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Kein Recht auf Recht   Heft 4/2004
unmenschlich -
Migrationspolitik

Seite 118
Was es heißt, illegal zu sein - eine Analyse nach Hannah Arendt  
 

In die Illegalität führen viele Wege. Der Beginn eines solchen kann durchaus eine legale Einreise gewesen sein, als SaisonarbeiterIn, AsylsuchendeR, GeschäftsreisendeR oder Flüchtling. Die Schwelle zwischen Be- und Entrechtigung kann dann die Aufnahme von Arbeit sein, das Überschreiten der Aufenthaltserlaubnis oder auch das der Ablehnung des Asylgesuchs, der Ausreiseaufforderung oder der Abschiebungsankündigung folgende Abtauchen. Die Grenze von legalem zu illegalem Aufenthalt ist fließend und schnell überschritten.
Ein anderer Weg mag eine illegale Einreise gewesen sein, heimliche Zuwanderung, ein Grenzübertritt mit gefälschten Papieren, gefolgt von illegalem Inlandsaufenthalt und illegaler Arbeitnahme. Denn obgleich die Möglichkeiten, einen dokumentierten Aufenthaltstitel zu erhalten, äußerst begrenzt sind, findet Migration statt. Und wenn, einmal im Land, der Asylantrag nicht Schutz, sondern die Wahrscheinlichkeit der Abschiebung in sich birgt, folgt der Mensch nur allzu häufig dem inneren Überlebenstrieb und beginnt, sich in der Illegalität einzurichten, soweit dies gelingt.
Wie oft diese Wege beschritten werden, weiß niemand so genau.1 Sicher ist hingegen eines: Das Leben in der Illegalität ist nicht nur eine Randerscheinung, sondern eine gesellschaftliche Realität. Dennoch wird sie von den meisten allenfalls peripher, wahrscheinlich eher gar nicht wahrgenommen.

Moderne Outlaws - Leben im rechtsfreien Raum

Ein Grund hierfür mag der abstrakte Charakter des "Illegalseins" sein, ist Illegalität doch rein definitorischer Natur. Letzten Endes ist Illegalität ebenso frei erfunden wie nationale Grenzen.2 Insofern ist man eben nicht illegal, sondern wird als illegal deklariert. So hat sich in Deutschland die Begrifflichkeit der "Illegalen" durchgesetzt, während MigrantInnen ohne Papiere in Frankreich als "sans papiers", in Italien als "clandestini" und in Großbritannien als "undocumented persons" bezeichnet werden. Angemessener als dieses unglückliche und diskriminierende Etikett wäre etwa die Bezeichnung als "Rechtslose". Wenn in diesem Text dennoch die Bezeichnung "Illegale" benutzt wird, so allein, um die Tragweite der ausländerrechtlichen Rechtswidrigkeit für die Betroffenen zu verdeutlichen.
Denn faktisch bedeutet diese Erfindung ein Leben in einem vollständig rechtsfreien Raum, stets auf der Hut vor Entdeckung und somit vollkommen schutzlos und angreifbar. "Bewegungsfreiheit ohne Aufenthaltsrecht hat mit der Hasenjagd zu Zeiten der Jagd eine verzweifelte Ähnlichkeit"3 schrieb Hannah Arendt in einer Analyse der Staatenlosen zwischen den beiden Weltkriegen. Und auch heute gerät jede für normale BürgerInnen mehr als gewöhnliche Alltagshandlung für Menschen ohne Aufenthaltsstatus zum Balanceakt. Dies liegt primär an der permanenten Angst vor Entdeckung. Schließlich verpflichtet der - auch als "Denunziationsparagraf" bekannte - § 76 des Ausländergesetzes (AuslG) öffentliche Stellen, ohne Papiere im Lande lebende Menschen den Behörden zu melden. Ebenso macht sich nach § 92a AuslG strafbar, wer wiederholt oder zugunsten von mehreren AusländerInnen "Illegalen" hilft oder ihnen Unterschlupf gewährt.
Schwierige Bedingungen, um sein Leben zu organisieren. Welche ÄrztInnen behandeln PatientInnen ohne Krankenschein? Zahnschmerzen werden zum Problem, eine Blinddarmentzündung zur mittleren Katastrophe. Die an sich für Kinder selbstverständliche Schulbildung ist ebenso selbstverständlich nicht für Kinder von MigrantInnen ohne Aufenthaltsstatus vorgesehen. Letztlich wird die gesamte Lebenswelt "illegaler" Menschen beinahe vollständig von der ihnen anhaftenden Illegalität durchdrungen und bestimmt.

