Jan Michael Wrangel |
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Datengesellschaft | Heft
3/2004 Dataismus - eine Gesellschaft überwacht sich selbst Seite 82-84 |
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Computergestützte Datenerhebung und gesellschaftliche Prozesse |
Neue Technologien bestimmen zur Zeit die Entwicklung von Maßnahmen zur
Datenerhebung, um Sicherheit und wirtschaftliche Entwicklung zu gewährleisten.
So werden an Flughäfen biometrische Techniken zur eindeutigen Feststellung
der Identität eingerichtet. Kameras zeichnen das Geschehen an Bahnhöfen,
öffentlichen Plätzen und Gebäuden auf und sollen so die öffentliche Ordnung
aufrechterhalten. Rabattkarten wie Payback versprechen Preisnachlass für
die Speicherung von Daten. Zu diesen Maßnahmen kommen Entwürfe zu einer
Änderung des Telekommunikationsgesetzes (TKG), in denen die Internet-Provider
verpflichtet werden sollen, die Verkehrsdaten von InternetnutzerInnen
über einen längeren Zeitraum zu speichern. Damit folgt der Gesetzgeber
der europäischen Richtlinie zur Datenkriminalität, die solche Maßnahmen
nahe legt.1 Vorgeblich soll den ermittelnden Behörden damit eine bessere
Informationsgrundlage zur Kriminalitätsbekämpfung gegeben werden. Bemerkenswerter
Weise wird von vielen BürgerInnen die Sammlung von Daten zwar gesehen,
wegen der vorgeblich größeren Sicherheit und einem wirtschaftlichen Vorteil
aber akzeptiert. Datenerfassung kann gegenwärtig ganz offen erfolgen,
da die vermuteten Konsequenzen positiv erscheinen. Erfassung + Auswertung = Profil Durch die ausgedehnte Einführung von Computertechnik gewinnt sowohl die
Erfassung wie auch die Auswertung von Daten eine neue Qualität. Im Rahmen
der Erfassung ermöglicht die Computerunterstützung in vielen Fällen eine
leichtere Gewinnung und Speicherung von Daten, wie z.B. durch die digitale
Speicherung von Bildern. Sie ermöglicht zudem, neue Bereiche zur Gewinnung
von Daten heranzuziehen. So ist die Computertechnik in Form des Internet
seit Mitte der 1990er Jahre selbst eine Datenquelle und wird durch dessen
rasantes Wachstum immer interessanter. Voran getrieben werden insbesondere die Auswertungstechnologien. So ist
durch eine sich alle 18 Monate verdoppelnde Rechenkapazität inzwischen
z.B. auch die sehr aufwendige Gesichtserkennung und damit eine automatische
Bildauswertung und Identifikation von Personen realisierbar. Digitalisierbare
Daten sind aufgrund ihrer computergestützten Auswertbarkeit besonders
gut geeignet, auch große Datenmengen zu verwerten. Durch die nach bestimmten
Kriterien zu berechnenden Beziehungen zwischen den Daten können dann Profile
per Computer erstellt werden. Die Daten lassen sich schnell, einfach,
wenn gewünscht sogar automatisch verknüpfen. Die Daten werden hinsichtlich
bestimmter Kriterien so miteinander verknüpft und verarbeitet, dass das
gewonnene Profil Informationen über die Person geben kann, welche aus
den bloßen Daten selbst nicht ersichtlich ist. Ist die Datenbasis entsprechend
umfangreich, können solche Profile sehr komplex zu umfassenden Biographien
verarbeitet werden, die Rückschlüsse auf Motive und Einstellungen einer
