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Bildungslücke   Heft 2/2004
freie Leere
Bildung für den Wettbewerb

Seite 40-41
Die studentischen Proteste gegen die Studiengebühren lassen deren Hintergründe außer Acht  
 

Mit dem massiven Sozialabbau verschlechtern sich auch zunehmend die Studien- und Lebensbedingungen der Studierenden. Alle Jahre wieder wird von Seiten der Politik versucht, Studiengebühren einzuführen. Auch wenn sich die an den jüngsten Protestaktionen aktiven Studierenden über großen Zuspruch seitens der Bevölkerung freuen können - in Berlin sollen die Proteste zeitweilig auf bis zu 80 % Zustimmung stoßen1 - scheint ihre Forderung, auf die Einführung von Studiengebühren für alle zu verzichten, auf taube Ohren zu stoßen. Die Niederlage im Kampf um ein gebührenfreies Studium zeichnet sich ab. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass im bisherigen Diskurs um die Einführung der Studiengebühren nicht im hinreichenden Maße Ideologiekritik an dem Mythos geübt wurde, dass die Studiengebühren von niemandem gewollt, aber aus finanziellen Sachzwängen unumgänglich seien.

Der drohende Sozialabbau als Ausgangslage

Glaubt man den Verlautbarungen aus der Politik, befindet sich Deutschland in einer großen Krise. Die Zahl der Arbeitslosen sei so hoch wie lange nicht mehr und Gesundheitswesen und die Renten seien nicht mehr ohne grundlegende Kürzungen im Sozialbereich zu bezahlen. Mit der "Agenda 2010" soll "Deutschland wieder an die Spitze gebracht" werden. Neue Verantwortung wird beschworen, was nur eine euphemistische Bezeichnung dafür ist, dass die sozial Schwachen in Zukunft auf sich selbst angewiesen sein werden.2
Es verwundert nicht, dass in solchen Zeiten neue Angriffe auf ein gebührenfreies Studium gestartet werden. Angesichts leerer Haushaltskassen müsse auch von den Studierenden ein Beitrag erbracht werden. Massive Einschnitte drohen für viele bereits zum Sommersemester 2004. Dabei hat sich wieder einmal die gute alte "Salamitaktik" bewährt. Zunächst müssen vermeintlich "faule" Langzeitstudierende ab dem kommenden Sommersemester in Nordrhein-Westfalen und in anderen Bundesländern Studiengebühren in Höhe von 650 Euro bezahlen.3 In Zukunft - so die Forderung insbesondere der CDU/CSU-geführten Bundesländer - sollen jedoch alle Studierenden einen Semesterbeitrag von etwa 500 Euro erbringen. Konnte die Forderung nach der Einführung der Studiengebühren in der Vergangenheit durch offensive Proteste der Studierenden zurückgewiesen werden, deutet sich jetzt an, dass dies den heutigen Demonstrierenden nur schwer gelingen wird.

Die Reaktion der Studierenden

Wie schwierig sich die Studierenden im Umgang mit den neoliberalen Forderungen im Bildungssektor tun, zeigen viele ihrer Protestformen. Diese lassen oftmals jegliche politische Analyse vermissen. Unter dem Motto "Wir geben unser letztes Hemd" liefen Gruppen von Studierenden nackt über den Weihnachtsmarkt, um auf die prekäre Situation an der Uni aufmerksam zu machen, oder schwammen unter der Parole "Bildung geht Baden" bei eisigen Temperaturen in der Spree.
Die schleichende Entpolitisierung an den Universitäten spiegelt sich in den derzeitigen Studierendenprotesten wieder. So stellt auch Dieter Lenzen, Präsident der Freien Universität Berlin, fest: "Neu ist, dass die Proteste nicht mit einer grundsätzlichen Problematisierung der Gesellschaftsform verbunden sind. [...] Die Mehrheit dieser Studentengeneration möchte in dieser Gesellschaft eine Zukunft haben und eine verantwortliche Rolle spielen." Er resümiert: "Diese Zeit ist keine, in der Studenten an Utopien glauben."4

