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Mit seinem Urteil vom 3. März 2004 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG)
die "akustische Wohnraumüberwachung", besser als "Großer Lauschangriff"
bekannt, für teilweise verfassungswidrig erklärt.1 Durch die Entscheidung
des BVerfG wurde der Anwendungsbereich des großen Lauschangriffs beträchtlich
eingeschränkt. Das Abhören von Privatwohnungen zu Strafverfolgungszwecken
bleibt jedoch weiterhin möglich.
Sieg für die Bürgerrechte ?
Kaum eine Entscheidung des BVerfG hat derart konträre Reaktionen und
Interpretationen ausgelöst wie die jüngste Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit
des großen Lauschangriffs. Während einige BürgerrechtlerInnen die Entscheidung
als großen Sieg feierten, freute sich Bundesjustizministerin Zypries darüber,
dass der große Lauschangriff weiterhin verfassungsgemäß bleibt.2 Schon
an diesen unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten wird deutlich,
dass von einem großen Sieg der Bürgerrechte nicht die Rede sein kann.3
Einführung des Großen Lauschangriffs
Der große Lauschangriff wurde als Reaktion auf die angeblich gravierende
Bedrohung des Rechtsstaates durch die sog. Organisierte Kriminalität (OK)
durch das "Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung der Organisierte Kriminalität"
vom 4.5.1998 in § 100c Abs.1 Nr.3 StPO eingeführt.4 Vorausgegangen war
das "Gesetz zur Änderung des Art. 13 Grundgesetz (GG)".5
Die Unverletzlichkeit der Wohnung des Art. 13 Abs.1 GG wird seitdem durch
einen neu eingefügten Art. 13 Abs.3 GG begrenzt. Danach dürfen die Strafverfolgungsbehörden
beim Vorliegen eines durch bestimmte Tatsachen begründeten Verdachts,
dass jemand eine besonders schwere Straftat begangen hat, zur Verfolgung
der Tat aufgrund richterlicher Anordnung die Wohnung mit technischen Mitteln
abhören, wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise unverhältnismäßig
erschwert oder aussichtslos wäre.
BefürworterInnen des Lauschangriffs hielten dessen Einführung angesichts
der angeblich massiven Bedrohung durch die OK für unabdingbar.6 Gut sechs
Jahre später bleiben die Geeignetheit des Lauschangriffs, die "Bosse der
Unterwelt" zu fangen und die tatsächliche Bedrohung der Gesellschaft durch
die OK aber fraglich, wie auch das BVerfG einräumt, aber angesichts der
Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers dahingestellt lässt.7 Ein solches
Vorgehen ist jedoch bedenklich, da in einem Rechtsstaat der Staat die
Beweislast für die Notwendigkeit und das Funktionieren neuer Eingriffsinstrumente
trägt.
Das BVerfG hatte sich im Rahmen seiner Entscheidung mit der Verfassungsmäßigkeit
der grundgesetzlichen Ermächtigung sowie mit der einfachgesetzlichen Ausgestaltung
des großen Lauschangriffs in der Strafprozessordnung (StPO) zu befassen.
Dabei kommt es zu dem Ergebnis, dass die verfassungsrechtliche Ermächtigung
des Lauschangriffs in Art. 13 Abs. 3 GG mit der Verfassung zu vereinbaren
sei; die einfachgesetzlichen Ausgestaltungen in der StPO seien jedoch
teilweise verfassungswidrig.
Zur Verfassungsmäßigkeit des Art. 13 Abs. 3 GG
Das BVerfG betont erneut die grundlegende Bedeutung des Schutzes der
räumlichen Privatsphäre durch Art. 13 Abs. 1 GG. Dieses Grundrecht verbürge
dem Einzelnen das Recht, in seiner Wohnung in Ruhe gelassen zu werden.