Person zulassen. Gesellschaft als Theater Die Betrachtung der gesellschaftlichen Auswirkungen von computerisierten Methoden zur Datenerfassung und -auswertung erfordert zunächst die Beantwortung der Frage danach, wie sie Einfluss auf die Gesellschaft erlangen können. Bei genauer Betrachtung besteht Gesellschaft aus Interaktionen von Individuen und Institutionen. Diese Interaktionen zeichnen sich dadurch aus, dass sie einer bestimmten Ordnung zu folgen scheinen. Nicht jedeR sagt und tut nur das, was ihm/ihr einfällt, sondern orientiert sich an den Umständen der Interaktion, an Werten, Normen, Erwartungen, "common sense" usf. So etwas wie Gesellschaft existiert überhaupt erst durch umfassende Einigungen darüber, wie z.B. Äußerungen oder gesellschaftliche Ereignisse verstanden und interpretiert werden können. Dies wird als doppelte Kontingenz bezeichnet, denn die (mindestens) zwei
Seiten einer Interaktion (ego und alter ego) lassen sich aufgrund einer
fehlenden objektiven Verständigung - Gedanken können ja nicht übertragen
werden - nicht auf eine Interpretation festlegen. Das jeweilige Verstehen
ist kontingent, d.h. Äußerungen sind nicht notwendig so zu verstehen,
wie sie gemeint sind. Dieses Grundproblem sozialer Interaktion bedingt,
dass einer ihrer wesentlichen Aspekte die reziproke, d.h. wechselseitig
auf gegenseitiges Verstehen ausgerichtete Kommunikation ist. Es muss eine
Ebene gefunden werden, die den subjektiven Interpretationen der Äußerungen
einen Rahmen gibt, an dem sich die InteraktionspartnerInnen orientieren
können. Durch sie wird der oder die Gegenüber überhaupt erst verständlich, da mit Rollen Normierungen und Erwartungen verknüpft sind, an denen konkretes Verhalten gemessen und eingeordnet werden kann. Gesellschaftlich fixierte Rollen ermöglichen die Interpretation des Gemeinten, da sie ein Repertoire erwartbarer Verhaltensweisen bündeln, die zu ihr gehören. Sie dienen so als Leitfaden für die Verständigung. So ergibt sich die Notwendigkeit, eine Rolle anzunehmen, sie für eine Weile beizubehalten und sich über die gewählte Rolle auszutauschen, um gegenseitiges Verstehen zu gewährleisten. Die grundsätzliche Unsicherheit, nicht zu wissen, wie die eigenen Äußerungen verstanden werden, lässt sich einerseits durch die Orientierung an allgemeingültigen Rollenvorstellungen eingrenzen. Andererseits entsteht dadurch, dass Verstehen nicht objektiv, sondern durch die Situation und das subjektive Verständnis einer Rolle geprägt ist, innerhalb der gewählten Rolle ein Spielraum, der genutzt werden kann, sich nach eigenen Wünschen darzustellen. Durch Hinzufügungen und Auslassungen von Eigenschaften lassen sich Akzentuierungen realisieren, die sowohl für andere verständlich sind als auch Individualität begründen. Die private Hinterbühne Die Anpassung einer Rolle an eigene Bedürfnisse muss jedoch zunächst entwickelt werden, ihre besondere Ausprägung aus alternativen Eigenschaften gewählt und vorbereitet werden. Dazu dient der Bereich des Privaten, den Goffman auch als die Hinterbühne bezeichnet.3 Die Hinterbühne ist zunächst ein Bereich, der einer besonderen Zugangskontrolle unterliegt. Unerwünschte Dritte sollen zu ihr keinen Zutritt haben, um bei der Entwicklung einer Rolle ungestört zu sein. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass weit gehend kontrolliert werden kann, ob und welche Informationen preisgegeben werden, so dass gegebenenfalls auch vor der Öffentlichkeit verborgene Meinungen und Verhaltensweisen gezeigt werden können. Hier, hinter der Fassade einer gewählten Rolle, im Bereich des Privaten, kann ohne den Druck von außen das weitere Rollenspiel vorbereitet werden. Vergangene "Vorstellungen" können analysiert und hinsichtlich der eigenen Ideen korrigiert werden, indem Rollenbestandteile geprobt, weggelassen oder hinzugefügt werden. Die Hinterbühne bietet den Schutz vor der Öffentlichkeit, um einmal die "Maske" abzustreifen, "aus der Rolle" zu fallen und so dem Normierungsdruck der Rolle zu entgehen. Die intimsten Bedürfnisse und Motive können hier ausgelebt werden, immer in der Gewissheit, dass es sich hier um einen geschützten Bereich handelt, der keine weiteren Sicherungen gegen die Öffentlichkeit erfordert. Der Rückzug von der Bühne in den Schutz der Hinterbühne dient somit der
