|
Als die "Cap Anamur" Mitte Juli 2004 im Hafen von Porto Empedocle festmachte,
stand für die italienischen Behörden bereits fest: Kein einziger der an
Bord befindlichen 37 afrikanischen Flüchtlinge stammte aus der Krisenregion
Darfur. Was die Männer anderweitig bewogen haben mochte, das Mittelmeer
per Schlauchboot zu überqueren, war offenbar gleichgültig: Nach kurzer
Internierung hinter stacheldrahtbewehrten Lagermauern schob man sie in
verschiedene afrikanische Staaten ab. Auch der Kapitän des Schiffes sowie
der damalige "Cap Anamur"-Leiter Elias Bierdel wanderten hinter Gitter
- Vorwurf: "Begünstigung illegaler Einreise".
Die öffentliche Debatte konzentrierte sich in den nachfolgenden Tagen
bemerkenswert schnell und nahezu ausschließlich auf die Frage, ob
und inwieweit die "Anamur"-Crew den Vorfall inszeniert habe.
Bei aller berechtigten Skepsis gegenüber einer - auch wohlmeinenden
- Instrumentalisierung von Flüchtlingsschicksalen: Weit bedenklicher
ist die Härte, mit der die italienischen Behörden die Herausforderung
annahmen, um klarzumachen, wohin ihrer Ansicht nach die Flüchtlinge
gehörten. Nämlich ans südliche Ufer des Mittelmeers. Der
Fall Cap Anamur und die nachfolgende europaweite politische Diskussion
drohen damit zu einem Menetekel für die künftige Haltung der
erweiterten Union gegenüber denen zu werden, die vor Hunger, Armut
und politischer Verfolgung Schutz suchen.
Vergemeinschaftung der Asylpolitik
Erinnern wir uns: Im Jahre 1999 hatten die damals 15 EU-Staaten vereinbart,
in den EG-Vertrag einen neuen Titel zu Visa, Asyl und Einwanderung aufzunehmen.
Binnen fünf Jahren sollten auf Grundlage des neu geschaffenen Art. 63
EG-Vertrag Rechtsakte zur Vereinheitlichung des Flüchtlingsschutzes in
der Gemeinschaft erlassen werden. Die Räte von Tampere und Nizza konkretisierten
den Zeit- und Aufgabenplan.1
Erste Vorschläge für Richtlinien und Verordnungen, die die Kommission
daraufhin vorlegte, weckten bei Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen
vorsichtigen Optimismus:2 Schien es doch, als sei Europa ernsthaft bereit,
seine Verantwortung aus der Genfer Flüchtlingskonvention (GK) und der
Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte (EMRK) wahrzunehmen.
Umso ernüchternder das Ergebnis der nachfolgenden Verhandlungen im Rat:
V.a. der deutsche Innenminister setzte sich mit Nachdruck dafür ein, eine
Lockerung der restriktiven nationalen Asylregelungen durch die europäische
"Hintertür" zu vermeiden.3 Und das mit traurigem Erfolg.
Ende April 2004 nahm der Rat von Luxemburg die Anerkennungsrichtlinie4
(AnerkRL) an, die regelt, nach welchen Kriterien Flüchtlinge als schutzwürdig
eingestuft werden sollen. Zugleich wurde eine politische Einigung über
die Asylverfahrensrichtlinie5 (AsylVfRL) erzielt, die Mindestanforderungen
an ein faires Verfahren festlegen soll. Beide zusammen bilden das Herzstück
der künftigen europäischen Asylpolitik und sollen daher im folgenden in
einem Überblick dargestellt werden. Dieser kann nur vorläufig sein, da
die Asylverfahrensrichtlinie im Laufe der Verhandlungen so stark überarbeitet
wurde, dass sie dem Parlament zur erneuten Stellungnahme vorgelegt werden
soll. Eine endgültige Verabschiedung ist für Ende 2004 angestrebt. Nach
Inkrafttreten hätten die EU-Staaten voraussichtlich zwei Jahre Zeit, die
Regelungen in nationales Recht umzusetzen.