Art.13 Abs. 1 GG enthält das grundsätzliche Verbot, gegen den Willen der
WohnungsinhaberInnen in die Wohnung einzudringen, darin zu verweilen,
sowie Abhörgeräte in der Wohnung zu installieren oder sie dort zu benutzen.8
Die durch Art. 13 Abs. 3 GG geschaffene Beschränkung des Schutzbereiches
sei durch Art. 79 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG begrenzt. Der Schutz
der Menschenwürde werde durch Art. 13 Abs. 1 GG konkretisiert. Die Privatwohnung
sei als "letztes Refugium" ein Mittel zur Wahrung der Menschenwürde.9
Laut dem BVerfG verletzt der große Lauschangriff nicht generell den Menschenwürdegehalt
von Art. 13 Abs. 1 GG und des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung
aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG.10 Zwar dürfe auch ein Straftäter
nicht zum bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung gemacht werden, dies
sei jedoch im Falle des heimlichen Abhörens der Wohnung zu Strafverfolgungszwecken
nicht der Fall, wenn die Strafverfolgungsorgane den "unantastbaren Kernbereich
privater Lebensgestaltung" wahrten.
Erfreulich deutlich stellt das BVerfG jedoch heraus, dass in den absolut
geschützten Kernbereich nicht eingegriffen werde dürfe. "Selbst überwiegende
Interessen der Allgemeinheit können einen Eingriff in diesen absolut geschützten
Kernbereich privater Lebensgestaltung nicht rechtfertigen." "Die akustische
Wohnraumüberwachung zu Strafverfolgungszwecken verstößt dann gegen die
Menschenwürde, wenn der Kernbereich privater Lebensgestaltung nicht respektiert
wird."11 Um dies zu beurteilen, muss nach Auffassung des Gerichts im Einzelfall
festgestellt werden, ob ein Sachverhalt höchstpersönlichen Charakter hat.
Dies sei etwa bei Äußerungen innerster Gefühle oder bei Ausdrucksformen
von Sexualität der Fall.12
Außerhalb des Kernbereichs sei das Lauschen grundsätzlich unter Berücksichtigung
des Verhältnismäßigkeitsprinzips zulässig. Diesen Anforderungen werde
Art.13 Abs. 3 GG gerecht. Art.13 Abs. 3 GG sei dahingehend auszulegen,
dass seine gesetzliche Ausgestaltung die Erhebung von Informationen durch
die akustische Überwachung der Wohnung dort ausschließen müsse, wo die
Ermittlungsmaßnahme in den durch Art. 13 Abs. 1 in Verbindung mit Art.
1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG geschützten unantastbaren Bereich privater
Lebensgestaltung vordringen würde.13
Unzulässige akustische Überwachung
Aus diesen Grundsätzen ergeben sich laut dem BVerfG folgende Vorgaben
für einen verfassungsgemäßen großen Lauschangriff: Die Überwachung habe
in Situationen von vornherein zu unterbleiben, in denen Anhaltspunkte
bestehen, dass die Menschenwürde durch die Maßnahme verletzt wird.14 Dies
sei der Fall, wenn sich jemand allein oder ausschließlich mit Personen
in der Wohnung aufhalte, zu denen er in einem besonderen, den Kernbereich
betreffenden Vertrauensverhältnis stehe und es keine konkreten Anhaltspunkte
gebe, dass die zu erwartenden Gespräche nach ihrem Inhalte einen unmittelbaren
Bezug zu Straftaten aufweisen. Für die Einordnung eines Gesprächs sei
dessen Inhalt maßgeblich. Freilich muss auch das BVerfG einräumen, dass
zur Zuordnung eines Gesprächs zunächst eine Erhebung von Informationen
erforderlich ist. Um nicht pauschal immer in den Kernbereich der Privatsphäre
eindringen zu müssen, sollen die Strafverfolgungsbehörden vor Beginn der
Maßnahme eine Prognose vornehmen, bei welcher Indikatoren (z.B. die Art
