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Für die Verbrechen, die deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg in Jugoslawien
verübten, wurden die EinwohnerInnen der serbischen Kleinstadt Varvarin
noch entschädigt. Zu den Reparationsleistungen zählte eine 1924 in Deutschland
gefertigte Brücke, die dort nach dem Krieg demontiert und in Varvarin
als Zugangsweg über den Fluss Marava wieder errichtet wurde. Heute fordern
die VarvarinerInnen wieder Entschädigung. Denn die Brücke steht nicht
mehr. Mit ihrer Zerstörung wurden zehn Menschen getötet und 30 verletzt.
Das Unheil kündigte sich an, als zum Mittag des 30. Mai 1999 ein kleines
Geschwader von F-16-Kampfjets über dem Himmel von Varvarin aufzog. In
Jugoslawien herrschte erneut Krieg. Die NATO hatte das Land - wie es hieß
- zur Verhinderung einer humanitären Katastrophe angegriffen.
Kriegslügen
In der Region Kosovo bekämpfte die jugoslawische Armee seinerzeit die
albanische Separationsbewegung UCK. Angeleitet durch das "Media Operation
Center" der NATO berichteten die Staaten der Militärallianz von einem
"ethnisch begründeten Völkermord", den die SerbInnen an AlbanerInnen verübten.
Ausgehend von der Behauptung, das Sportstadion von Priština diene als
serbisches Konzentrationslager, bemühten deutsche PolitikerInnen Vergleiche
mit den Untaten ihrer nationalsozialistischen VorgängerInnen. Verteidigungsminister
Scharping erfand mit dem berüchtigten "Hufeisenplan" nicht nur den vermeintlichen
Beweis für einen systematischen Genozid im Kosovo, sondern erdichtete
auch Gräuelmärchen von serbischen Soldateska, die mit abgeschnittenen
Köpfen Fußball spielten. In Verbindung mit einer willfährigen Presse fand
sich die Öffentlichkeit schnell bereit, den Vorgaben des Außenministers
Fischer zu folgen, wonach ein weiteres "Auschwitz" zu verhindern sei.
Nachdem Berichte über ein angebliches Massaker in Racak kolportiert wurden
- die sich nach der Untersuchung einer finnischen Kommission später völlig
anders darstellten - forderte die NATO die Belgrader Regierung ultimativ
auf, den Vorgaben von Rambouillet nachzukommen. Mit dem so genannten Annex
B sollte das entsprechende Abkommen die Bundesrepublik Jugoslawien zwingen,
den NATO-Truppen unbeschränkten Zugang in ihr gesamtes Staatsgebiet zu
ermöglichen und damit ihre staatliche Souveränität aufzugeben. Als sich
die jugoslawischen RegierungsvertreterInnen weigerten, ein derartiges
Besatzungsstatut, über dessen Inhalt die europäische Öffentlichkeit erst
Wochen später informiert wurde, zu unterzeichnen, fiel in den Mitgliedsstaaten
der NATO die Entscheidung zur "Operation Allied Force", der Entschluss
zum Bombenkrieg.1
Angriffskrieg
Am 8. Oktober 1998 fasste der NATO-Rat den Beschluss, mit Luftoperationen
gegen die Bundesrepublik Jugoslawien vorzugehen. An der gemeinsam gebildeten
Eingreiftruppe sollten sich auch deutsche Streitkräfte beteiligen. Der
Deutsche Bundestag segnete das Vorhaben am 16. Oktober 1998 ab und stimmte
in der Folge auch am Vorabend des Krieges am 25. Februar 1999 "dem von
der Bundesregierung am 22. Februar 1999 beschlossenen Beitrag zur militärischen
Umsetzung eines Rambouillet-Abkommens für den Kosovo sowie zu NATO-Operationen"
zu.
