Ingo Techmeier |
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Der Neid der bürgerlichen Gesellschaft | Heft
1/2004 Europavisionen Ode an die Freude? Seite 25-28 |
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In der aktuellen sozialpolitischen Debatte wird die Verteidigung bisheriger
sozialer Umverteilung als unangemessener Versuch der "Besitzstandswahrung"
bezeichnet. Es ist nicht beabsichtigt, diese Debatte nachzuzeichnen, statt
dessen soll hier die soziale Ungleichheit, die einer Forderung nach Umverteilung
vorangeht, theoretisch fundiert werden. Diese wird aus einer wirtschaftswissenschaftlichen
Argumentation markttheoretisch hergeleitet, die sie als eine notwendige
Folge der monetären Vergesellschaftung ansonsten unabhängiger Individuen
über den Markt ausweist. Die herrschende Meinung der Ökonomik Bevor im folgenden Abschnitt soziale Ungleichheit als eine Folge der Vergesellschaftung über den Markt dargelegt wird, soll die Sichtweise des ökonomischen Mainstreams skizziert werden. Für diesen verschmelzen ökonomische Effizienz und soziale Wünschbarkeit und werden beide simultan über den Markt vermittelt. Das freie Spiel von Angebot und Nachfrage erreiche über eine Preisanpassung des Angebots einen vollständigen Interessensausgleich aller MarktteilnehmerInnen: "[D]ie individuelle Verfolgung der eignen Interessen [führt] zu einem gesellschaftlich erwünschten Ergebnis", wobei "das ‚unabhängige' Verhalten eingebettet ist in eine Vielzahl handlungskanalisierender Regeln, eben den Regeln des Gesellschaftsvertrags"1, die so zugeschnitten seien, dass es zu einem gewollten Leistungswettbewerb kommt. Wird der Rahmen, innerhalb dessen gewirtschaftet wird, richtig gestaltet, sei das Marktergebnis ein Ausdruck von ökonomischer Effizienz und sozial durchaus wünschbar. Lediglich in Fällen des so genannten Marktversagens komme reines Agieren am Markt zu einem ökonomisch und/oder sozial suboptimalen Ergebnis. In diesen Fällen solle der Staat regulierend eingreifen, aber in einer möglichst marktkonformen Weise. Ein Beispiel hierfür ist die Absicht, eine zunehmende Umweltverschmutzung durch die industrielle Produktion marktkonform durch die Handelbarkeit von Emissionsrechten einzuschränken.2 Prinzipiell aber ist das Zusammenfallen von ökonomischer Effizienz und sozial Wünschbarem das Credo des wirtschaftwissenschaftlichen Mainstreams. Liberalisierte Märkte führten hiernach zu einer Auslastung aller Ressourcen, da der Angebotspreis auf dem Markt so lange sinkt, bis es zu einer Markträumung (Vollbeschäftigung) komme. Daher sei das soziale Ziel der Vollbeschäftigung durch eine Liberalisierung des Arbeitsmarkts zu erreichen. Entsprechend firmiert Unterbeschäftigung als freiwillige Arbeitslosigkeit, da sie ausschließlich aus zu hohen Lohnforderungen und - für die ArbeitgeberInnenseite - unakzeptablen Beschäftigungsbedingungen wie beispielsweise den Kündigungsschutzbestimmungen resultiere. Andere postulierte Formen der Unterbeschäftigung seien notwendig temporär, da sie zum Beispiel einem vorübergehenden Strukturwandel (Friktionsarbeitslosigkeit) oder der beschäftigungslosen Zeit zwischen einem Stellenwechsel (Sucharbeitslosigkeit) geschuldet sind. Es mögen zwar Mindestlöhne zugestanden werden oder besser eine negative Einkommenssteuer, die gering Verdienenden eine staatliche Transferzahlung zubilligt, Gewerkschaften haben jedoch aus dieser Perspektive lediglich eine störende Funktion, da sie die freie Preisbildung behinderten. Wie weit diese Ansicht allgemein geworden ist, zeigten die Reaktionen auf den gescheiterten Streik der ostdeutschen Metallindustrie im Sommer 2003, so hieß es beispielsweise in der Zeit, Streik und Aussperrung bedeuteten Krieg, den es in einer zivilen Gesellschaft nicht geben dürfte.3 Da die Aussperrung eine Reaktion ist, hätte demnach die Aktion, der Streik, zu unterbleiben. Soziale Ungleichheit als Folge einer Markthierarchie Die ökonomische Gegenposition dazu weist auf Unterschiede der einzelnen