Ein neuer Sozialdarwinismus

Im bisherigen Diskurs hat man den Eindruck, als sei die Forderung nach der Einführung von Studiengebühren ausschließlich auf die öffentliche Haushaltslage zurückzuführen.5 Angesichts solcher vermeintlicher Sachzwänge verwundert es nicht, dass eine Vielzahl der Studierenden sich mit den Gebühren abfindet, wenn die fälligen Gelder wenigstens ihrer Universität und damit ihrer Karriere zu gute kommen.
Individuelle Lösungen werden gesucht, bei denen die Schwächeren auf der Strecke bleiben. Bildung und damit die Chance auf ein in materieller Hinsicht sorgenfreieres Leben drohen zunehmend stärker von sozialer Herkunft abhängig zu sein. Dies ist schon heute so: Soziale Auslese findet bereits an der Schule statt und lässt sich durch jüngste empirische Daten belegen. Beispielsweise haben es ausländische SchülerInnen, deren Eltern weiterhin aus den unteren sozialen Schichten kommen, deutlich schwerer, einen Schulabschluss zu erzielen. Laut einer Studie des Statistischen Bundesamtes verließen im Jahr 2002 20 % der ausländischen SchülerInnen die Schule ohne Abschluss (gegenüber 8 % der deutschen SchülerInnen).6
Und auch an der Universität sind sozial Schwächere sowie Studierende mit Sprachproblemen in einer schwierigeren Situation. Das Bafög, welches nur einem geringen Teil der Bedürftigen gewährt wird, reicht nicht aus und versiegt, wenn man das Studienfach wechselt. Diejenigen, die arbeiten müssen, die Prüfungen wegen Sprachproblemen oder Prüfungsstress nicht beim ersten mal schaffen, müssen notgedrungen länger studieren, was im Falle der Einführung von Studiengebühren zu einer höheren, wenn nicht gar zu hohen Belastung führt.
In zunehmendem Maße bestimmt also wieder die soziale Herkunft über Chance auf Bildung und damit über die Chance, nicht in Armut zu leben.

Selektive Kürzungen im Bildungsbereich

In der Tat steht in vielen Bereichen an den Universitäten heute deutlich weniger Geld zur Verfügung als noch vor einigen Jahren. Dies merkt man nicht zuletzt an der schlechteren Bücherausstattung der Universitätsbibliotheken. Studiengänge werden geschlossen oder in kostengünstigere Bachelor-Studiengänge umgewandelt. Dass dies aber nicht daran liegt, dass kein Geld da ist, sondern daran, dass das vorhandene Geld für andere Dinge ausgegeben wird, liegt auf der Hand. Beobachtet man die Rezeption der Studierendenproteste in den öffentlichen Medien, bekommt man den Eindruck, als seien die geplanten Studiengebühren ausschließlich aus Kostengründen gewünscht. Aussagen wie: "Wenn die Kürzungen im Bildungssektor so weiter gehen, erreichen wir in zehn Jahren das Bildungsniveau eines Dritte-Welt-Staates"7 sind überzogen und treffen nicht den Kern.
Es stimmt, in vielen Studiengängen fehlen erhebliche finanzielle Mittel. Ein erfolgreiches Studium ist in einigen Bereichen bereits heute gefährdet. Man hat jedoch den Eindruck, dass dies zum Teil bewusst geschieht. "Verwaltungsreformminister" Erwin Huber (CSU) forderte die Universitäten auf, die vorhandenen Gelder umzuschichten - "weg von den Orchideenfächern hin zu den großen Studiengängen".8 Es ist offensichtlich, dass mit "Orchideenfächern" Studiengänge gemeint sind, die keine wirtschaftlich verwertbaren AkademikerInnen hervorbringen. Einsparungen und Streichungen von Studienangeboten erfolgen höchst selektiv.

Ähnlich ging es schon immer bei der Förderung der Wissenschaft durch Drittmittel zu: Diese stehen überall dort großzügig zur Verfügung, wo sich die Industrie und andere Geldgeber ökonomisch verwertbares Wissen und Nachwuchs versprechen. Kritischer Output ist nicht gefragt und wird von vielen ProfessorInnen, die auch in Zukunft auf Drittmittel angewiesen sind, nicht hervorgebracht.
Und auch in Zukunft soll leistungsbereiten NachwuchswissenschaftlerInnen über vermehrte Stipendiatenmodelle ein Studium ermöglicht werden. Welche Bereiche förderungswürdiger erscheinen als andere, lässt sich leicht erahnen.
Diese Entwicklung - Förderung von leistungsbereiten Spitzenkräften auf der einen und massiver Sozialabbau im Bildungssektor auf der anderen Seite - wird sich in den nächsten Jahren weiter zuspitzen. Belegt wird diese Einschätzung durch die jüngst von Seiten der SPD entworfene Vision, "Elite-Universitäten" zu gründen, die sicher nicht der Ausbildung von SozialarbeiterInnen für Drogenberatungsstellen oder Mädchenhäuser gewidmet sein werden.