Die Richtlinien werden ergänzt durch die Verordnungen über den zuständigen
Asylstaat6 und über die europäische Fingerabdruckdatei "Eurodac"7 - beide
sollen verhindern, dass Flüchtlinge Asylanträge in mehreren EU-Staaten
stellen - sowie die Richtlinien zu Mindestnormen für die Aufnahme von
Asylbewerbern8 und zur Gewährung vorübergehenden Schutzes9.
Die Asylverfahrensrichtlinie: "Sichere" Drittstaaten?
Auf heftige Kritik bei Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen
stieß v.a., dass in Art. 27 AsylVfRL Vorschriften zu "sicheren Drittstaaten"
aufgenommen wurden. Danach sollen Asylanträge allenfalls einer eingeschränkten
Prüfung unterzogen werden, wenn die Betroffenen nachweislich über ein
solches Land eingereist sind. Dies weckt bittere Erinnerungen an die deutsche
Asylrechtsreform von 1993: Die Einführung der Drittstaatenregelung in
Art. 16a Grundgesetz bildete damals den zentralen Ansatzpunkt zur faktischen
Aushöhlung des Grundrechts auf Asyl.
Dass fast ein ganzer Kontinent mit 25 Staaten - und einer der wohlhabendsten
und politisch stabilsten dazu - geschlossen ähnliche Vorschriften übernimmt
bzw. weiterführt und sich somit für das weltweite Flüchtlingselend nicht
zuständig erklärt, stimmt bedenklich. Insbesondere gegenüber den zehn
neuen EU-Staaten werden hier eindeutig falsche politische Anreize gesetzt:
Statt ihnen zu helfen, ein tragfähiges Schutzsystem für politisch Verfolgte
aufzubauen, liefert das "alte" Europa die Anleitung, wie man sich Flüchtlinge
vom Hals hält.10 Allenfalls punktuell dürften bestehende Drittstaatenregelungen
der osteuropäischen Beitrittsländer nach Inkrafttreten der Richtlinie
anpassungsbedürftig sein.11
Allerdings weist die Drittstaatenregelung des Art. 27 AsylVfRL einige
bemerkenswerte Unterschiede zur deutschen Rechtslage auf. In der BRD gilt
das Prinzip der "normativen Vergewisserung",12 nach dem das Parlament
entscheidet, welche Staaten als "sicher" anzusehen sind. Diese Festlegung
ist in § 26a Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) i.V.m. dessen Anlage I getroffen;
Behörden und Gerichte sind daran gebunden.
Die Anwendung des Konzepts des "sicheren Drittstaats" nach Art. 27 I AsylVfRL
ist daran gebunden, dass der betreffende Staat Mindeststandards in bezug
auf AsylbewerberInnen einhält. So darf es dort für Flüchtlinge keine Gefährdung
von Leben und Freiheit aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität,
der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen
Ansichten geben, der Grundsatz der Nicht-Zurückweisung nach der GK muss
gewährleistet sein, die Rückführung bei drohender Folter und grausamer,
unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung wird ausgeschlossen, und
Asylsuchende müssen die Möglichkeit haben, in dem Drittstaat Schutz gemäß
der GK zu erlangen.
In diesem Katalog liegt gegenüber früheren Verhandlungsstadien ein Rückschritt:
Der nunmehr gestrichene Art. 28 AsylVfRL sah noch vor, dass ein Drittstaat,
um als "sicher" zu gelten, grundlegende völkerrechtlich verankerte Normen
zum Schutz der Menschenrechte beachten sollte, neben der GK beispielsweise
die EMRK sowie das Übereinkommen gegen Folter oder entsprechende Standards.13
Gemäß Art. 27 II AsylVfRL muss ferner im Einzelfall geprüft werden, ob
der betreffende Drittstaat für die Betroffenen tatsächlich sicher ist.
Flüchtlinge müssen die Möglichkeit haben, die Anwendung des Konzepts des
sicheren Drittstaats anzufechten, sofern ihnen im fraglichen Staat gravierende
Menschenrechtsverletzungen wie Folter oder grausame, unmenschliche oder
erniedrigende Behandlung oder Bestrafung drohen würden. Zudem wird eine
Verbindung zwischen dem Flüchtling und dem betreffenden Drittstaat verlangt,
die es als sinnvoll erscheinen lässt, dass diese Person sich in diesen
Staat begibt.