Illegalität und Arbeit

Am deutlichsten äußert sich die Hilflosigkeit der Betroffenen, wenn es um die Arbeitsbedingungen geht.4 Da die Möglichkeiten der Aus- oder Weiterbildung in der Regel gültige Ausweispapiere voraussetzen, sind die meisten "Illegalen" gezwungen, Arbeiten im Niedriglohnsektor, vorzugsweise in Branchen wie dem Reinigungs- und Baugewerbe sowie in der Gastronomie oder in Privathaushalten anzunehmen. Zumal weder Kündigungsschutz noch sonstige Arbeitnehmerrechte geltend gemacht werden können, werden ArbeitnehmerInnen ohne Aufenthaltsstatus äußerst gerne eingestellt. Nicht selten wird ihr Unvermögen, Arbeitnehmer- oder auch sonstige Rechte einzufordern, missbraucht; so ist Berichten zufolge Lohnraub durchaus nichts Ungewöhnliches.
Dies verbunden mit der dennoch vorhandenen Bereitschaft Heimlicher, sich zu ausbeuterischen Löhnen abschuften zu dürfen, strahlt auf den Arbeitsmarkt aus und kratzt auch an langwierig erkämpften Rechten der ArbeitnehmerInnen. Denn je größer das Angebot an Arbeitskräften für ein Fixum an Arbeit ist, desto geringer wird - einzig den Gesetzen von Angebot und Nachfrage folgend - der Preis für die Arbeitskraft. Dies schürt zwangsläufig Ängste und Vorurteile der "legalen" ArbeitnehmerInnen und ist Wasser auf die Mühlen einer auf Ausgrenzung basierenden Einwanderungspolitik, was wiederum zu verstärkter Illegalisierung führt - ein Teufelskreis.

Illegalität und Menschenrechte

Letztlich macht diese kurze Beschreibung der Lebenswelt "Illegaler" eines deutlich: Illegalität berührt Menschenrechte und stellt ihre umfassende Geltung in Frage. Nicht nur ist ein solcher von Angst und Schutzlosigkeit geprägter Alltag mit der Würde des Menschen offensichtlich unvereinbar, auch widerspricht die Unsicherheit medizinischer Versorgung offensichtlich dem Recht auf Gesundheit und medizinische Versorgung, wie es in Art. 12 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) der Vereinten Nationen proklamiert wird. Ebenso steht die ungleiche Vergütung gleicher Arbeit mit Art. 23 AEMR im Widerspruch: Diese enthält ein Diskriminierungsverbot, also eben das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit.
Und auch wenn "Illegale" zweifelsohne ebenso von demokratischen Entscheidungen betroffen sind wie "Legale", ist ihnen doch die Teilhabe am demokratischen Diskurs vollständig verschlossen. Zwar gewährt Art. 5 Grundgesetz "jedem" das Recht, seine Meinung frei zu äußern. Allerdings haben "Illegale" zumindest in Deutschland wohl kaum eine reelle Möglichkeit, am Prozess der Willensbildung öffentlich teilzunehmen. In anderen Ländern haben es die "Illegalen" geschafft, sich zu organisieren und sich somit politisches Gehör zu verschaffen. Paradebeispiel hierfür sind die "Sans papiers" in Frankreich, welche mittlerweile durchaus politischen Einfluss zu nehmen in der Lage sind. Zumal sich hierzulande jedoch noch keine solche Organisation gefunden hat, bleibt "Illegalen" dieses Recht wohl auch in näherer Zukunft verwehrt.