Teilmärkte hin: Auf dem Vermögensmarkt mit seinen festen Beständen der
zu handelnden Wertpapiere führen sinkende Preise tatsächlich zu einer
Markträumung, da dieser Markt tatsächlich dem Ideal entspricht, während
sich beispielsweise das Arbeitsangebot auch bei sinkenden Preisen (Löhnen)
erhöhen kann, um eine mögliche Verelendung abzuwenden.4 Daher besitzt
der Arbeitsmarkt Besonderheiten und kann nicht wie andere Teilmärkte behandelt
werden. Wird das Geld jedoch zu knapp gehalten, sinkt in einer monetär vermittelten
Gesellschaft ihre Funktionsfähigkeit. Denn eine restriktive Geldpolitik
kann die Produktion so begrenzen, dass die Güter zu steigenden Preisen
absetzbar sind und damit eine Inflationierung begründen7. Die so monetär
vermittelte Verknappung des Güterangebots erlaubt Profite, die bei einem
Ausweiten der Produktion sänken. Denn - anders als es die liberale Theorie
postuliert -, ist die Produktion nicht durch eine gegebene Ressourcenausstattung
begrenzt, "sondern Geld [bildet] die Budgetrestriktion des Marktsystems8",
denn ohne es können weder Arbeitskraft oder Rohstoffe noch Maschinen in
Gang gesetzt werden. Da aber lediglich "Geld eine Verfügung über Ressourcen
und Güter erlaubt" ermöglicht, ist sein knapp Halten eine Begrenzung des
Einsatzes von Ressourcen und führt damit zur Unterbeschäftigung. Da die auf dem Gütermarkt erwartete Profitrate mindestens dem Kreditzins
entsprechen muss, wird auf dem Kreditmarkt auch die Profitrate bestimmt.
Wenn der auf dem Gütermarkt erwartete Gewinn nicht mindestens dem Zins
entspricht, unterbleibt die Produktion. Somit fungiert der/die UnternehmerIn
als "Vikar der VermögenseigentümerInnen10". Können keine ausreichenden
Profite erwirtschaftet werden, bleibt dem/der UnternehmerIn nur der Rückzug
aus der Produktion - sei es vorausschauend oder in Form des Bankrotts.
Da der auf dem Gütermarkt realisierbare Gewinn abhängig von der Nachfrage
ist, "wird der Gütermarkt [näher: die Nachfrage] an Stelle des Arbeitsmarktes
zur Produktionsschranke11". Somit steht der Arbeitsmarkt in der Hierarchie
der Märkte an der letzten Stelle und der Lohn ist eine Restgröße aus erwartetem
Gewinn und den zu zahlenden Finanzierungskosten für Kapital in Form von
Zinsen. Die Rezeption sozialer Ungleichheit Die auf den Märkten geschaffene Hierarchie manifestiert sich in der nicht nur umgangssprachlichen Verwendung der Begriffe Arbeit und Wirtschaft. Während mit Arbeit in der Regel die Seite der abhängig Beschäftigten gemeint ist, meint wer Wirtschaft sagt, oft nicht nur eine historische Form innerhalb derer Menschen ihre Lebensbedingungen reproduzieren, sondern es sind damit - abhängig vom Kontext sogar ausschließlich - auch Unternehmen und ihre RepräsentantInnen gemeint. Damit aber wird die genannte Reproduktion zur Angelegenheit einer besonderen Kaste der Gesellschaft: Den UnternehmerInnen. Dieses elitäre Bild des/der UnternehmerIn blendet aus, dass es in einer komplexen Wirtschaft nicht der oder die geniale Einzelne ist, die dem technischen Fortschritt in die Welt hilft, sondern dass an der Entwicklung von Neuerungen auch die Beschäftigten beteiligt sind. Der Ausdruck "Vertreter der Wirtschaft" zeigt, wie allgemein die Identifikation einer Gruppe wirtschaftlicher AkteurInnen mit der Wirtschaft als Ganzes ist, kaum eine oder einer würde auf die Idee kommen, hierunter beispielsweise GewerkschaftsvertreterInnen zu verstehen, sondern es ist klar, dass hiermit VertreterInnen von Unternehmen, als ExpertInnen für die Wirtschaft als solche, zu verstehen sind. Obwohl ihr ExpertInnenwissen die Perspektive der Unternehmen reflektiert oder eben des Kapitals. Allerdings muss ein hohes Einkommen nicht notwendig mit einer - zu Recht
oder zu Unrecht - als besonders bedeutsam anerkannten Rolle in der Gesellschaft
zusammen fallen. Von Hayeks Begründung der Einkommensungleichheit schlägt
auch eine vollständig anderen Argumentationsweg ein: Anhand des Begriffspaares
Verdienst und Entlohnung trennt er Gerechtigkeitsvorstellungen von Marktprozessen.