der Räumlichkeit und die Frage, wer sich dort aufhält) für kernbereichsrelevante
Handlungen in der zu überwachenden Wohnung zu beachten seien. Dies sei
auch praktisch möglich.15
Führe die Überwachung unerwartet zur Erhebung absolut geschützter Informationen,
müsse sie abgebrochen und die Aufzeichnungen gelöscht werden. Bemerkenswert
ist die Betonung, dass jede Verwendung solcher im Rahmen der Strafverfolgung
erhobener absolut geschützter Daten ausgeschlossen sei.16 Damit scheint
das BVerfG sich auch gegen die mittelbare Verwertung verfassungswidrig
gewonnener Informationen im Strafverfahren auszusprechen, somit also die
aus dem amerikanischen Recht stammende sog. fruit of the poisonous tree
doctrine zu vertreten.17
Zur Verfassungsmäßigkeit der StPO
Die einfachgesetzlichen Vorschriften der StPO wurden vom BVerfG hingegen
für z.T. verfassungswidrig erklärt. Die folgenden Ausführungen müssen
sich auf die grundsätzliche Frage der Zulässigkeit des Eingriffs in die
Unverletzlichkeit der Wohnung beschränken.18 Aus Art. 13 GG folge, dass
die Eingriffsbefugnisse der StPO hinreichende Vorkehrungen dafür treffen
müssten, dass Eingriffe in den absolut geschützten Kernbereich privater
Lebensgestaltung unterbleiben.19 Die gesetzlichen Vorschriften der StPO
trügen dem jedoch nur unzureichend Rechnung. Nach geltendem Recht sei
ein Überwachungsverbot die Ausnahme. Der Gesetzgeber habe ferner nicht
hinreichend geregelt, dass eine Verwertung von Daten ausgeschlossen ist,
wenn Erkenntnisse unter Verletzung des Kernbereichs privater Lebensgestaltung
gewonnen wurden und dass diese Daten gelöscht werden müssen.20
Soweit der Lauschangriff nicht den absolut geschützten Kernbereich erfasse,
müsse der Verhältnismäßigkeit Rechnung getragen werden, was bei den einfachgesetzlichen
Regelungen der StPO nicht der Fall sei.21 Das BVerfG hat den Katalog der
Straftaten in § 100c Abs. 1 Nr. 3 StPO, in welchen der Lauschangriff weiterhin
zulässig sein soll, erheblich eingeschränkt. Dies überrascht nicht, da
die strafprozessualen Vorschriften die verfassungsrechtlichen Anforderungen
des Art. 13 Abs. 3 GG zum Lauschen deutlich unterschritten.22 Der geänderte
Art. 13 Abs. 3 GG verlangt für die Zulässigkeit des großen Lauschangriffs
nämlich den Verdacht "besonders schwerer Straftaten". Besonders schwere
Straftaten im Sinne des Art. 13 Abs. 3 GG sind solche, die den Bereich
der mittleren Kriminalität deutlich überschreiten.23 Diese Anforderungen
des geänderten Art. 13 Abs. 3 GG hat der einfache Gesetzgeber mit dem
weiten Straftatenkatalog des § 100c Abs. 1 Nr. 3 StPO - wie auch das BVerfG
feststellte - weit überschritten. Durch die Entscheidung des BVerfG wird
dieser offensichtliche Verfassungsverstoß jetzt gestoppt. Eine besonders
schwere Straftat ist laut BVerfG nur anzunehmen, wenn der Gesetzgeber
für den Straftatbestand eine Höchststrafe von mehr als fünf Jahren Freiheitsstrafe
vorsieht.24 Der große Lauschangriff ist deshalb etwa im Bereich der Geldwäsche
(§ 261 Strafgesetzbuch [StGB]), Bestechung (§ 334 StGB) oder Bestechlichkeit
(§ 332 StGB) unzulässig. Bei anderen Eigentums- und Vermögensdelikten,
z.B. beim Bandendiebstahl (§ 244 StGB) bleibt der Lauschangriff aber erlaubt.
Durch die Entscheidung des BVerfG wird deutlich, dass der Gesetzgeber
im "Kampf" gegen die OK jegliches Augenmaß verlor. Bis zum 30. Juni 2005
müssen die Auflagen umgesetzt werden, mit denen das BVerfG das Abhören
von Wohnungen eingeschränkt hat.
