispielsweise der ölfördernden Länder zusammen. Das spaltet sie und schwächt ihre Position in den multilateralen Verhandlungen - neben der Tatsache, dass sie eben keine donors, keine Geber-, sondern Empfängerstaaten, d.h. auf Finanztransfers, zum Beispiel in Form von Entwicklungshilfe, angewiesen sind. Im Vordergrund der Verhandlungen stehen deshalb oft Themen, welche die Industriestaaten beschäftigen. In der Folge wird der Gegensatz zwischen globalem Norden und Süden und damit die Bedürfnisse und Interessen der Entwicklungsstaaten marginalisiert.

Der Multilateralismus in der Krise

Spätestens seit der 5. Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation in Cancun im September 2003 ist die Rede von der Krise des Multilateralismus. Entweder die Verhandlungen scheiterten ganz oder es käme zu einer Einigung auf dem "kleinsten gemeinsamen Nenner". In der Umweltpolitik ist in diesem Zusammenhang oft die Rede von der "Verhinderung des Rückschritts" bzw. einem drohenden roll back. Dabei wird übersehen, dass es nicht zu einem Zustand ohne kollektive Regelung kommt, wenn in internationalen Verhandlungen keine Einigung erzielt wird, sondern der jeweilige Status quo erhalten bleibt.
In der Umweltpolitik gibt es nur wenige Staaten, die es sich leisten können, sich über bestehende global vereinbarte Standards hinwegzusetzen, ohne darunter ernsthaft materiell zu leiden. Viele meinen, dass sogar nur die USA als einzig verbliebene Supermacht in der Lage sind, sich über multilaterale Vereinbarungen und internationale Standards hinwegzusetzen. Das Kyoto-Protokoll ist nur ein Beispiel. Der Supermacht wurde in Johannesburg vorgeworfen, dass sie, dieser Logik folgend, durch Androhen ihres Vetos, in allen Bereichen Entscheidungen auf den "kleinsten gemeinsamen Nenner" gedrückt hätte.
Dabei wird vergessen, dass das Prinzip one country - one vote den Staaten kein Veto im Sinne einer einfachen Zustimmungsverweigerung durch eine Gegenstimme, die eine Einigung verhindert, zugesteht, sondern einen Ausstieg aus den Verhandlungen bedeutet. Ein solcher Ausstieg birgt Kosten. Hätten die USA etwa den Plan of Implementation nicht mit verabschiedet, wäre das für sie mit einem dramatischen Imageverlust verbunden gewesen. Sie hätten international erst recht als dirty actor gegolten. Dies ist nicht im Interesse der USA. Grundsätzlich sind auch sie am Multilateralismus interessiert. Sie ließen sich deshalb entgegen vieler Darstellungen auch in Johannesburg auf Zugeständnisse ein.

Kuhhandel Wasser gegen erneuerbare Energien

Selbst wenn ein Staat - und das gilt auch für die Supermacht USA - in einem bestimmten Verhandlungspunkt nicht an einer Einigung, sondern der Erhaltung des Status quo interessiert ist, gilt, dass in multilateralen Verhandlungen normaler Weise kein Punkt nur für sich verhandelt wird. Es kommt zum bargaining zwischen verschiedenen Verhandlungspunkten, d.h. zum Beispiel zum Kuhhandel Energie gegen Wasser: Im Bereich sauberes Trinkwasser und sanitäre Grundversorgung konnte die EU in Johannesburg einen Erfolg verbuchen, bei den erneuerbaren Energien gab sie den USA nach.
Im Punkt erneuerbare Energien hatte sich die EU die Verabschiedung eines quantitativen Zeitziels vorgenommen. Die USA stellten sich grundsätzlich gegen jede Art von konkreten Zielen. Da die Ölindustrie den Wahlkampf des US-Präsidenten Bush finanziert hatte, rechnete wohl niemand damit, dass die USA in Johannesburg von ihrer ablehnenden Haltung im Punkt erneuerbare Energien abrückten. Das Bild des dirty actor USA und der umweltpolitischen Vorreiterin EU traf zu.
Bei genauerem Hinsehen wird aber selbst in diesem Punkt deutlich, dass die EU sich nur im Vergleich zu den USA als Vorreiterin darstellen kann. Sie schlug als Ziel bis 2010 einen verbindlichen Primärenergieanteil erneuerbarer Energien von 15% vor - ein äußerst moderates Ziel angesichts eines bereits bestehenden weltweiten Anteils von 14%. Bei einem insgesamt steigenden Energieverbrauch bliebe diese Zuwachsrate von nur einem Prozentpunkt bedeutungslos, weil die Energieemissionen so trotzdem stiegen.5