Die Bestimmung von "sicheren Drittstaaten" kann unter Einhaltung der genannten
Voraussetzungen sowohl fallbasiert als auch - wie in der BRD - abstrakt
erfolgen.
Art. 27 IV AsylVfRL schließlich schreibt den Mitgliedsstaaten vor, auch
Asylsuchende aus "sicheren Drittstaaten" zum Verfahren zuzulassen, wenn
der Drittstaat diesen die (Wieder-)Einreise verweigert.
Diese Prüfungsmaßstäbe gehen in Teilen über die derzeitige deutsche Rechtslage
hinaus. Hier bestünde nach Inkrafttreten der Richtlinie Änderungsbedarf.14
Der konservative Konstanzer Ausländerrechtler Kay Hailbronner kritisiert
die Vorschläge der Kommission in diesem Punkt als "wenig durchdacht" und
spricht sich statt dessen dafür aus, auch den neuen EU-Mitgliedsstaaten
die Einführung einer Drittstaatenregelung nach deutschem Vorbild, sprich
ohne individuelle Prüfung, zu ermöglichen.15
Bei den Rechtsfolgen der Einreise über einen sicheren Drittstaat bleiben
Gestaltungsspielräume. Gem. Art. 25 II c) AsylVfRL kann Unzulässigkeit
angenommen werden; dann würde gem. Art. 25 I AsylVfRL eine Prüfung vollständig
unterbleiben. Hier hat sich offenbar Berlin durchgesetzt, um die Rechtsfolge
des § 26a AsylVfG - Ablehnung ohne inhaltliche Prüfung - beibehalten zu
können. Möglich ist allerdings auch, den Antrag als unbegründet zu betrachten;
dann findet nach Art. 23 IV c) AsylVfRL nur noch ein beschleunigtes Verfahren
statt. Zu beachten ist dabei, dass die Einstufung eines Antrags als unbegründet
nur nach Prüfung durch die Asylbehörde erfolgen kann (Art. 29 I AsylVfRL).
Es bleibt abzuwarten, ob sich aus diesen Bestimmungen in der künftigen
Behörden- und Gerichtspraxis, feingesteuert durch den Europäischen Gerichtshof,
ein besserer Flüchtlingsschutz ergeben wird. Nicht von der Hand zu weisen
sind jedenfalls Befürchtungen von Flüchtlingsorganisationen, Drittstaatenregelungen
auf europäischer Ebene könnten zu Kettenabschiebungen (refoulements) führen
sowie dazu, dass Flüchtlinge in Ländern ohne zureichendes Asylverfahren
ohne Entscheidung über ihr Schicksal hängen bleiben (in-orbit-situation).16
Dies umso mehr, als die Riege potentieller zukünftiger "sicherer" Drittstaaten
an Europas Ostgrenze Böses ahnen lässt: Weißrussland und die Ukraine gelten
nicht eben als Vorbild-Demokratien, in Russland etabliert sich von Jahr
zu Jahr mehr ein autoritäres System, und auch aus dem EU-Kandidatenland
Rumänien liegen Berichte über Menschenrechtsverletzungen vor.17
Geh hin, wo du herkommst: "Sichere Herkunftsstaaten"
Ähnlichen Bedenken begegnet das in Art. 30, 30a AsylVfRL i.V.m. Anhang
II festgelegte Konzept des sicheren Herkunftsstaats. Die entsprechenden
Bestimmungen, im Laufe der Verhandlungen mehrfach überarbeitet, sehen
nunmehr eine gemeinsame "Minimalliste" sicherer Herkunftsstaaten vor,
zu denen auch die Kandidatenländer Bulgarien und - trotz der dortigen
Probleme im Umgang insb. mit der Roma-Minderheit - Rumänien gehören sollen.