Die Beschlüsse entbehrten jeder völker- wie verfassungsrechtlichen Grundlage:
Die Vereinten Nationen (UN) haben sich 1945 nach den verhängnisvollen
Erfahrungen der beiden Weltkriege auf ein System der kollektiven Friedenssicherung
geeinigt, das zwischenstaatliche Konfliktsituationen durch friedliche
Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts bereinigen
und beilegen sollte. Dieses Ziel konkretisierten sie mit dem absoluten
Gewaltverbot in Artikel 2 Ziffer 4 ihrer Charta, das sowohl Aggressionshandlungen
als auch Verletzungen der territorialen Unversehrtheit oder der politischen
Unabhängigkeit eines Staates untersagt. Nach der Charta ist den Staaten
die Wahl kriegerischer Mittel nur zur unmittelbaren Selbstverteidigung
erlaubt oder wenn der UN-Sicherheitsrat sie zum Einsatz militärischer
Sanktionsmaßnahmen ermächtigt.2
Humanitäre Intervention
Die NATO hatte vor Beginn der "Operation Allied Force" den UN-Sicherheitsrat
weder um ein entsprechendes Mandat ersucht noch vorab informiert. Statt
dessen versuchte die Allianz, ihr Vorgehen mit einem aus Art. 51 UN-Charta
abgeleiteten Nothilferecht zu begründen. Mit Verweis auf die als katastrophal
bezeichnete Lage der Menschenrechte sei sie zur so genannten "humanitären
Intervention" auf jugoslawischem Staatsgebiet berechtigt.
Abgesehen davon, dass mit der wahrheitswidrigen Darstellung der Situation
im Kosovo die Voraussetzungen für eine derartige Intervention offensichtlich
eher konstruiert als nachgewiesen werden sollten, kann bis heute von einem
derartigen Recht im internationalen Staatengefüge nicht gesprochen
werden. Um das Instrument der "humanitären Intervention"
mit Völkergewohnheitsrecht zu legitimieren, fehlte es schlicht an
einer allgemeinen Rechtsüberzeugung und einer einheitlichen Staatenpraxis.
1986 hatte der Internationale Gerichtshof (IGH) den USA die Legitimität
einer solchen Maßnahme gegen Nicaragua abgesprochen, zu einer ähnlichen
Überzeugung gelangten im Übrigen auch regelmäßig
die Mehrheiten der UN-Generalversammlung bei Abstimmungen über einschlägige
Resolutionen. Dies änderte sich auch nicht mit der Intervention in
Jugoslawien, an der Staaten wie Russland, Indien, China und Südafrika
harsche Kritik übten.
Dem entsprechend setzten sich auch die Bundesregierung und der Deutsche
Bundestag über zwingendes Völkerrecht hinweg. Noch 1994 betonte
das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zu den "out-of-area"-Einsätzen
der Bundeswehr, dass diese gemäß Art. 24 Abs. 2 des Grundgesetzes
(GG) nur im "Rahmen und nach den Regeln" eines Systems kollektiver
Sicherheit - wie es die UN-Charta darstellt - stattfinden darf. Es wird
den Opfern deutscher Kriege wie Hohn klingen und den Warnungen vor neuem
Großmachtstreben Bestätigung geben, wenn man angesichts dieses
Parlamentsbeschlusses in Art. 2 S. 3 des Zwei-Plus-Vier-Vertrages liest:
"[...], dass das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals
einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung
und der Charta der Vereinten Nationen."3
Bombenkrieg
Am 23. März 1999 gab der Generalsekretär der NATO Solana dem Oberkommandierenden
General Clark den völkerrechtswidrigen Befehl zum Bombenkrieg gegen die
Bundesrepublik Jugoslawien. Am darauffolgenden Morgen begann das 78 Tage
andauernde Bombardement. An einem der letzten Tage der Luftoperationen,
dem 30. Mai, suchte der Krieg die serbische Kleinstadt Varvarin heim.
Die 4000-Seelen-Gemeinde beging das orthodoxe Fest der heiligen Dreifaltigkeit
und wie jeden Sonntag fanden sich zahlreiche Menschen beim Wochenmarkt
ein. So zählte der Stadtkern um die Kirche und den Marktplatz an jenem
Tag mit bis zu 3.500 Gästen besonders viele BesucherInnen, von denen viele
aus den umliegenden Dörfern angereist waren.