Sozialdisziplinierung durch Studiengebühren

Tatsächlich geht es bei den Studiengebühren und dem Abbau von Studiengängen nicht ausschließlich, ja vielleicht sogar nicht einmal in erster Linie um fehlende Mittel im Bildungssektor.
Vieles spricht dafür, dass mit den bereits eingeführten und drohenden Studiengebühren schlichtweg auch Sozialdisziplinierung betrieben werden soll. Dieser disziplinierende Effekt zeigt sich bereits bei den kommenden Studiengebühren für "Langzeitstudierende". Wer das Studium nicht ab dem Sommersemester 2004 an den Nagel hängen will bzw. muss, ist gezwungen, neben Job und sonstigen Verpflichtungen erheblich intensiver zu studieren, was bei vielen an die Grenzen der eigenen Belastbarkeit gehen wird.
Ähnliche Ziele werden mit den geplanten regulären Studiengebühren verfolgt. Diese Einschätzung teilt auch Thorsten Bultmann vom Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Bei der diskutierten Einführung der Studiengebühren stehe "primär die vermeintlich produktive bildungspolitische Lenkungswirkung im Vordergrund. [...] Studiengebühren sollen das persönliche Bildungsverhalten, angefangen bereits bei der Wahl der Fachrichtung, stärker auf künftige Verwertbarkeit ausrichten, da sie als ‚Preis' für Bildung - in der Sprache neoliberaler Bildungsökonomie: als individuelle Investition in das eigene Humankapital - eigene künftige Rendite abwerfen müssen, die nur die Form eines mit dem jeweiligen Bildungsabschluss zu erzielenden Markteinkommens haben kann."9

Diese Einschätzung Bultmanns wird durch jüngste Äußerungen des bayerischen Wissenschaftsministers Thomas Goppel (CSU) gestützt. Bei der Diskussion um die Einführung von Studiengebühren gehe es "nicht darum, das Problem zu lösen, wie man die Hochschulen finanziert, sondern darum, dass wir ein anderes Verhältnis an den Hochschulen schaffen."10 Die Universität soll nicht mehr Bildungs-, sondern Ausbildungsstätte für dem "Wirtschaftsstandort Deutschland" dienlichen Berufen sein. Was die Studierenden davon halten, ist den neoliberalen BildungsreformerInnen egal.

Offensive

Sollen die Proteste gegen die neoliberalen Bestrebungen im Bildungssektor auf die Dauer Gewinn bringend sein, muss stärker herausgestellt werden, dass die jetzigen Einschnitte in besonderem Maße das Ziel verfolgen, den Studierenden zu diktieren was und wie sie in Zukunft zu studieren haben. Gegen den neoliberalen Diskurs muss das Recht auf ein selbstbestimmtes Studium und auf ein Leben jenseits wirtschaftlicher Verwertungslogik wieder offensiv eingefordert werden. Wenn sich die Kritik an den geplanten und teils schon vollzogenen Umstrukturierungen im Bildungssektor auf die Frage der Gebührenfreiheit bzw. der zweckentsprechenden Verwendung erhobener Gebühren reduzieren lässt, wird es seitens der Politik ein Leichtes sein, dem Protest durch eine Umschichtung der Haushaltsmittel und den zweckgebunden Einsatz der Studiengebühren den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Tobias Mushoff promoviert in Bielefeld.

Anmerkungen

1 die tageszeitung v. 13.12.2003; vgl. Lenzen, Dieter, Präsident der FU Berlin, Frankfurter Rundschau (FR) v. 13.12.2003.
2 Broschüre der Bundesregierung "Agenda 2010 Deutschland bewegt sich" (November 2003); kritisch Dammann, Lena, Neue Vorschläge zur Umverteilung von Unten nach Oben, in: Forum Recht 4/2003, 112 ff.
3 Die Zeit v. 04.12.2003.
4 FR v. 13.12.2003.
5 Symptomatisch Wiarda, Jan-Martin: "In zehn Jahren Dritte Welt", Die Zeit v. 04.12.2003.
6 FR v. 30.12.2003.
7 So die Universitätsprofessorin Ursula Lehmkuhls (FU Berlin), Die Zeit v. 4.12.2003.
8 Vgl. Die Zeit v. 4.12.2003.
9 FR v. 13.12.2003.
10 FR v. 15.12.03.