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Wer sich kritisch mit der Gesellschaft auseinandersetzt, stellt recht
bald fest, dass dieses Gebilde sehr komplex ist und viele Teilbereiche,
Zusammenhänge sowie Abhängigkeiten hat. Um da durchzusteigen und individuelle
Handlungs- und vor allem Veränderungsmöglichkeiten zu erkennen, bedarf
es einer ganzen Menge an Wissen. Diese basale Einsicht kam vor ein paar
Jahren auch einigen Menschen in Erfurt. Sie erkannten den Bedarf nicht
nur bei sich und beschlossen, auch anderen Menschen die Vermehrung ihres
Wissens zwecks kritischer Reflexion der Gesellschaft zu ermöglichen. Dafür
schlossen sie sich zum Bildungskollektiv (BiKo) unter dem Dach des arranca
e.V. zusammen. Es wurden und werden Veranstaltungen und Seminare zu ‚linken'
gesellschaftskritischen Themen angeboten und durchgeführt. Bei der Reflexion
des eigenen Tuns stellte sich dann nicht nur die Frage: Was machen wir
eigentlich? Sondern vor allem auch: Wie machen wir das?
Nicht nur die Inhalte der Veranstaltungen, auch die Art und Weise der
Vermittlung sollten ‚linken Ansprüchen' genügen. So entstand ein Selbstverständnis,
welches thesenartig eine emanzipatorische Bildung skizziert, deren Hauptziel
die Befreiung von gesellschaftlichen, ökonomischen u.a. "Sachzwängen"
ist. Dieses soll im Folgenden vorgestellt werden, wobei darauf hingewiesen
sei, dass es sich nicht um ein starres Programm handelt, sondern eine
ständige Diskussion um Weiterentwicklung und konkrete Umsetzung stattfindet
und auch mit anderen gesucht wird.
In einem emanzipatorischen Bildungsansatz geht Bildung immer über die
bloße Vermittlung von Wissen hinaus. Sie stellt die gesellschaftlichen
Verhältnisse im Sinne einer Emanzipation grundsätzlich in Frage und führt
Diskussionen um alternative Gesellschaften und anderes Leben. Somit ist
sie stets auch politische Bildung.
Emanzipatorischer Bildung geht es weniger um punktuelle Verbesserungsvorschläge
für Probleme wie z.B. Armut und Umweltzerstörung als um die Diskussion
alternativer Gesellschaftsentwürfe. Sie geht davon aus, dass Kapitalismus
und bürgerlicher Staat immer wieder Krisen erzeugen und nicht das Ende
der Geschichte darstellen, dass eine grundsätzliche Veränderung der gesellschaftlichen
Verhältnisse möglich ist und Bildung ein erster Schritt dahin sein kann.
Dabei geht es jedoch nicht nur um eine "schöne ferne Zukunft", sondern
um einen Ansatz in der Gegenwart, in der aktuellen Lebenspraxis der Menschen.
Die Lernenden sollen deshalb nicht mit instrumentell anwendbarem Wissen
oder maximal verwertbarem kommunikativem Rüstzeug zur Erhöhung ihrer Ware
"Arbeitskraft" gefüllt werden. Vielmehr stellt emanzipatorische Bildung
eine Intervention dar, die Menschen zusammen bringt, um aktiv in aktuell
brennende gesellschaftlich-politische Prozesse einzugreifen. Um dort eingreifen
zu können, muss emanzipatorische Bildung in sozialen Bewegungen verankert
werden. Zielgruppe sind diejenigen, die an einem besseren Leben interessiert
sind und dazu in Interaktion mit Gleichgesinnten treten wollen.
Ziele emanzipatorischer Bildung
Die Gesellschaft durch Analyse und Kritik zu begreifen und Prozesse der
Veränderung anzustoßen, ist Hauptziel emanzipatorischer Bildung. Ein wichtiger
Anspruch dabei ist die Aufhebung der klassischen Trennung von Theorie
und Praxis, also die Zusammenführung von Bewusstseinsbildung und Handlungskompetenz.
Mit diesem Spannungsverhältnis muss emanzipatorische Bildung sowohl inhaltlich
als auch methodisch umgehen.
Die TeilnehmerInnen sollen nicht nur Wissen "aufsaugen", sondern auch
Möglichkeiten lernen, wie sich erworbenes Wissen praktisch umsetzen lässt.
Sie sollen die Ergebnisse, Erkenntnisse und den Prozess auf ihren Alltag
übertragen können. Im Idealfall heißt das, dass der Prozess nach der Veranstaltung,
dem Seminar oder der Diskussion, nicht beendet ist, sondern dass die Gruppen
weiter an dem Thema arbeiten.
