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Das Massaker von Oradour   Heft 4/2004
unmenschlich -
Migrationspolitik

Seite 137
Ein Beispiel für das Versagen der juristischen Aufarbeitung von NS-Verbrechen  
 

Der 10. Juni 1944 ist ein denkwürdiges Datum für NS-Kriegsverbrechen. Am selben Tag, an dem eine SS-Polizeidivision im griechischen Dorf Distomo ein Massaker an der Zivilbevölkerung verübte, für das Hinterbliebene sich heute - auch gerichtlich - um Entschädigung bemühen1, überfiel die SS-Panzerdivision "Das Reich" die Ortschaft Oradour-sur-Glane in Frankreich.
Die Bewohnerinnen und Bewohner des Ortes wurde erschossen, erhängt oder erstickt, anschließend wurde das Dorf niedergebrannt. Nur fünf der 642 EinwohnerInnen des Ortes überlebten das schreckliche Geschehen. Bis heute sind die Ruinen des Dorfes als Mahnmal erhalten.
Die Bewohnerinnen und Bewohner des Ortes wurde erschossen, erhängt oder erstickt, anschließend wurde das Dorf niedergebrannt. Nur fünf der 642 EinwohnerInnen des Ortes überlebten das schreckliche Geschehen. Bis heute sind die Ruinen des Dorfes als Mahnmal erhalten.

Juristische Nichtaufarbeitung

Dabei war das Geschehen von Oradour in seinem gesamten Ausmaß schon früh bekannt. Als Beweisdokumente für "Kriegsverbrechen gegen Kriegsgefangene und Zivilisten" war das Massaker Gegenstand der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, auch wenn sich unter den Angeklagten keine Beteiligten an diesen Taten befanden. Als Bestandteil des Beweisvortrages der französischen Anklage wurde ein noch für die Vichy-Regierung erstellter Bericht über das Massaker verlesen, der das damalige Geschehen ohne Beschönigungen darstellt.2 An fehlendem Tatsachenmaterial für eine juristische Aufarbeitung mangelte es also nicht.
Der erste Prozess gegen einen Teil der Täter fand 1953 in Bordeaux statt. In Abwesenheit wurde hier auch gegen die verantwortlichen Kommandeure, u.a. gegen den SS-Brigadeführer Heinz Lammerding, Hauptsturmführer Otto Kahn sowie Obersturmführer Heinz Barth verhandelt. Alle wurden in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Weitere Urteile ergingen gegen beteiligte Elsässer. Allerdings wurde der Großteil von diesen nach Protesten aus dem Elsass nur wenig später durch das französische Parlament amnestiert.3
Art. 16 Abs. 2 Grundgesetz verbot seit 1949 die Auslieferung von Deutschen an das Ausland, so dass eine Verurteilung der Täter durch ausländische Gerichte unterblieb. Auch die Alliierten zogen sich schon bald nach Gründung der Bundesrepublik aus der Verfolgung der Nazi-Verbrecher zurück, die Aburteilung wurde vollständig dem neuen Staat übertragen, und zwar auch bei Taten, die im Ausland bzw. an AusländerInnen begangen wurden.4
In der alten Bundesrepublik wurden die Verantwortlichen des Massakers von Oradour jedoch nicht vor Gericht gestellt. Die Staatsanwaltschaften stellten die Ermittlungsverfahren ein. Dabei stützten sie sich auf die Behauptung, der damalige Bataillonskommandeur, Sturmbannführer Adolf Diekmann, trage die alleinige Verantwortung. Diekmann war jedoch nach dem Massaker noch vor Kriegsende an der Front gestorben. Lammerding, nach dem die Franzosen fahndeten, konnte zunächst untertauchen und wurde dann in der amerikanischen Besatzungszone vor weiterer Verfolgung geschützt. Kahn konnte sich absetzen.5

Verantwortung

Allein Heinz Barth wurde 1983 für seine Taten in Oradour in der DDR zur Verantwortung gezogen. Das Stadtgericht Berlin legte ihm als einem der leitenden Offiziere zur Last, an dem Massaker durch "Befehlsausführung, Befehlserteilung, eigenhändige Erschießung und [...] die Kontrolle seiner Untergebenen"6 beteiligt gewesen zu sein. Er wurde wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach Art. 6 des Statuts des Internationalen Militärtribunals, das nach der Verfassung der DDR unmittelbar geltendes Strafrecht war, zu lebenslanger Haft verurteilt.
Ein Strafausschließungs- oder Strafmilderungsgrund wegen Handelns auf Befehl, mit dem sich Barth zu verteidigen suchte, wurde verneint, weil Barth "sich in keinerlei innerem Widerspruch zu dem erteilten Vernichtungsbefehl befand, sondern mit diesem absolut übereinstimmte".7 1997 wurde Barth wegen seines hohen Alters und seiner angeschlagenen Gesundheit aus der Haft entlassen.8
Die juristische Nichtaufarbeitung des Massakers von Oradour in der alten Bundesrepublik zeigt den Umgang der Nachkriegszeit mit NS-Tätern nur exemplarisch. Die angewendeten juristischen Schachzüge, die dem Großteil der überlebenden Verbrecher ein recht unbehelligtes Leben in Westdeutschland ermöglichten, sind beispiellos.9
Offizielle Entschuldigungen, wie sie der Bundeskanzler im Juni 2004 für die Taten von Oradour aussprach, haben vor allem symbolische Bedeutung, können das Defizit an juristischer Aufklärung aber nicht beheben. Ernsthafte Verantwortung wird sich anders ausdrücken müssen, beispielsweise im Anerkennen von Entschädigungsansprüchen.

Claudia Perlitius ist Referendarin in Berlin.

Anmerkungen:

1 Vgl. Rehmke, Stephen, Deutsche Sühne, Forum Recht 2003, 136.
2 Nürnberger Prozesse: Beweisvorträge der Anklagebehörde, www.bz.nuernberg.de/bzshop/publikationen/nproz/nproz.html (19.09.2004).
3 taz v. 10.06.2004, 3; Stern v. 11.06.2004.
4 Müller 1987, 242.
5 taz v. 10.06.2004, 1; Stern v. 11.06. 2004.
6 Dokumentation, 5. Rechtliche Würdigung.
7 Dokumentation, Fn. 7.
8 Jungle World v. 16.09.1997.
9 Hierzu Müller 1987, 204 ff, 240 ff.

Literatur:

Müller, Ingo, Furchtbare Juristen - Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz, 1987
Dokumentation DDR-Justiz und NS-Verbrechen der Universität Amsterdam (zit. Dokumentation): www1.jur.uva.nl/junsv/Excerpts/ddr1009000.htm (19.09.2004)