Während der Verdienst eine Kategorie der sozialen und individuellen Wertschätzung
ist, die ausdrückt, was als wünschenswert oder als zu respektierender
Einsatz eines Individuums zu betrachten ist, handelt es sich bei der Entlohnung
um ein zu akzeptierendes Marktresultat. In diesem Sinne verdient der/die
gute SamariterIn unsere Achtung, wird aber möglicherweise erst im Himmel
entlohnt. Da der Verdienst im Gegensatz zur marktkonformen Entlohnung
keine objektivierbare Größe ist, sei lediglich die Entlohnung mit einer
freien Gesellschaft zu vereinbaren. Denn sollte das Einkommen an den Verdienst
gekoppelt werden, setzt das eine Bewertung von außen voraus, die im Sinne
der Freiheit der Wahl nicht erfolgen dürfe. Zur ökonomischen Funktion sozialer Ungleichheit Das Phänomen soziale Ungleichheit bekommt seine ökonomische Funktion, wenn es gelingt, die Reaktion auf dieses Phänomen in eine marktkonforme Richtung zu lenken. Eine solche Lenkung erfolgt am Begriff des Neids, der in einer marktkonformen und einer nicht-marktkonformen Weise wirksam werden kann. Die ökonomisch liberale oder marktkonforme Sichtweise, die im Wesentlichen
an von Hayek dargelegt werden soll, betont zwar, dass ein "ausgedehnte[s]
System der Sozialfürsorge"14 mit der liberalen Theorie vereinbar sei,
wobei dieses jedoch nicht den Wettbewerb weit gehend einschränken dürfe.
Allerdings drohten die "[d]ie modernen Vertreter der Forderung nach einer
weitreichenden, materiellen Gleichheit"15 unwillentlich den Preismechanismus
freier Märkten zu zerstören, der die Grundlage einer freien Gesellschaft
sei. So sorge der "Atavismus der sozialen Gerechtigkeit" für den Verfall
einer freien Handelnsordnung16, wenn deren Ergebnisse nicht als rechtmäßig
akzeptiert werden, sondern unzulässiger Weise nach überkommenen Gerechtigkeitsvorstellungen
überprüft würden.17 Es geht hier um die Verteidigung einer Ordnung, die
sich nach von Hayek evolutionär heraus gebildet hat, aber von organisierten
Interessen beispielsweise seitens der Gewerkschaften bedroht sei18 - wobei
nicht einsichtig ist, warum Interessensverbände nicht ebenso als ein evolutionär
entstandener Teil der Gesellschaft betrachtet werden, die ebenfalls zu
ihrer Effizienz beitragen. Dieser Wechsel des Neidobjekts ist Voraussetzung dafür, dass der Neid
zwar als Ansporn erhalten und das Ergebnis einer marktförmigen Entlohnung
akzeptiert bleiben, während nicht-marktförmige Einkommen aus einer staatlichen
Umverteilung diskreditiert werden. Der Neid, der aus sozialer Ungleichheit
resultiert, wirkt dann als eine Motivation, auf den eigenen sozialen Aufstieg
hinzuarbeiten, statt mit vorgehaltener Pistole eine Umverteilung zu erzwingen.
Daraus resultiert die Dichotomie des Neids in zwei Formen: Eine, in der
Marktergebnisse akzeptiert werden und in der "Neid und Nivellierungssucht"
"gegen das reichere Privateigenthum"23 nur entsprechend der Handelnsordnung
wirksam werden. Diese marktkonforme Form des Neids erhält eine ökonomische
Funktion, da sie dem Individuum ein Antrieb ist und damit der Reproduktion
der wirtschaftlichen Struktur dient. Und eine andere nicht-marktkonforme
Form des Neids, die - da sie die Unantastbarkeit von Marktergebnissen
anzweifelt - als vormoderner Reflex diffamiert wird, der nicht mit einer
modernen Gesellschaft zu vereinbaren sei. Konsequenzen für eine sozialpolitische Diskussion Eine marktförmige Vergesellschaftung führt notwendig zu einer ökonomischen
Ungleichheit, da sich auf den einzelnen Teilmärkten das Kalkül der VermögenseigentümerInnen
durchsetzt. Wird wiederum ein am Markt erzieltes hohes Einkommen als monetärer
Ausdruck für die gesellschaftliche Wertschätzung interpretiert, dann rechtfertigt
die besondere Bedeutung im Prozess der ökonomischen Reproduktion die hohe
soziale Stellung. Diese wurde, da ihr Wert am Markt über zahlungsbereite
Nachfrage bestimmt wurde, über einen freien Wettbewerb ermittelt. So fallen
soziale und ökonomische Effizienzkriterien in eins, wenn explizit gesellschaftlich
wünschenswerten Leistungen, die nicht über den Markt vermittelt werden,
zwar ein Verdienst, aber keine Entlohnung zugebilligt wird und diese somit
aus der Betrachtung ausgeschlossen werden. Ingo Techmeier ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kriminalwissenschaften der Universität Münster. Anmerkungen: 1 Homann/Suchanek, 2000, 256. Literatur Busch, U., Vermögensbesteuerung und Neidperversion in: UTOPIE
kreativ 2003, H. 147, 5-16. |