Grundsätzliche Bedenken gegen den Lauschangriff
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das BVerfG das Abhören von
Wohnungen erfreulich eingeschränkt hat. Gute Gründe hätten jedoch dafür
gesprochen, den großen Lauschangriff überhaupt für verfassungswidrig zu
erklären.25
Der große Lauschangriff ist der schwerste Informationserhebungseingriff
der Strafverfolgungsbehörden in die Persönlichkeitssphäre der BürgerInnen.26
Während die BürgerInnen im Falle der Telefonüberwachung oder bei der Kontrolle
des Briefverkehrs nicht absolut sicher sein können, dass auf der EmpfängerInnenseite
eine weitere Person mithört bzw. -liest, vertrauen diese grundsätzlich
darauf, dass das in der eigenen Wohnung oder anderen Räumen gesprochene
Wort nicht nach außen dringt. Wer sicher sein will, dass intime Gefühlsregungen
und -äußerungen nicht an Dritte gelangen, wird seine/ihre Mitteilungen
nicht über diese Medien vornehmen, sondern sich privat in der Wohnung
treffen. Im Falle der Überwachung der Wohnung durch den großen Lauschangriff
wird den BürgerInnen diese letzte Rückzugsmöglichkeit genommen.27 Der
große Lauschangriff bedeutet daher das "Ende der Privatsphäre".28
Durch den Lauschangriff wird der/die einzelne zur Waffe gegen sich selbst
gemacht. Weil der Lauschangriff ohne den Willen der Betroffenen erfolgt,
wird der rechtsstaatliche und nach der Rechtsprechung des BVerfG mit Verfassungsrang
ausgestattete Grundsatz, sich im Strafprozess nicht selbst belasten zu
müssen ("nemo tenetur se ipsum acusare") ausgehebelt.29
Der Lauschangriff droht darüber hinaus zu einer Störung der Kommunikation
zwischen den BürgerInnen zu führen. Wer nicht einmal in den eigenen vier
Wänden sicher sein kann, vom Staat belauscht zu werden, wird u.U. intime
Probleme nicht mehr mit anderen besprechen, sondern schweigen.30 Diese
einschüchternde Wirkung wird auch vom BVerfG eingeräumt.31
Die Bundesverfassungsrichterinnen Jaeger und Hohmann-Dennhardt halten
Art. 13 Abs. 3 GG bereits für verfassungswidrig. In ihrem Sondervotum
weisen sie zu Recht darauf hin, dass die von der Senatsmehrheit vertretene
verfassungsgemäße Anwendung des großen Lauschangriffs mit praktisch unüberwindbaren
Hindernissen verbunden ist. Wer nämlich außerhalb einer Privatwohnung
feststellen will, ob das Abhören einer Situation zulässig ist oder den
unantastbaren Kernbereich der räumlichen Privatsphäre verletzt, muss zwangsläufig
in die Unverletzlichkeit der Wohnung eingreifen und kann dann u.U. auch
den absoluten geschützten Kernbereich verletzen, der durch Art. 79 Abs.
3 GG unantastbar geschützt werden soll.32
Praktische Bedenken ergeben sich auch gegen Umsetzbarkeit der vom BVerfG
postulierten Unverwertbarkeit mittelbar gewonnener Beweise. Im Nachhinein
lässt sich nämlich in der Praxis oftmals schwer nachvollziehen, wo ein
gewonnener Beweis herrührt. Es ist daher zu befürchten, dass die in der
Theorie richtigen Einschränkungen der mittelbaren Beweisverwertung in
der Rechtswirklichkeit nicht viel wert sind.
Auch die Auflage des BVerfG, das Abhören müsse sofort gestoppt werden,
wenn sich ein/e Beschuldigte/r in der eigenen Wohnung mit seinen/ihren
Familienangehörigen und Vertrauten unterhält, dürfte kaum umzusetzen sein
und mutet eine wenig realitätsfern an, wie auch Holger Bernsee, stellvertretender
Vorsitzender des Bundesverbandes der Kriminalbeamten kritisiert: "Wie
das gehen soll, dazu fällt mir nichts mehr ein." Und fragt: "Sollen wir
dann den Stecker rausziehen, wenn die Frau ins Zimmer kommt?"33
Wenn das BVerfG hervorhebt, ein Abhören der Wohnung habe sich auf Gesprächssituationen
zu beschränken, die mit Wahrscheinlichkeit strafverfahrensrelavante Inhalte
umfassen34, stellt sich die Frage, wie eine solche Beschränkung des Abhörens
in der Praxis aussehen soll. Es ist beim Beginn des Lauschens nämlich
nicht erkennbar, wann ein Gespräch beginnen wird, bei dem strafverfahrensrelavante
Informationen bekannt werden. Will die Polizei solche Informationen gewinnen,
muss sie doch vielmehr die ganze Zeit "online" sein, um dann die für ein
Strafverfahren interessanten Gespräche mitschneiden zu können.