Varvarin findet sich auf der Landkarte des Bundeslandes Serbien 180 Kilometer
südöstlich von Belgrad, der Kosovo ist 200 Kilometer entfernt. In der
Region haben sich keine nennenswerten Industriebetriebe angesiedelt, die
Bevölkerung lebt im wesentlichen von der Landwirtschaft. In Varvarin befand
sich seinerzeit kein Militär, lediglich drei Gendarmen ordneten das zivile
Leben. In den Ort führen weder Eisenbahn noch Fernstraßen. Und auch die
alte Brücke aus Deutschland hatte mit ihren gerade einmal viereinhalb
Metern in der Breite und der maximalen Belastbarkeit von zwölf Tonnen
keinerlei Nutzen für schweres Kampfgerät. Das Provinznest galt als so
friedlich, dass mehrere Familien aus den umliegenden Städten hier Zuflucht
suchten. Was hatte Varvarin also von den zur Mittagszeit herannahenden
Fliegern zu befürchten?
Die KampfpilotInnen der NATO feuerten um 13 Uhr mehrere Raketen auf die
Brücke. Als schockierte EinwohnerInnen den ersten Opfern zu Hilfe eilten,
flogen die Bomber 25 Minuten später die zweite Angriffswelle auf das bereits
völlig zerstörte Bauwerk. Das Bombardement kostete zehn Menschen das Leben,
30 weitere wurden verletzt, 17 von ihnen schwer. Das Hauptquartier des
westlichen Militärbündnisses erklärte kurze Zeit später, NATO-Flugzeuge
hätten einen koordinierten Angriff gegen die "Autobahnbrücke" von Varvarin
geflogen, eine "Hauptkommunikationslinie und ein vorgesehenes, legitimes
militärisches Ziel".4
Kriegsregeln
Eine Lesart, die sich mit den seit Beginn des letzten Jahrhunderts geltenden
Regeln des internationalen Kriegsrechts nicht in Übereinstimmung bringen
lässt. Bereits nach der Haager Landkriegsordnung von 1907 und der IV.
Genfer Konvention von 1949 gelten Angriffe auf zivile Ziele in bewaffneten
Konflikten als schwere Verstöße gegen humanitäres Völkerrecht. Das Erste
Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen konkretisierte 1977 in seinem vierten
Teil mit einer Reihe von Tatbeständen den Schutz der Zivilbevölkerung.
Das Protokoll stellt in der Grundregel des Artikels 48 unmissverständlich
klar, dass sich Kriegshandlungen ausschließlich gegen militärische Ziele
richten dürfen. Es schließt dabei Angriffe gegen unverteidigte Orte ein
und formuliert ein ausdrückliches Verbot von zielgerichteten Aggressionshandlungen
gegen Zivilpersonen, insbesondere wenn sie Schrecken unter der Zivilbevölkerung
verbreiten sollen, sich nicht gegen ein bestimmtes militärisches Ziel
richten und sich in der Weise als unterschiedslos erweisen, als sie in
keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen
Vorteil stehen. Zudem hält das Zusatzprotokoll die Kriegsparteien an,
die Zivilbevölkerung vor entsprechenden Angriffen zu warnen und schon
in der Planung der Angriffe sicherzustellen, dass es sich bei den Zielen
um militärische Objekte handelt und dass es nicht zu unverhältnismäßigen
Opfern unter der Bevölkerung kommen wird.5
Kriegsverbrechen
Der Kampfverband der NATO schenkte diesen Kriegsregeln offensichtlich
keinerlei Beachtung. Dem Planungsstab für derartige Einsätze im Combined
Allied Operations Command musste die militärische Bedeutungslosigkeit
des entlegenen serbischen Ortes, der weder Streitkräfte beherbergte noch
eine geeignete Nachschublinie bieten konnte, deutlich ins Auge gesprungen
sein. Stattdessen wurde Befehl zum Angriff auf die Brücke gegeben - ausgerechnet
für den hohen Pfingstfeiertag. Die BomberpilotInnen hatten an jenem sonnigen
Tag uneingeschränkte Sicht auf das flach bebaute Städtchen. Die Menschentrauben,
die sich anlässlich des Festes und Markttages in der Stadtmitte bildeten,
konnten ihnen kaum entgangen sein - zumindest nicht nach der ersten Attacke.
Gleichwohl unterließen sie jegliche Warnung und flogen einen zweiten Angriff
auf die schon zerbombte Brücke, der die Hilfe Leistenden völlig unerwartet
treffen musste und in der Folge auch die meisten Opfer verschuldete.