Aus der Gruppe der Entwicklungsstaaten kam ein sehr viel weiter gehender Vorschlag. Brasilien schlug die Erhöhung des Primärenergieanteils sogenannter "neuer" erneuerbarer Energien (Sonne, Wind, Biogas) auf 10 % bis 2010 vor, was einer Steigerung um 8 Prozentpunkte (von 2 auf 10 %) bedeuten würde. Die EU unterstützte ihn nicht. Der verabschiedete endgültige Plan of Implementation enthält keine konkreten Ziele zu erneuerbaren Energien, sieht allerdings eine "substantielle Erhöhung des globalen Anteils erneuerbarer Energiequellen" vor.
Der Verzicht auf ein quantitatives Zeitziel für erneuerbare Energien, der eine Vielzahl von Staaten enttäuschte, ermöglichte im Austausch einen Verhandlungserfolg im Artikel zu sauberem Trinkwasser und sanitärer Grundversorgung, bei dem die USA in Paketverhandlungen nachgaben.
Das UN-Millenniumsziel sieht die Halbierung des Anteils der Menschen, die keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben (etwa 1,2 Mrd. Menschen), bis 2015 vor. Dieses Ziel wurde in Johannesburg bestätigt und erweitert. Zusätzlich wurde für den selben Zeitraum die Halbierung des Anteils der Menschen, die keinen Zugang zu sanitärer Grundversorgung haben (etwa 2,4 Mrd. Menschen), vereinbart.
Die Erweiterung des Ziels um sanitäre Grundversorgung geht maßgeblich auf die Initiative der EU zurück, die von der G 77 / China unterstützt wurde. Die USA widersetzten sich dem Ziel zur Abwasserentsorgung bis kurz vor Konferenzschluss. Die Regierungen konnten sich in Johannesburg erst verständigen, nachdem die USA ihre Opposition aufgaben und dafür mittels einer Paketslösung im Gegenzug auf die Festlegung von Zielen zu erneuerbaren Energien verzichtet wurde. Es kam also insgesamt nicht bloß zu einer Einigung auf den "kleinsten gemeinsamen Nenner". Weil ein Veto mit dem Ausstieg aus den Verhandlungen Kosten birgt, sind Zugeständnisse selbst für die USA attraktiv. Der Multilateralismus ist nicht grundsätzlich zum Scheitern verurteilt

Koalition der Willigen statt klassischem Multilateralismus

In vielen Resümees zum Weltgipfel wird nur der Punkt erneuerbare Energien herausgegriffen, der - für sich genommen - die Krise des Multilateralismus zu belegen scheint. An ihm knüpfen auch deshalb Überlegungen zu Alternativen zum "klassischen" Multilateralismus an, weil die EU in der Endphase des Weltgipfels in Johannesburg eine Erklärung gleich gesinnter Staaten zur Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energien vorlegte.

In dieser Erklärung kündigen die Unterzeichnerstaaten an, ambitionierte Ziele auf globaler, regionaler und nationaler Ebene mit klaren Zeitplänen zur Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energien zu setzen. Auf ein konkretes quantitatives Ziel legte sich die "Koalition der Willigen" jedoch ebenfalls nicht fest. Zu ihren UnterstützerInnen gehörten neben den EU-Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission eine Vielzahl weiterer Staaten. Dabei war die Beteiligung großer Länder wie Brasilien und sogar Öl exportierender Länder wie Mexiko und Venezuela von besonderer Bedeutung. Wenn den Worten Taten folgen, ist eine solche Koalition vor allem als Vorreiterin für weitere multilaterale Vereinbarungen zu begrüßen.

Die EU - umweltpolitische Vorreiterin im Vergleich zu den USA

Die angeführten Beispiele machen deutlich, dass der Gegensatz zwischen umweltfreundlichem Europa und dirty actor USA zwar auf den ersten Blick zutrifft. Bei näherem Hinsehen wird aber deutlich, dass die EU sich nur im Vergleich zu den USA als Vorreiterin darstellen kann. Zwar setzte sich das "alte Europa" in Johannesburg für ein Zeitziel zur Förderung erneuerbarer Energien ein. Das von ihr vorgeschlagene Ziel war jedoch lächerlich. Auch der "Koalition der Willigen" gelang es nicht, ein konkretes Ziel festzulegen. Die Unterzeichnerstaaten kündigen ein solches in ihrer Erklärung lediglich an. Die Vorreiterrolle blieb also rein rhetorisch. Es bleibt fraglich, ob die "Koalition der Willigen" als Motor zur Verbreitung erneuerbarer Energien weltweit dient.
Die Verhandlungen zum Verhältnis von internationalen Umweltabkommen und den Regeln der Welthandelsorganisation führen vor Augen, wie sehr USA und EU im Grunde an einem Strang ziehen. Es wäre wünschenswert, wenn die EU wie im Punkt Wasser enger mit den G 77 / China kooperieren und sie die USA gemeinsam unter Druck setzen würden, um eine ehrgeizigere Weltumweltpolitik durchzusetzen. Sehr realistisch erscheint dies jedoch nicht. Denn eine engere Kooperation zwischen der EU und den G 77 / China hat im Gegensatz zum America bashing die Konsequenz, dass sich die EU dem Süden stellen und einschränken müsste: Ein Europäer bzw. eine Europäerin ist schließlich für acht mal mehr Treibhausgas-Emissionen verantwortlich als eine Afrikanerin oder ein Asiat!

Lena Partzsch hat in ihrer politikwissenschaftlichen Diplomarbeit die Krise des Multilateralismus anhand der Verhandlungen zum Plan of Implementation untersucht. Zur Zeit arbeitet sie als parlamentarische Assistentin der grünen Europaabgeordneten Hiltrud Breyer.

Anmerkungen:

1 Dokument 2309, abrufbar auf: www.johannesburgsummit.org, 15.10.03.
2 Vgl. www.bmu.de/reden/rede_trittin020904.php, 08.01.03.
3 Vgl. www.germanwatch.org/kliko/ks05.htm, 28.05.03.
4 Vgl. Hoffmann, Rasmus: Der Zusammenhang zwischen sozialem und ökologischen Problemen; in: Forum Recht 03/2003, S. 76-79.
5 Vgl. Maier, Jürgen: Weder Durchbruch noch Rückschlag. Eine erste Bilanz des Weltgipfels für nachhaltige Entwicklung, in: Vereinte Nationen 5/2002, S. 180.