Es ist daher zu befürchten, dass die Entscheidung des BVerfG - wenn man
von der Reduktion des Straftatenkatalogs einmal absieht - zu keiner gravierenden
Änderung der Abhörpraxis führen wird. Darüber hinaus muss betont werden,
dass das Abhören von Wohnungen zum Zwecke der Gefahrenabwehr auch bereits
vor der Einführung des Lauschangriffs nach den Polizeigesetzen der Länder
möglich war.35 Es ging bei der Entscheidung des BVerfG lediglich um die
Zulässigkeit des Lauschens zur Strafverfolgung. Der Eingriff in die räumliche
Privatsphäre ist jedoch ein zu hoher Preis für eine effektive Strafverfolgung.36
Lauschangriff gegen Unschuldige
Der große Lauschangriff ist - dies soll hier noch einmal hervorgehoben
werden - eine Eingriffsmaßnahme im strafprozessualen Ermittlungsverfahren.
Im Ermittlungsverfahren soll geklärt werden, ob eine Person einer Straftat
hinreichend verdächtig ist. Zu diesem Zeitpunkt weiß die Strafverfolgungsbehörde
also noch nicht, ob die ins Visier genommene Person eine Straftat tatsächlich
begangen hat.37 Der große Lauschangriff richtet somit, was von PolitikerInnen-Seite
oftmals im Eifer des Gefechts vergessen bzw. verschwiegen wird, nicht
gegen "Kriminelle", "Terroristen" usw., sondern gegen MitbürgerInnen,
die nach dem "in dubio pro reo"-Grundsatz für unschuldig zu gelten haben.38
Der große Lauschangriff setzt lediglich einen Anfangsverdacht voraus.39
Daraus ergibt sich aber für die staatlichen Strafverfolgungsbehörden die
Pflicht, mit Bedacht vorzugehen. Ein Eingriff in die Unverletzlichkeit
der Wohnung durch den Großen Lauschangriff bei Personen, die einer Tatbegehung
lediglich verdächtig sind, sollte deshalb unterbleiben.40
Die Strafprozessordnung eines rechtsstaatlichen Strafrechts unterscheidet
zwischen den Eingriffsbefugnissen gegen Verdächtige und Dritte. Diese
Grundunterscheidung ist auch in der StPO vorgesehen. Nur ausnahmsweise
dürfen nicht verdächtige Personen einbezogen werden. Durch neue Ermittlungsmethoden
wird zunehmend von Unbeteiligten verlangt, strafprozessuale Eingriffe
zu dulden.41 Nach den Angaben der Bundesregierung beträgt der Anteil der
Nichtbeschuldigten an den vom Lauschangriff Betroffenen fast 50 %. In
diesen Angaben sind jedoch lediglich WohnungsinhaberInnen enthalten. Es
ist daher mit einer vielfach höheren Zahl von zufällig sich in den Wohnungen
aufhaltenden Personen - etwa FreundInnen und Bekannte - zu rechnen.42
Gegen einen Großteil der vom Lauschangriff Betroffenen besteht somit nicht
einmal ein Anfangsverdacht - ein unhaltbarer, aber bei Beibehaltung des
Lauschangriffs kaum änderbarer Umstand. Das BVerfG hält dies noch für
vertretbar, wenn das Abhören sich auf Gespräche beschränkt, an denen der
Beschuldigte beteiligt sei und aus denen wahrscheinlich verfahrensrelevante
Informationen zu gewinnen seien.43
Zusammenfassend lässt sich damit festhalten, dass der Lauschangriff weder
ein geeignetes noch ein normativ haltbares Mittel zur Strafverfolgung
ist und deshalb abgeschafft werden sollte.