Bis heute ist nicht geklärt, aus welchen Gründen die Varvariner Brücke
als Ziel der Bombenangriffe ausgewählt wurde. Die Verantwortlichen in
der NATO halten sich bedeckt, auch die Nationalität der PilotInnen wurde
nie bekannt gegeben. Im Zuge der Berichterstattung über den Fall wurde
spekuliert, dass es sich bei der Brücke um ein so genanntes Sekundärziel
handelte, das als Ersatz für ein eigentlich ausgewähltes, aber schon zerstörtes
Angriffsobjekt herhalten musste. Kritische MilitärwissenschaftlerInnen
wie John Erickson äußerten zudem die Vermutung, die Ereignisse von Varvarin
reihten sich in eine strategische Kampagne ein, die durch den gezielten
Beschuss nicht-militärischer Ziele größtmögliche Verwirrung und Angst
unter der serbischen Zivilbevölkerung schüren sollte.6
Welche Absichten das Kommando der Luftwaffe und die PilotInnen auch gehabt
haben mögen, der Überfall auf Varvarin stellt nach den dargelegten Regeln
des Ersten Zusatzprotokolls einen Verstoß gegen das Verbot des Führens
eines unterschiedslos wirkenden, die Zivilbevölkerung oder zivile Objekte
in Mitleidenschaft ziehenden, unverhältnismäßigen Angriffs dar, der nach
Artikel 85 dieses Abkommens als Kriegsverbrechen zu ahnden ist.
Kollateralschäden
Varvarin ist beileibe nicht das einzige mutmaßliche Kriegsverbrechen,
das die westliche Militärallianz in dem Feldzug gegen die jugoslawische
Bundesrepublik zu verantworten hat. Amnesty International führte in einem
Bericht vom Juni 2000 diverse Angriffe auf die Zivilbevölkerung auf, wie
beispielsweise den Luftangriff auf einen Personenzug an der Grdelica-Schlucht,
den Luftschlag auf den Belgrader Fernsehsender RTS oder die Bombardements
auf den Markt und das Krankenhaus in Nis. 7
Auf den Pressekonferenzen des Supreme Headquarters Allied Powers in Europe
(SHAPE) wurden die Opfer derartiger Angriffe stets bedauert um sie zugleich
als gelegentliche, aber unvermeidliche "Kollateralschäden" von Luftoperationen
gegen Militäreinrichtungen zu entschuldigen. Die Schadensbilanzen lesen
sich wahrlich anders. Einer vorläufigen Aufstellung der Menschenrechtsorganisation
Human Rights Watch zufolge kamen bei den Angriffen 489 bis 529 Zivilpersonen
ums Leben. Die Belgrader Regierung selbst zählte im Februar 2000 über
2.000 zivile Opfer sowie 82 Brücken, 422 Schulen, 48 Einrichtungen des
Gesundheitswesens, 74 Fernsehstationen oder Transmitter sowie zahlreiche
Elektrizitätswerke, Fabriken und Straßen, die von den Bomben der NATO
zerstört oder beschädigt worden waren. Die zitierte humanitäre Katastrophe
wurde durch das Bombardement indes nicht verhindert, wie diverse Hilfsorganisationen
und schließlich auch der Bericht der OSZE vom 6. Dezember 1999 feststellten.
Im Gegenteil, die anhaltenden Luftangriffe ließen die Situation im Kosovo
eskalieren.
Den unzähligen Verdachtsmomenten, die auf Kriegsverbrechen der NATO in
dem völkerrechtswidrigen Angriff auf die Bundesrepublik Jugoslawien hindeuten,
ist bis heute vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das frühere
Jugoslawien (ICTY) nicht ernsthaft nachgegangen worden. Bereits wenige
Tage nach dem Bericht von Amnesty International lehnte das Kriegsverbrechertribunal
in Den Haag eine entsprechende Prozesseröffnung ab. Auch in Deutschland
wurde es stets verstanden, die Verantwortlichen des Angriffskrieges vor
strafrechtlichen Konsequenzen zu schützen.