Daneben eröffnet Art. 30a AsylVfRL den Mitgliedstaaten die Möglichkeit,
weiter gehende nationale Listen aufzustellen. Gebunden sind sie dabei
nicht mehr - wie im Kommissionsentwurf vorgesehen - daran, dass das betreffende
Land grundlegende Menschenrechtsnormen beachtet und die Grundsätze der
Rechtsstaatlichkeit und Demokratie wahrt, was u.a. das Recht zur Gründung
von Gewerkschaften beinhalten sollte.18 Als "sicher" soll ein Herkunftsstaat
gemäß dem neuen Anhang II bereits gelten, wenn sich "nachweisen lässt,
dass dort generell und durchgängig weder Verfolgung noch Folter oder unmenschliche
Behandlung zu befürchten sind". Die Wahrung der Menschenrechte gemäß EMRK
ist bei der Entscheidung zwar zu berücksichtigen, aber nicht mehr Hauptkriterium.
Zudem können ausdrücklich auch Teile des betreffenden Staates für sicher
erklärt werden - die "inländische Fluchtalternative" der deutschen Verwaltungsrechtsprechung
lässt grüßen. Auch bei "sicheren Herkunftsstaaten" soll zwar im Einzelfall
geprüft werden, ob das Land in bezug auf den Flüchtling tatsächlich sicher
ist. Die Beweislast hierfür weist die Richtlinie aber ausdrücklich den
Asylsuchenden zu: Sie müssen "schwer wiegende Gründe" vortragen, warum
ihr Herkunftsland ihnen unzureichenden Schutz bietet.
Der Antrag eines Flüchtlings aus einem "sicheren Herkunftsland" wird gem.
Art. 30b II AsylVfRL als unbegründet angesehen und somit nur noch im beschleunigten
Verfahren geprüft (Art. 23 IV c) AsylVfRL).
Rechtsschutz: Ablehnung im Schnellverfahren?
Gemäß Art. 38 AsylVfRL steht AsylbewerberInnen das Recht auf einen wirksamen
Rechtsbehelf vor einem Gericht zu - mit Betonung auf "einem", ein mehrinstanzliches
Verfahren ist nicht vorgesehen. Rechtsmittel können gegen die Entscheidung
über den Asylantrag eingelegt werden, aber auch gegen dessen Zurückweisung
z. B. wegen Einreise über "sichere" Drittstaaten.
Skandalös ist, dass den Mitgliedsstaaten generell überlassen bleibt, zu
regeln, ob Asylsuchende das Ende des Rechtsmittelverfahrens im Lande abwarten
dürfen oder vorher abgeschoben werden können (Art. 38 III a) AsylVfRL).
Dies widerspricht angesichts zahlreicher vor Gericht kassierter Entscheidungen
der Asylbehörden der völkerrechtlichen Pflicht zu effektivem Flüchtlingsschutz.
Der Kommissionsentwurf hatte noch ein grundsätzliches Bleiberecht - mit
Ausnahmen beim beschleunigten Verfahren - vorgesehen.19
Die zahlreichen Möglichkeiten, einen Asylantrag in einem solchen beschleunigten
Verfahren zu bearbeiten, wurden scharf kritisiert.20 Art. 23 IV AsylVfRL
nennt gut 20 Fallkonstellationen, in denen den Mitgliedsstaaten Flüchtlingen
ein reguläres Asylverfahren verweigern können. Die Voraussetzungen dafür
sind teils extrem dehnbar und lassen einen exzessiven Gebrauch befürchten:
So soll schon die verspätete Antragstellung "ohne ersichtlichen Grund"
(Art. 23 IV i) AsylVfRL) oder die Weigerung, sich Fingerabdrücke abnehmen
zu lassen (Art. 23 IV n) AsylVfRL), die Entscheidung im beschleunigten
Verfahren erlauben. Aber auch die Einreise über einen "sicheren Drittstaat"
oder ein "sicherer Herkunftsstaat" können ins beschleunigte Verfahren
führen. Aussagen zur Ausgestaltung des beschleunigten Verfahrens finden
sich in der Richtlinie keine mehr. Der ursprüngliche Entwurf hatte z.B.