Die Absurdität des Sicherheitsdiskurses
In den letzten Jahren wurde die strafprozessualen und polizeirechtlichen
Eingriffsbefugnisse immer stärker ausgebaut: Rasterfahndung, "IMSI-Catcher",
Telefon- und Videoüberwachung, Aufweichung des Trennungsgebotes von Polizei-
und Gehmeindiensten - der große Lauschangriff ist lediglich einer kleiner
Teil einer ganzen Palette von massiven Eingriffsbefugnissen in die Informationsfreiheit
der BürgerInnen.44 Eines scheinen die BefürworterInnen der "Inneren Sicherheit"
jedoch beim Schutz von Freiheit und Rechtsstaat zu übersehen: Dass sie
auf dem besten Weg sind, unsere Freiheit "zu Tode zu schützen".45 "Es
ist ein Widerspruch in sich selbst, wenn man zum Schutz der Verfassung
unveräußerliche Grundsätze der Verfassung preisgibt."46 Kritische BeobachterInnen
dieser Entwicklung sprechen bereits von der "vergessenen Freiheit"47 und
warnen vor der "Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts".48
Deutschland drohe in eine "totalitäre Gesellschaft" abzugleiten.49
Der Marburger Staatsrechtler Wolfgang Abendroth wies bereits Anfang der
1980er Jahre auf die Bedrohung der Verfassung durch den Ausbau des Sicherheitsstaates
hin. Auf die sich selbst gestellte Frage: "Wer schützt die Verfassung
?" antwortete er: "Staatliche Institutionen können es nur in seltenen
Fällen. Meist werden die Hilfsmittel der Staatsgewalt, die sich selbst
für die Verfassungsschutzorgane halten, umgekehrt zu potentiellen Quellen
der Gefährdung des Verfassungsrechts, besonders dann, wenn sie dieses
Problem nicht erkennen und auch also nicht erwägen." Und folgert: "Sie
bedürfen der ständigen demokratischen Kontrolle."50 Auch heute ist es
weiterhin die vornehmste Aufgabe kritischer BürgerrechtlerInnen und JuristInnen,
dem starken Staat auf die Finger zu schauen; für den großen Lauschangriff
heißt dies konkret, die Abschaffung dieses freiheitsgefährdenden Rechtsinstitutes
einzufordern.
Tobias Mushoff lebt in Bielefeld und freut sich über Diskussion
und Anregungen.
Anmerkungen
1 Zitiert nach: http://www.BVerfG.de. Hierzu bereits: Lieber, Tobias,
Forum Recht (FoR) 2004, 68.
2 Pressmitteilung des Bundesjustizministeriums v. 3.3.2004.
3 So auch Tolmein, Oliver: Hört uns jemand ?, Jungle World 10.3.04.
4 Bundesgesetzblatt (BGBl.) 1998 I, 845.
5 BGBl. 1998 I, 610.
6 Krit. zum Phänomen OK: Albrecht, Peter-Alexis: Kriminologie (2002),
377 ff; Luczak, Anna: Mafiakraken, FoR 2002, 44 ff.
7 BVerfG, a.a.O., Absatz Nr. (Abs.Nr.) 212 f und 209 ff.
8 BVerfG, a.a.O., Abs.Nr. 104.
9 BVerfG, a.a.O., Abs.Nr. 120.
10 BVerfG, a.a.O., Abs.Nr. 114.
11 BVerfG, a.a.O., Abs.Nr. 118, 122.
12 BVerfG, a.a.O., Abs.Nr. 123.
13 BVerfG, a.a.O., Abs.Nr. 134.
14 BVerfG, a.a.O., Abs.Nr. 135.
15 BVerfG, a.a.O., Abs.Nr. 139 f.
16 BVerfG, a.a.O., Abs.Nr. 135.
17 Vgl. Beulke, Werner: Strafprozessrecht (2001), Rn. 482.
18 Zu sonstigen Fragen: Stellungnahme des Unabhängigen Landeszentrum für
Datenschutz Schleswig-Holstein, http://www.datenschutzzentrum.de.