Bildung als individuellen Prozess begreifen
Bildung, gerade emanzipatorische, kann nie nach einem vorgefertigten
Plan verlaufen. Lernen als Prozess des Verstehens und des Umsetzens, hat
jedes Mal seine eigenen Ziele und Probleme, Methoden und Lösungsansätze.
Dabei kommen immer verschiedene Individuen mit unterschiedlichen Voraussetzungen
und Bedürfnissen zusammen, denen mit einer starren Planung Gewalt angetan
würde. Mehr als allgemeine und grundlegende Methoden und Formen der Gestaltung
lassen sich deshalb nicht festmachen.
Für einen emanzipatorischen Bildungsprozess kommen im Idealfall Menschen
zusammen, die gemeinsam Probleme erkennen, diese inhaltlich und theoretisch
erfassen und dann gemeinsam in Aktion treten. Im Vordergrund stehen die
Bedürfnisse und Wünsche der Teilnehmenden und an diesen setzt
der Bildungsprozess an.
Dies darf sich jedoch nicht nur auf den inhaltlichen Teil des Bildungsprozesses
beschränken, sondern trifft auch für dessen Organisation zu. Alle TeilnehmerInnen
sollten sich idealer Weise an der Themenfindung, Vorbereitung, Organisation
und Durchführung einer Veranstaltung beteiligen. Die Umsetzung dieser
Ideale in die Praxis zeigt, dass es bei der Themenfindung noch klappt.
Dagegen bleibt die Vorbereitung und Organisation doch zumeist an wenigen
hängen und bei der Durchführung werden die Teilnehmenden eben durch die
vorbereiteten Methoden "gezwungen". Das Konzept für ein Seminar z.B. wird
immer vorgestellt und ist diskutabel, was den "Zwang" wieder lindert und
den Anspruch der Mitbestimmung und Hierarchiefreiheit wahrt.
Hierarchiefrei Lernen und Lehren
Ein stetiges, unformuliertes Lernziel emanzipatorischer Bildung ist ein
kooperativer, respektvoller Umgang miteinander und die hierarchiefreie
Organisation in Gruppen. Deshalb muss auch die Arbeitsverteilung bei Seminaren
und Veranstaltungen jeweils neu diskutiert werden. Es wird immer Menschen
geben, die sich in den Prozess intensiver einbringen können oder wollen.
Das darf jedoch nie zu einer unterschiedlichen Wertigkeit der Menschen
führen oder Möglichkeiten der Beteiligung beschneiden. Voraussetzung dafür
sind möglichst weiche Strukturen, also niedrigschwellige Voraussetzungen
für Partizipation.
Ziel sollte es sein, dass TeamerInnen, also Menschen, die den Rahmen für
den Bildungsprozess organisieren und diesen am Laufen halten, sowie DozentInnen
unnötig werden. Die Behauptung, die Trennung von TeamerInnen und TeilnehmerInnen
unter den jetzigen gesellschaftlichen Voraussetzungen aufheben zu können,
ist jedoch utopisch. Deswegen muss deren Stellung offensiv als Machtposition
benannt und Möglichkeiten zum Eingreifen bei Missbrauch gegeben werden.
Hier wird schon deutlich, dass die Überwindung der eigenen Gefangenheit
in einer hierarchisch strukturierten Gesellschaft, welche die Sozialisation
aller Menschen geprägt hat, recht schwierig ist. Hinzu kommt, dass Arbeits-
und Aufgabenteilung als praktische Sache erscheint. Nur birgt sie immer
auch die Gefahr der Schaffung einer hierarchischen Struktur, ob nun auf
informeller oder handlungspraktischer Ebene.
Die Umsetzung der Ideale des hierarchiefreien Lernens und Lehrens in
der Praxis erweist sich so oft als schwierig. Einige TeilnehmerInnen haben
mit der scheinbaren Unstrukturiertheit bei Seminaren ihre Probleme, andere,
v.a. Jugendliche, loten die Freiheiten der Gestaltung bis zur Schmerzgrenze
aus und provozieren lehrerInnenhafte Gegenwirkung durch die TeamerInnen.
Insgesamt werden die Möglichkeiten, die sich durch die Offenheit ergeben,
aber von den meisten TeilnehmerInnen als positiv reflektiert. Einschränkend
muss dabei festgestellt werden, dass Menschen, die gegensätzliche Ansprüche
haben, die Angebote zumeist gar nicht wahrnehmen.
Anders verhält es sich bei Abendveranstaltungen, welche meist in
Form von Vorträgen mit anschließender Diskussion angelegt sind
und so schon im Ansatz eine hierarchisch vorgeprägte Struktur haben.