Vorbereitung des nächsten Auftritts, der vor einem anderen Publikum eventuell
eine andere Rolle erfordert: Die Rolle des/der kollegialen MitarbeiterIn
am Arbeitsplatz weicht im familiären Umfeld der Rolle des/der fürsorglichen
Mutter/Vaters. In Wechsel und Anpassung liegt die Möglichkeit zur individuellen
Ausgestaltung von in der Öffentlichkeit dargestellten Rollen, die sich
nicht ausschließlich dem Druck bekannter Rollen und den damit verbundenen
Normen und Verhaltensregeln unterwirft. Die im Privaten erfolgende (Weiter-)
Entwicklung von Rollen bereitet, in der Öffentlichkeit vorgeführt, neue
Möglichkeiten auch für andere Vorstellungen vor. Darauf gründet sich die
Pluralität gesellschaftlicher Rollen, durch deren Angebot eine individuelle
Selbstbestimmung der eigenen Darstellung möglich ist. Einzelmaßnahmen Auf der Ebene der Einzelmaßnahmen findet in der Regel eine Diskussion
um die Einhaltung von Datenschutzbestimmungen statt, welche keinen Blick
auf die gesellschaftlichen Auswirkungen hat. Hier wird gefragt, ob diese
und jene Regelung den Zweck erfüllt, für den sie getroffen wird, z.B.
Kriminalität einzudämmen oder den individuellen Konsum zu fördern, oder
ob die jeweilige Einzelmaßnahme das Recht auf informationelle Selbstbestimmung
zu weit einschränkt. Es findet eine Abwägung der Konsequenzen statt, bei
der Kriminalitätsangst und wirtschaftlicher Vorteil auf der einen Seite
und die durch Überwachung befürchtete Einschränkung der freien Rollenwahl
und -ausgestaltung auf der anderen Seite stehen. Technische Auswertung Die Computertechnologie ermöglicht sehr effiziente, Zeit sparende und
mit wenig Personalaufwand verbundene Erhebung, Zusammenführung, Verwaltung
und Auswertung von Daten. Diese können dann als Profile Auskunft über
gezeigte Verhaltensweisen geben und einen Einblick in die privaten Neigungen,
Motive, Vorlieben, Einstellungen etc. ermöglichen, die diesen zugrunde
liegen. Das ist gleich einem Blick hinter die Kulissen und macht die Hinterbühne,
den Raum zur Vorbereitung des Rollenspiels, öffentlich. Mit den technischen
Mitteln zur Aufbereitung von Daten wird es dann möglich, Zusammenhänge
so aufzubereiten, dass zugrunde liegende Neigungen und Vorlieben hervortreten. Das Ergebnis der Einführung und umfassenden Nutzung von Computertechnologie zur Erfassung und Auswertung von Daten ist also eine Kanonisierung der Rollen, die in einer Gesellschaft gespielt werden können. Die Freiheit zu Abweichung und Experiment mit neuen Eigenschaften, die in der Privatheit der Hinterbühne entwickelt werden, wird durch mögliche Überwachung und Auswertung von Daten eingegrenzt. Je leistungsfähiger die eingesetzte Technologie und je komplexer die dann zu gewinnenden Profile werden, umso stärker wird sich das Bewusstsein, einer allgemeinen Überwachung ausgesetzt zu sein, in der Bevölkerung verankern. Und es steht zu befürchten, dass die tolerierten und zumeist stillschweigend hingenommenen Einzelmaßnahmen zur Sicherung der pluralen, auf individueller Selbstbestimmung gründenden Gesellschaft in ihrer Gesamtheit deren größte Gefährdung darstellen. Jan Michael Wrangel ist Soziologe und arbeitet in Freiburg in einem IT-Unternehmen. Anmerkungen 1 Vgl. Artikel 15 der Richtlinie 2002/58/EG. Literatur Foucault, Michel, Überwachen und Strafen, 1975. |