Ziviles Recht
Im vergangenen Jahr haben 34 Betroffene des Angriffes auf Varvarin mit
Unterstützung einer deutschen Projektgruppe das Kriegsverbrechen doch
noch vor Gericht gebracht. Sie hatten die Bundesrepublik Deutschland auf
Zahlung von Schmerzensgeld in einer Höhe von insgesamt 3,5 Millionen Euro
wegen Verletzung humanitären Völkerrechts verklagt. Die Klage wurde für
zulässig erklärt und am 15. Oktober 2003 vor dem Landgericht Bonn verhandelt.
Von der Klagevertretung wurde mit § 839 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)
i.V.m. Art. 34 Grundgesetz (GG) eine Anspruchsgrundlage aus dem deutschen
Zivilrecht herangezogen. Eine der zentralen rechtlichen Fragen ist deshalb,
ob das im Zivilrecht verankerte Amtshaftungsrecht in bewaffneten Konflikten
Anwendung finden kann. Weiterhin ist für die rechtliche Bewertung von
entscheidender Bedeutung, ob Einzelpersonen, die im Rahmen von kriegerischen
Auseinandersetzungen verletzt wurden und die gleichzeitig StaatsbürgerInnen
einer am Krieg beteiligten Nation sind, überhaupt Ansprüche geltend machen
können.
Die rechtlichen Probleme sind von deutschen Gerichten bezogen auf aktuelle
Kriegsgeschehen bisher nicht entschieden worden. Es handelt sich deshalb
um juristisches Neuland.
Wiedergutmachungsansprüche
Wiedergutmachungsansprüche von Personen, die von Völkerrechtsverletzungen
betroffen waren, wurden in der Geschichte bislang von den jeweiligen Heimatstaaten
gegenüber den verantwortlichen Staaten geltend gemacht. Gleichwohl lässt
sich daraus nicht der Grundsatz ableiten, dass derartige Ansprüche nur
Staaten als solchen zustehen. Gegen diese in der Völkerrechtslehre weit
verbreitete Annahme sprechen zum einen die Entwicklung des Völkerrechts
und zum anderen die Machtverhältnisse der an Kriegen beteiligten Staaten.
Ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg, der unter Verletzung des in Art.
2 Ziff. 4 UN-Charta benannten absoluten Gewaltverbots begonnen wurde,
begründet stets einen Schadensersatzanspruch des angegriffenen Staates
für sämtliche Kriegsschäden. Ebenso haben alle durch Kriegshandlungen
geschädigten Personen und ihre Staaten einen vom Kriegsgrund unabhängigen
Schadensersatzanspruch, wenn diese Handlungen sich als Verletzung des
Kriegsrechts darstellen.8 Allerdings erfolgen entsprechende Entschädigungen
in der Regel in Form von zwischenstaatlichen Friedensabkommen, in deren
Rahmen Reparationsansprüche geregelt werden. Die Bedingungen derartiger
Friedensverträge werden für gewöhnlich von den siegreichen Staaten bestimmt.