Weil es dabei aber meist um eine Darstellung von Sachverhalten, Fakten,
Theorien o.ä. geht, ist diese Struktur vertretbar. Es gilt dann,
die Diskussionen entsprechend moderatorisch zu begleiten und Diskussionskultur,
Beteiligung, Vielrednerei, aber auch die zeitliche Begrenzung zu beobachten
und wenn nötig einzugreifen.
Methodische Umsetzung
Zwischen dem Lernprozess durch selbst gemachte Erfahrung und dem der
vermittelten Erfahrung (Selbst- und Fremderfahrung) besteht ein Spannungsverhältnis.
Diese Spannung wird noch erhöht durch impulsive, neue Ideen, die auf keine
Erfahrung zurückgreifen können. Ein weiteres Spannungsverhältnis ergibt
sich aus dem Alter der TeilnehmerInnen und deren unterschiedlichen Erfahrungshorizonten.
Auch dies sollte statt als Behinderung besser als Bereicherung und Chance
für den Bildungsprozess gesehen werden.
Der methodischen Aufgabe, aus diesen Spannungsverhältnissen einen kreativen
Prozess entstehen zu lassen, müssen sich alle Beteiligten stellen, wobei
die TeamerInnen bei der Bereitstellung des entsprechenden Rahmens besonders
gefordert sind. Machbar erscheint dies durch interaktive Methoden und
das Dialogische Prinzip. Bei beiden geht es nicht um Vermittlung nach
dem Prinzip: "So war es, so ist es und so sollt ihr werden!", sondern
um die aktive Einbeziehung der Teilnehmenden. Brain Storming/Thought Shower1
eignet sich, um orientiert am Vorwissen der Teilnehmenden in eine Problemstellung
einzuführen. Mind Mapping zeigt Zusammenhänge auf, knüpft Verbindungen
und Assoziationen und kann so als Leitfaden für die Bearbeitung dienen.
Eine Zukunftswerkstatt wäre eine gute Methode, um ein ganzes Seminar orientiert
an der Problemsicht der Teilnehmenden zu gestalten und problemorientierte
Lösungen zu erarbeiten.
Diese Beispiele sind nur ein Bruchteil der Möglichkeiten, den Pfad der
"ausgelatschten" Methoden zu verlassen und motivierende politische Bildungsarbeit
in Gang zu setzen. Viele weitere Anregungen können das "Kleine Methoden-Lexikon"
und v.a. "Mit Phantasie und Spaß" geben.2 Gemein ist diesen Methoden,
dass sie die individuellen Perspektiven aller Beteiligten anerkennen und
sie für den Bildungsprozess nutzen, indem sie zu einem Austausch darüber
anregen. Wichtig beim Dialogischen Prinzip ist jedoch, nicht beim Austausch
über die verschiedenen Standpunkte zu verharren, sondern zu versuchen,
diese zusammen zu führen und für alle eine höhere Erkenntnisebene zu erreichen.
Ausschlusskriterien
Dass Bildung keine Ware sein darf, sollte für Menschen, die einen emanzipatorischen
Bildungsansatz vertreten, klar sein. Es darf niemand aus finanziellen
Gründen von Veranstaltungen ausgeschlossen werden. Problematisch wird
es allerdings, wenn auf der anderen Seite Menschen von Bildung leben wollen.
Daraus ergibt sich die politische Forderung, dass Bildung als allgemeines
gesamtgesellschaftliches Bedürfnis anerkannt und finanziert wird, wobei
die Unabhängigkeit von Bildung gewahrt bleiben muss. Ebenso müssen andere
Ausschlusskriterien wie Sprache, Kindererziehung oder Behinderung bei
der Planung einbezogen werden, um gegebenenfalls Übersetzung und Kinderbetreuung
oder anderen Ausgleich zu ermöglichen.
Uwe Flurschuetz studiert Erziehungswissenschaften in Erfurt
und arbeitet mit im Bildungskollektiv (BiKo) im arranca e.V.
Anmerkungen
1 Da ‚brain storm' im Englischen auch für ‚epileptischen Anfall' steht,
wird die Verwendung von einigen Leuten als unpassend angesehen und durch
‚Thougt Shower' ersetzt.
2 Vgl. Literaturhinweise unten.
Literatur
Freire, Paulo, Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis
der Freiheit.
Paulo Freire Gesellschaft e.V. (Hg.), Mit Phantasie und Spaß. Praktische
Anregungen für eine motivierende politische Bildungsarbeit, 4. Aufl. Neu-Ulm
2000.
Peterßen, Wilhelm H.: Kleines Methoden-Lexikon, 2. aktualisierte
Aufl. München 2001.
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