Politische Leichname

Dabei stehen sich illegal in Deutschland aufhaltenden Personen diese Menschenrechte selbstverständlich zu, dies ist keineswegs das Problem. Der springende Punkt ist vielmehr, dass es faktisch keine Institution gibt, die ihnen diese garantiert.
Hannah Arendt analysierte dieses Verhältnis zwischen theoretischen und faktischen Rechten und beschrieb die entstehende Diskrepanz folgendermaßen: "Denn das Unglück des Rechtlosen liegt nicht darin, dass er des Rechts auf Leben, auf Freiheit, auf Streben nach Glück, der Gleichheit vor dem Gesetz oder gar der Meinungsfreiheit beraubt ist; alle diese Formeln stehen deshalb in gar keiner Beziehung zu seiner Situation, weil sie entworfen wurden, um Rechte innerhalb gegebener Gemeinschaften sicherzustellen. Die Rechtlosigkeit entspringt einzig der Tatsche, dass der von ihr Befallene zu keiner irgendwie gearteten Gemeinschaft gehört."5
Hannah Arendt schließt sich somit nicht der Ansicht an, Menschenrechte seien etwas absolut dem Menschen Innewohnendes und somit Garantiertes. Die Krux sei vielmehr, dass Menschenrechte stets als unabdingbar und unveräußerlich proklamiert wurden und werden, so dass ihre Gültigkeit sich auf kein anderes Gesetz oder Recht berufen müsste, sondern sie vielmehr axiomatisch allen anderen Rechten zugrunde gelegt werden sollten. Insofern bedurfte es scheinbar auch keiner Autorität, um sie zu etablieren, denn da alle anderen Gesetze aus ihr abgeleitet werden, wäre es paradox, ein besonderes zu ihrer Geltendmachung zu schaffen.
Faktisch jedoch sind Menschenrechte wie alle Rechte immer nur das Resultat eines Zusammenspiels des Individuums mit der jeweils rechtsgarantierenden Institution; ohne diese keine Rechte.
Insofern folgert Hannah Arendt weiter: "Der Verlust der Menschenrechte findet also nicht dann statt, wenn dieses oder jenes Recht, das gewöhnlich unter die Menschenrechte gezählt wird, verloren geht, sondern nur wenn der Mensch den Standort in der Welt verliert, durch den allein er überhaupt Rechte haben kann und der die Bedingung dafür bildet, dass seine Meinungen Gewicht haben und seine Handlungen von Belang sind. Etwas viel Grundlegenderes als die in der Staatsbürgerschaft gesicherte Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz also steht auf dem Spiel, wenn die Zugehörigkeit zu der Gemeinschaft, in die man hineingeboren ist, nicht mehr selbstverständlich und die Nichtzugehörigkeit zu ihr keine Sache der Wahl ist oder, wenn Menschen in die Situation gebracht werden, wo ihnen, (...) dauernd Dinge zustoßen, die ganz unabhängig davon sind, was sie tun oder unterlassen. Auch wo ihnen eine noch intakte Zivilisation das Leben sichert, sind sie, politisch gesprochen, lebende Leichname."6 Für Arendt bedeutet die Ausstoßung aus der Rechtsgemeinschaft somit mehr, sie spricht von der "Ausstoßung aus der Menschheit insgesamt".

Recht auf Recht

Die Kernfrage ist somit folgende: Wie kann dem völkerrechtlich bestimmten Flüchtlingsrecht und letztlich den allgemeinen Menschenrechten faktisch Geltung verschafft werden? Letztlich eben nur durch nationalstaatlich dem Individuum zugestandene, also auch einklagbare Bürgerrechte. Es geht somit darum, jedem Menschen in jedem Staat einklagbare Rechte, beziehungsweise eben die Einklagbarkeit der Rechte zuzugestehen. Arendt folgerte aus dieser Erkenntnis ihr berühmtes "Recht, Rechte zu haben", also eine Art formeller Verankerung der Menschenrechte, welche die Einklagbarkeit derselben begründen könnte. Denn tatsächlich demonstrieren "Illegale", die vollständig auf universelle Menschenrechte angewiesen sind, durch die Bedingungen, denen ihr Leben unterworfen ist, dass Menschenrechte eben nicht universell garantiert sind, sondern nur für Staatsangehörige und AusländerInnen mit Aufenthaltsrecht.
Es muss somit Aufgabe der Staaten sein, dafür Sorge zu tragen, dass niemand innerhalb und außerhalb des eigenen Hoheitsgebietes vollkommen außerhalb des Rechtssystems zu stehen kommt. Dies ist nicht zuletzt eine zwingende Folgerung des den Menschenrechtsdeklarationen eingeschriebenen Menschenbildes. Es ist jedoch vor allem eine zwingende Forderung der Menschlichkeit.

Moritz Assall, Hamburg

1 Schätzungen hierzu in Mushoff, Tobias, Illegal in der BRD, in: Forum Recht (FoR) 2004, 120 - 122.
2 Zur "Erfindung des Ausländers" siehe Kroidl, Lars/ v. Planta, Christoph, Ausländer- und Zuwanderungsrecht, in: FoR, Wozu Jura studieren?, 2003/04, 22 - 23.
3 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 613.
4 Hierzu Habbe, Heiko, "...und du bist nicht dabei!", in: FoR 2003, 121 - 124.
5 Arendt, a.a.O., 611.
6 Ebd., 613.

Literatur:

Arendt, Hannah, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft - Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München 1986.
http://rechtauflegalisierung.de (19.09.2004).
http://www.asylnetz.de (19.09.2004).