An den Beispielen gegenwärtiger Kriege verdeutlicht sich, dass eine Wiedergutmachung
der dabei entstandenen "Kollateralschäden" durch Reparationsleistungen
nicht erfolgt, auch wenn diese Schäden durch einen nach Völkerrecht verbotenen
Krieg entstanden sind. Die entscheidende Rolle für die Durchsetzbarkeit
von Wiedergutmachungsansprüchen spielt allein das Kräfteverhältnis zwischen
den kriegführenden Staaten. Im Falle der Aggressionshandlungen der NATO
gegen die Bundesrepublik Jugoslawien wird sich aktuell in dem von Serbien-Montenegro
angestrengten Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den
Haag erweisen müssen, ob sich diesbezüglich eine andere Entwicklung aufzeigen
wird.9
Der Anspruch eines Staates auf Schadensersatz für völkerrechtswidrige
Handlungen schließt nun in der Praxis zwar die Ansprüche seiner StaatsbürgerInnen
regelmäßig mit ein, ist aber nicht exklusiv. Nach dem Zweiten Weltkrieg
wurde die Geltungskraft der Menschenrechte im internationalen Recht durch
diverse Konventionen verstärkt und das Völkerrecht dahin gehend weiter
entwickelt, dass zusammenfassend von einer Abschwächung des staatlichen
Monopols zugunsten der Stärkung von Individualrechten gesprochen werden
kann. Ausdrücklich schließen die Menschenrechtskonventionen aus, dass
Staaten die universelle Geltung der Rechte auf Leben oder körperliche
Unversehrtheit in Notstandssituationen einschränken oder aufheben können.10
Somit können kriegsbedingte Schäden, die nicht auf rechtmäßige bewaffnete
Handlungen zurückzuführen sind, nicht mehr durch den Krieg als Ausnahmezustand
gerechtfertigt werden.11 Auch das Bundesverfassungsgericht hatte 1996
in einem Beschluss diese Entwicklung der universellen Menschenrechte erkannt
und betont, dass bei Völkerrechtsdelikten neben den völkerrechtlichen
Ansprüchen des Staates auch nationale, zivilrechtliche Ansprüche bestehen
können.12
Staatshaftungsrecht
Neben den völkerrechtlichen Verpflichtungen garantiert das deutsche Recht
in Art. 2 und Art. 34 GG das Recht auf Leben und den ordentlichen Rechtsweg
für einen Schadenersatzanspruch im Falle seiner Verletzung durch Amtsträger.
In § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG wird dieser Anspruch aus dem Staatshaftungsrecht
formuliert: "Verletzt ein Beamter vorsätzlich oder fahrlässig die ihm
einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht, so hat er dem Dritten
den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen." Über Art. 34 S. 1 GG wird
die Haftung von dem Amtsträger auf den Staat oder die Körperschaft, in
deren Dienst er steht, abgewälzt.
Die Rechtsprechung hat bisher in Übereinstimmung mit der herrschenden
Literaturmeinung die Anwendbarkeit des Staatshaftungsrechts auf Kriegsschäden
ausgeschlossen. Zuletzt hatte der Bundesgerichtshof (BGH) in der so genannten
"Distomo-Entscheidung" vom 26. Juni 2003 einen Anspruch aus Amtshaftungsrecht
für Verletzungen des Kriegsrechts abgelehnt.13
Die Überlebenden eines im Jahre 1944 von deutschen Truppen verübten Massakers
an der Zivilbevölkerung des griechischen Dorfes Distomo hatten die Bundesrepublik
Deutschland als Rechtsnachfolgerin des NS-Regimes auf Entschädigung verklagt.
Nach dem BGH-Urteil gilt die Amtshaftung nicht für den Kriegsfall, da
ein zwischenstaatlicher Ausnahmezustand herrsche, der damit einher gehend
den geordneten Staatsgang außer Kraft setze. In seiner Entscheidung wies
der BGH aber nachdrücklich darauf hin, dass er sich nur auf die Rechtsauffassung
zum Zeitpunkt der Tat im Jahr 1944 beziehe und rechtliche Fortentwicklungen
bzw. veränderte Rechtsanschauungen - etwa im Lichte des heute geltenden
Grundgesetzes oder von Änderungen des internationalen Rechts - außer Betracht
bleiben müssten.
Abgesehen davon, dass der Kriegzustand in Griechenland 1944 schon längst
durch den völkerrechtlich anders zu bewertenden Besatzungsstatus mit entsprechenden
Pflichten abgelöst worden war, haben sich die Verpflichtungen zur Wahrung
der Menschenrechte im internationalen Recht tatsächlich so weit fortentwickelt,
dass sie auch zur innerstaatlichen Verantwortlichkeit führen. Danach hat
ein Staat, wenn ihm Menschenrechtsverletzungen zuzurechnen sind, mit Entschädigungsleistungen
dafür ebenso einzustehen wie er geeignete Rechtswege zur Durchsetzung
dieser Ansprüche garantieren muss.
Deutsche Verantwortung
Insofern ergibt sich für die Opfer des Bombardements auf Varvarin die
Möglichkeit, über den nationalen Rechtsweg einen Schadensersatzanspruch
aus Amtshaftung geltend zu machen.
Die Bundesrepublik Deutschland haftet dabei als Mitgliedstaat der NATO
gesamtschuldnerisch im Sinne des § 421 BGB. Die Ansprüche richten sich
gegen jeden einzelnen Mitgliedstaat, da die Luftoperationen durch die
Vertragsstaaten gemeinschaftlich beschlossen und durchgeführt wurden.