eine Verfahrenshöchstdauer von drei Monaten festgelegt - mit der interessanten
Rechtsfolge, dass bei Überschreiten der Frist Anspruch auf ein reguläres
Verfahren entstand.21
Es bleiben wenige positive Punkte: So schreibt der Richtlinienentwurf
für Minderjährige ein Alter von unter 18 Jahren fest (Art. 2 lit. h AsylVfRL)
- das deutsche Konstrukt der "Asylmündigkeit" mit 16, das es erlaubt,
Jugendliche im Asylverfahren wie Erwachsene zu behandeln, wird daran hoffentlich
scheitern. Zudem soll unbegleiteten Minderjährigen im Verfahren einE VertreterIn
bestellt werden (Art. 15 AsylVfRL).
Nach Art. 13 Abs. 2 AsylVfRL steht dem Flüchtling bei einem ablehnenden
Bescheid eine kostenlose Rechtsberatung zu. Außerdem soll der UNHCR in
jedem Stadium des Verfahrens Zugang zu Betroffenen und Möglichkeit zur
Stellungnahme haben (Art. 21 AsylVfRL). Diese Bestimmungen könnten die
Stellung von Flüchtlingen im Verfahren erheblich verbessern - abzuwarten
bleibt aber ihre konkrete Umsetzung in nationales Recht. Denn denkbar
ist nach dem Wortlaut auch, dass der Rechtsrat statt von AnwältInnen oder
unabhängigen Beratungsstellen von behördlichen Stellen erteilt wird. Und
ob der UNHCR Zugang zum Flüchtling bekommt oder umgekehrt der Flüchtling
einen Anspruch, vom UNHCR gehört zu werden, ist ein gravierender Unterschied.
Die EU-Anerkennungsrichtlinie
Die EU-Anerkennungsrichtlinie unterscheidet zwei Schutzniveaus: Flüchtlingsstatus
und subsidiären Schutz. Die Definition für Flüchtlinge in Art. 2 c) AnerkRL
lehnt sich fast wortgleich an die in Art. 1 GK an: Flüchtling ist demnach,
wer sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen bestimmter persönlicher
Merkmale (Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung, Zugehörigkeit
zu einer sozialen Gruppe) außerhalb seines Heimatlands aufhält.
Subsidiären Schutz kann erlangen, auf wen die genannte Definition nicht
zutrifft, wenn sie/er sich aus begründeter Furcht vor Todesstrafe, Folter,
unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder individueller Bedrohung
infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts auf
der Flucht befindet (Art. 2 e) i.V.m. Art. 15 AnerkRL). Die im ursprünglichen
Kommissions-Entwurf enthaltene Bedrohung durch systematische oder allgemeine
Menschenrechtsverletzungen22 wird nicht mehr erwähnt.
Einschränkungen enthält die Richtlinie insoweit, als auch sie das Konzept
der inländischen Fluchtalternative anerkennt (Art. 8 AnerkRL) und Nachfluchtgründe
nur bedingt akzeptiert (Art. 5 i. V. m. Art. 4 III d) AnerkRL). Zudem
muss der Flüchtling seine Fluchtgründe selbst beweisen - und dies "so
schnell wie möglich", einschließlich Nachweis des Reisewegs (Art. 4 I
AnerkRL). Auch eine Reihe von Ausschlussgründen sind in Anlehnung an Art.
1 F GK aufgenommen: Keinen Flüchtlingsschutz erhält, wer unter dem Schutz
des UNHCR oder eines anderen Staates steht, wer sich selbst schwer wiegende
Menschenrechtsverletzungen hat zuschulden kommen lassen oder wer schwere
nichtpolitische Straftaten begangen hat; auch politisch motivierte Taten
können als nichtpolitisch eingestuft werden, wenn sie durch "grausame
Handlungen" begangen wurden (Art. 12 AnerkRL). Ähnliche Beschränkungen
gelten für den subsidiären Schutz (Art. 17 AnerkRL).