19 BVerfG, a.a.O., Abs.Nr. 169.
20 BVerfG, a.a.O., Abs.Nr. 180.
21 BVerfG, a.a.O., Abs.Nr. 197.
22 Vgl. Hirsch, a.a.O.; Karlsruher Kommentar zur StPO/Nack, Armin (2003),
§ 100c Rn.42.
23 Dittrich, Joachim: Der "Große Lauschangriff" - diesseits und jenseits
der Verfassung, Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ) 1998, 336
(337); so jetzt auch BVerfG, a.a.O., Abs.Nr. 229.
24 BVerfG, a.a.O., Abs.Nr. 238, 241.
25 Grundsätzlich gegen den Lauschangriff: Bäumler, Helmut, "tagesschau"
vom 3.3.2004; Hirsch, Burkhard: Über Wanzen - Bemerkungen zum "großen
Lauschangriff", in: Humanistische Union (Hrsg.), Innere Sicherheit als
Gefahr (2003), 195 ff; Leutheusser-Schnarrenberger, a.a.O., 87 ff; Mozek,
Martin: Der "große Lauschangriff (2001), 197; Roggan, Fredrik: Auf legalem
Weg in einen Polizeistaat, 103 f.; Roxin, Claus, Hat das Strafrecht eine
Zukunft ?, GS für Zipf (1999), 135 (139).
26 Hirsch, a.a.O., 196; Leutheusser-Schnarrenberger, a.a.O., 88; Roggan,
a.a.O., 100.
27 Leutheusser-Schnarrenberger, a.a.O., 88; Mozek, a.a.O., 203.
28 So: Bechthold, Ilse, Der Große Lauschangriff: Ende der Privatsphäre,
in: Müller-Heidelberg u.a. (Hrsg.): Grundrechtereport 1998, 153.
29 Gössner, Rolf: Big Brother & Co (2000), 61; Mozek, a.a.O., 127 ff (131).
30 Leutheusser-Schnarrenberger a.a.O., 91.
31 BVerfG, a.a.O., Abs.Nr. 258.
32 BVerfG Sondervotum, a.a.O., Abs.Nr. 358.
33 Frankfurter Rundschau (FR) v. 5.3.04.
34 BVerfG, a.a.O., Abs-Nr. 149.
35 Zu den Landesgesetzen: Mozek, a.a.O., 10 ff.
36 Roxin, a.a.O., 139.
37 Hierzu Murmann, Uwe, Über den Zweck des Strafprozesses, Goldtammer´s
Archiv 2004, 65 (73 ff.).
38 Leutheusser-Schnarrenberger, a.a.O., 91.
39 Unbedenklich laut: BVerfG, a.a.O. Abs.Nr. 245; kritisch: Hirsch a.a.O.,
199; Mozek a.a.O., 205.
40 So auch: Frankfurter Arbeitskreis Strafrecht, Der Strafverteidiger
(StV)1994, 693 (694).
41 Frankfurter Arbeitskreis, StV 1994, 693 (694).
42 BVerfG, a.a.O., Abs.Nr. 256.
43 BVerfG, a.a.O., Abs.Nr. 261, 265.
44 Hierzu Gössner, ebd.; Prantl, Heribert: Verdächtig (2002).
45 Albrecht, Peter-Alexis, Freiheit - zu Tode geschützt, in: Humanistische
Union a.a.O., 48 ff.
46 BVerfGE 30, 33 (46) Minderheitsvotum.
47 Albrecht, Peter-Alexis, Die vergessene Freiheit (2003). 48 Naucke,
Wolfgang, Die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts, Kritische
Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 1990,
244 ff.
49 Simitis, Spiros, FR v. 26.3.04.
50 Abendroth, Wolfgang: Wer schützt die Verfassung ?, in: Kutscha, Martin/Paech,
Norman (Hrsg.): Im Staat der "Inneren Sicherheit" (1981), 167 (172).
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