Höchste Entscheidungsebene des Bündnisses ist nach § 9 des Nordatlantikvertrages
der NATO-Rat, in dem alle Bündnisstaaten gleichberechtigt vertreten sind.
Beschlüsse sind ausschließlich Konsensentscheidungen, das heißt, dass
zwingende Voraussetzung jedes einzelnen Beschlusses die einzelstaatliche
Zustimmung ist. Anders ausgedrückt: Jeder Mitgliedsstaat hat ein Veto-Recht.
Auch auf eine Große Anfrage der Fraktion der PDS im Deutschen Bundestag
antwortete die Regierungsvertretung: "Zielplanung und Zielauswahl sind
im NATO-Rahmen abgestimmt worden".14 Deutschlands Mittäterschaft war im
Übrigen auch nicht auf diese eher abstrakt erscheinenden Zustimmungsvorgänge
beschränkt. Insbesondere deutsche Aufklärungsgeschwader wie die Lufteinheit
"Immelmann" waren im Krieg gegen Jugoslawien für Luftaufnahmen verantwortlich,
die in die Satelliten gestützten Steuerungssysteme der Kampfbomber eingespeichert
wurden und anhand derer die Besatzungen ihre Ziele anpeilten.15 Mit hoher
Wahrscheinlichkeit dürfte unter diesen Fotos auch ein Porträt der Brücke
von Varvarin zu finden sein.
Verantwortungslosigkeit
Am 10. Dezember 2003 hat das Landgericht Bonn das Urteil verkündet. Die
Klage wurde mit einer dürftigen, sechsseitigen Urteilsbegründung abgewiesen.
Auf kaum eine der oben aufgeworfenen Fragestellungen wurde eingegangen.
Zwar ist es nach Auffassung des Gerichts möglich, "dass das nationale
Recht eines Staates dem Verletzten einen Anspruch außerhalb völkerrechtlicher
Verpflichtungen gewährt, der neben die völkerrechtlichen Ansprüche des
Heimatstaates tritt". Entscheidender Grund für die Abweisung sei danach
aber das Fehlen einer Anspruchsgrundlage im deutschen Recht. "Das deutsche
Staatshaftungsrecht kommt in Fällen bewaffneter Konflikte nicht zur Anwendung.
[...] Bewaffnete Auseinandersetzungen sind nach wie vor [...] als völkerrechtlicher
Ausnahmezustand anzusehen, der die im Frieden geltenden Vorschriften suspendiert."
Für eine Entschädigung bedürfe es aufgrund der geltenden Rechtslage einer
Kodifizierung durch den Gesetzgeber.16 Die Klägerinnen und Kläger haben
beim Oberlandesgericht Köln Berufung eingelegt.17
Politischer Prozess
Das ablehnende Urteil von Bonn verwundert trotz der vorliegenden Anspruchsvoraussetzungen
nicht. Es trägt nicht nur dem Umstand Rechnung, dass Kriege in der Machart
des Jugoslawien-Feldzuges für die verantwortlichen Staaten andernfalls
ein erhebliches finanzielles Risiko darstellen würden. Die Opfer des Bombenangriffes
auf Varvarin versuchen vielmehr, Recht gegen einen Angriffskrieg zu bekommen,
der den Menschenrechten, um deren Willen er angeblich geführt wurde, nur
eine marginale Rolle zubilligte. Wie aufgezeigt, blieben das absolute
Gewaltverbot der UN-Charta und die elementaren Sätze des internationalen
Kriegsrechts sowie die Normen des nationalen Verfassungs- und Strafrechts
während des Krieges ungeachtet, wie auch die erheblichsten Verstöße bis
heute ungeahndet blieben. Auch in Deutschland, dessen Regierung sich vor
der Weltöffentlichkeit hinsichtlich des Ständigen Internationalen Strafgerichtshofs
gerne als Wegbereiterin des humanitären Völkerrechts inszeniert, hat eine
angemessene rechtliche Würdigung des dritten deutschen Feldzuges auf serbischem
Gebiet nicht stattgefunden. Umso mehr dokumentiert aber jene Rechtsprechung
das hiesige instrumentelle Verhältnis zum humanitären Völkerrecht: Die
verzerrt dargestellte Lage der Menschenrechte im Kosovo war demnach Grund
genug, den Kriegszustand über Jugoslawien zu verhängen. Genau jener Kriegszustand
soll aber die Achtung der Menschenrechte wieder ausschließen, wenn später
die Geschädigten des Krieges Entschädigungsleistungen einfordern.