An die verschiedenen Schutzniveaus knüpft die Richtlinie unterschiedliche
Rechte. Flüchtlinge i. S. v. Art. 2 c) AnerkRL erhalten einen verlängerbaren
Aufenthaltstitel von mindestens dreijähriger Dauer (Art. 24 I AnerkRL).23
Weitere Rechte orientieren sich an der GK und umfassen u.a. den uneingeschränkten
Zugang zum Arbeitsmarkt, zu sozialen, medizinischen und integrativen Leistungen
(Art. 26 ff. AnerkRL).
Personen mit subsidiärem Schutzstatus sollen einen mindestens einjährigen
Aufenthaltstitel erhalten (Art. 24 II AnerkRL); i.ü. genießen sie gleiche
Rechte wie Flüchtlinge. Zugang zum Arbeitsmarkt wird ihnen jedoch nur
nach einer Vorrangprüfung zugunsten von InländerInnen gewährt (Art. 26
III 2 AnerkRL). Der ursprünglich mit einjähriger Verzögerung vorgesehene
Zugang zu Integrationsleistungen wird nunmehr nur noch eingeräumt, "wenn
die Mitgliedstaaten es für sinnvoll erachten" (Art. 33 II AnerkRL).
Anerkennung geschlechtsspezifischer und nichtstaatlicher
Verfolgung
Hervorstechend im Vergleich zur (noch) geltenden deutschen Rechtslage
ist, dass die AnerkRL grundsätzlich auch geschlechts- bzw. kinderspezifische
sowie nichtstaatliche Verfolgung als Schutzgrund anerkennt. Diese Sicht
entspricht dem Sinn der GK und der von vielen Staaten geübten Praxis;
in Deutschland stellte sie bislang ein Politikum dar und bildete einen
der Gründe für den verzögerten Erlas der Richtlinie: Offenbar wollte der
Innenminister im innenpolitischen Poker mit der Opposition um das Zuwanderungsgesetz
nicht auf Verhandlungsmasse verzichten.24
Die Anerkennung nichtstaatlicher Verfolgung ist explizit geregelt (Art.
6 c) AnerkRL) und setzt voraus, dass der Staat nicht willens oder in der
Lage ist, Schutz vor der Verfolgung zu gewähren. Hingegen wird geschlechtsspezifische
Verfolgung nicht als eigenständiger Fluchtgrund, sondern lediglich als
Merkmal für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe anerkannt
(Art. 10 I d) AnerkRL). Da eine solche Gruppe sich grundsätzlich noch
über weitere Merkmale definieren muss,25 bleibt offen, inwieweit die Regelung
z.B. Opfern von Genitalverstümmelung Schutz bieten können wird. Der neue
deutsche § 60 I AufenthG geht hier weiter und gewährt Abschiebeschutz
allein wegen geschlechtsbezogener Verfolgung.
Europa: In Zukunft lieber ohne Flüchtlinge?
Eine Bewertung des derzeitigen Zwischenstandes der europäischen Rechtsharmonisierung
in der Asylpolitik fällt gemischt aus: Die deutsche Drittstaatenregelung
wird - so ist zu hoffen - in ihrer bisherigen rigiden Form keinen Bestand
haben. Allerdings ist hier die endgültige Fassung der Verfahrensrichtlinie
abzuwarten. Zudem wurde die Einigung von Luxemburg mit weit reichenden
Bestandsgarantien für nationale Regelungen erkauft.26
Die ausdrückliche Anerkennung nichtstaatlicher und geschlechts- sowie
kinderspezifischer Verfolgung als Asylgründe ist zu begrüßen und sollte
in der BRD zumindest zu einer Angleichung an internationale Standards
führen.
Ansonsten ist wenig Positives zu erkennen: Das europäische Asylrecht,
wie es in den Entwürfen aufscheint, bietet zahlreiche Ansatzpunkte, um
es zu einem Asylverhinderungsrecht zu machen. Hinzu kommt der erklärte
Wille der Politik, Schutzsuchende vor Europas Toren zu stoppen, etwa durch
den von Tony Blair entworfenen und von Otto Schily seit dem "Cap Anamur"-Vorfall
beharrlich weiter verfolgten Vorschlag, Flüchtlinge in Lagern in Nordafrika
zu internieren, um sie nach kurzer Prüfung ihrer Fluchtgründe in ihre
Heimatregionen zurückzuführen.