Die Opfer des Krieges und ihre Rechtsbeistände bewegen sich demzufolge
in einem Musterprozess, dessen Ausgang stärker vom machtpolitischen Willen
beeinflusst zu sein scheint als von der sachgerechten Auslegung geltenden
Rechts.
Stephen Rehmke studiert Jura in Hamburg.
Der Autor dankt den VertreterInnen der Klage, Ilka Hoffmann, Gül Pinar
und Heinz-Jürgen Schneider für ihre Erläuterungen zur Klagebegründung.
Die Redaktion bittet um Zuschriften, die Hinweise auf weitere Möglichkeiten
der KlägerInnen geben können .
Anmerkungen
1 Zum Weg Deutschlands in den Krieg u.a.: Schütz, Cathrin, Die NATO-Intervention
in Jugoslawien, 2003; Elsässer, Jürgen, Kriegslügen, 2004; Loquai, Heinz,
Der Kosovo-Konflikt, 2000; ders. Weichenstellungen für einen Krieg, 2003.
2 Vgl. Art. 51 sowie Art. 42, 48 UN-Charta.
3 Vgl. insgesamt u.a.: Zuck, Rüdiger, Der Krieg gegen Jugoslawien, in:
Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP) 1999, 225; Deiseroth, Dieter,
Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht, in: Neue Juristische Wochenschrift
(NJW) 1999, 3084; Internationales Europäisches Tribunal über den NATO-Krieg
gegen Jugoslawien, Urteil vom 3. Juni 2000, unter www.nato-tribunal.de/urteil.
4 Zit. n. Jung, Rainer, Die Brücke von Varvarin, in: Frankfurter Rundschau
(FR) vom 14.10.2003; Förster, Andreas, Sanjas Mutter und ein Rechtsprinzip,
in: Berliner Zeitung vom 11.12.2003.
5 Vgl. Art. 50 ff.; insbesondere Art. 59; Art. 51 Abs. 2, 4a, 5b; Art.
57 Erstes Zusatzprotokoll zu den Rotkreuzabkommen (ZP1), Bundesgesetzblatt
(BGBl.) 1990 II, 1551.
6 Zit. n. Luyken, Reiner, Die Brücke, in: Die Zeit 51/1999.
7 Elsässer, aaO., 162 ff.
8 Art. 3 Haager Landkriegsordnung (HLKO) von 1907; Art. 91 ZP 1.
9 Zu der bereits von der damaligen BR Jugoslawien eingereichten Klage
vgl. Hummer, Waldemar/Mayr-Singer, Jelka, Der Kosovo-Konflikt vor dem
Internationalen Gerichtshof, in: Neue Justiz 2000, 113.
10 So Art. 4 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte
von 1966, BGBl. 1973 II, 1534.; Art. 15 (Europäische) Konvention zum Schutze
der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950, BGBl. 1952 II, 686.
11 Ausführlich Graefrath, Bernhard, Schadensersatzansprüche wegen Verletzung
humanitären Völkerrechts, in: Humanitäres Völkerrecht 2001, 110
f.
12 Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 13.05.1996, NJW
1996, 2717 ff.
13 Urteil des BGH vom 26. Juni 2003 (Aktenzeichen III ZR 245/98).
14 Große Anfrage der PDS vom 28.03.2001, 14. Wahlperiode, Drucksache 14/5677.
15 Vgl. auch hier Graefrath, Bernhard, Wie stark ist das Recht auf Leben?,
in: Marxistische Blätter 6/2003.
16 Urteil des LG Bonn vom 10. Dezember 2003 (Az. 1 O 361/02).
17 Weitere Informationen und Schriftsätze zur Klage unter: www.nato-tribunal.de/varvarin.
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