Die Abschottung Europas geht weiter.
Heiko Habbe ist Referendar in Schleswig-Holstein und in
einem ehrenamtlichen Projekt in der Beratung von Flüchtlingen tätig.
Anmerkungen:
1 Zur Vorgeschichte: von Alemann, FoR 2001, 112, 112f.
2 Vgl. Pro Asyl, Europäische Asylpolitik, S. 2; von Alemann, a.a.O., 114.
3 Vgl. Pro Asyl, Der europäische Kontinent ohne Flüchtlinge?, 3 f.
4 Ratsdokument 8043/04, über www.europa.eu.int.
5 Ratsdokument 0771/04, über www.europa.eu.int.
6 VO (EG) Nr. 343/2003 v. 18.2.2003, ABl. EG Nr. L 50, 1 ff.
7 VO (EG) Nr. 2725/2000 v. 11.12.200, ABl. EG Nr. L 316, 1 ff.
8 RL 2003/9/EG v. 27.1.2003, ABl. EG Nr. L 31, 18 ff.
9 RL 2001/55/EG v. 20.7.2001, ABl. EG Nr. L 212, 12 ff.
10 Vgl. amnesty international, Gemeinsame Stellungnahme 2004, 5.
11 Übersicht bei Schröder, Osterweiterung der EU und sichere Drittländer
in Osteuropa, in: Der Schlepper 28/04, über www.frsh.de.
12 Hailbronner, Auswirkungen der Europäisierung des Asyl- und Flüchtlingsrechts
auf das dt. Recht, in: ZAR 2003, 299, 302.
13 Vgl.d. geänd. Kommissionsvorschlag, KOM(2002) 326/2 endg., ABl. EG
Nr. C 291, 143 ff.
14 So auch Renner, ZAR 2003, 88, 90.
15 Hailbronner, a.a.O., 303.
16 European Council on Refugees and Exiles (ECRE) u.a.: Call for withdrawal
of the Asylum Procedures Directive, 22.3.2004, 2 f, über www.ecre.org.
17 Vgl. amnesty international u. a. (Hg.): Gemeinsame Stellungnahme zum
Entwurf der EU-Asylverfahrensrichtlinie (2004), 4, über www.europa-von-unten.org.
18 Anhang II zu KOM (2002) 326/2 endg. (Fn. 13).
19 Art. 40 RL-Entwurf (Fn. 13).
20 Pro Asyl, Der europäische Kontinent ohne Flüchtlinge?, 2.
21 Art. 24 III RL-Entwurf (Fn. 13).
22 Art. 15 c) RL-Entwurf - KOM 2001/510 endg., ABl. EG Nr. C 51 E, 325
ff.
23 Der RL-Vorschlag aus dem Jahr 2002 sah fünf Jahre vor.
24 Vgl. Pro Asyl, Europäische Asylpolitik, 3 f.
25 Lehnguth, ZAR 2003, 305, 306 f.
26 Migration und Bevölkerung, 4/2004, 1, hrsg. vom Netzwerk Migration
in Europa, über www.network-migration.org.
Literatur:
von Alemann, Florian: Die Festung wird umgebaut, in: Forum
Recht 2001, 112-115.
Lehnguth, Gerold: Erläuterungen zum Vorschlag einer EU-"Anerkennungsrichtlinie",
in: Zeitschrift für Ausländerrecht und -politik (ZAR) 2003, 305-308.
Pro Asyl (Hg.): Europäische Asylpolitik - Minimale Standards, maximale
Abschottung (2004), über www.proasyl.de.
Pro Asyl (Hg.): Der europäische Kontinent ohne Flüchtlinge? - Zum
aktuellen Stand der Asylpolitik in der Europäischen Union (2003), über
www.proasyl.de.
Renner, Günter: Europäische Mindestnormen für Asylverfahren, in:
ZAR 2003, 88-96.
|
|