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  Thilo Scholle   Forum Recht Home

 

Der Streit ums Kopftuch in Frankreich   Heft 4/2004
unmenschlich -
Migrationspolitik

Seite 128
 
 

Die Frage, welche religiösen Symbole in der öffentlichen Schule zulässig sein sollen, bildete zuletzt einen der Schwerpunkte der politischen Diskussion in Frankreich. Anders als in der Bundesrepublik ging es dabei nicht um die Frage von Kreuzen im Klassenzimmer oder um das Kopftuch einer Lehrerin. Beides ist auf Grund des in der Verfassung von 1958 verankerten Prinzips der Laizität - der strikten Trennung von Staat und Religion - undenkbar. Im Mittelpunkt der Debatte stand die Frage, ob Schülerinnen und Schüler durch ihre Bekleidung ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion in der Schule ausdrücken dürfen. Offensichtlich ist dabei, dass es hier in erster Linie um die Frage des Kopftuchs ging.
Mit der Verabschiedung eines Gesetzes mit großer Mehrheit durch die Nationalversammlung am 10. Februar 2004 hat die Debatte in der Politik einen ersten Abschluss gefunden. Demnach ist ab dem Schuljahr 2004/2005 das Tragen "offenkundiger" ("ostensible") religiöser Symbole im Schulraum verboten. Begründet wird dies v.a. mit dem Hinweis darauf, dass in "einer Schule für Alle" nur der Verzicht des oder der Einzelnen auf offensichtliche Zeichen der Zugehörigkeit zu einer Religion die freie Entfaltung und Entwicklung aller Schülerinnen und Schüler - auch in religiöser Hinsicht - sichert.
Ein Ende der öffentlichen Auseinandersetzung ist mit der Verabschiedung des Gesetzes nicht zu erwarten. Zudem stimmen offizielle Begründung und tatsächliche Motivation zumindest bei einem Teil der BefürworterInnen der gesetzlichen Regelung nicht überein. Hintergrund der Debatte ist die vielfach missglückte Integration der Einwanderinnen und Einwanderer vor allem aus Nordafrika, deren soziale Lage und gesellschaftliche Stellung auch für die in Frankreich geborenen Generationen immer noch weit vom Durchschnitt der Bevölkerung entfernt ist. Hinzu kommt die Sorge vor einem wachsenden Einfluss fundamentalistischer islamischer Gruppen auf diese verlorene Generation von Jugendlichen in den Vorstädten.

Das Prinzip der Laizität in Frankreich

Als Gründungsakte der Laizität in Frankreich gilt das Gesetz zur Trennung von Staat und Kirche von 1905, verabschiedet nach langen und harten Auseinandersetzungen mit der katholischen Kirche. Das Prinzip der Laizität fand danach Eingang in die Verfassungen von 1946 und 1958 und zählt seitdem zu den Grundwerten der Republik. Eine völlige Verbannung der Religion aus dem öffentlichen Raum findet allerdings auch in Frankreich nicht statt. Die Mehrzahl der Feiertage sind christlichen Ursprungs, religiöse Privatschulen sind zugelassen und werden vom Staat mit finanziert.
Das Konfliktpotential des Kopftuches wurde erstmals 1989 deutlich. Als Reaktion auf den Schulverweis einer kopftuchtragenden Schülerin wurde der Ruf nach einer politischen Lösung der Frage laut. Per Erlass ist seitdem das Tragen des Kopftuches zwar nicht grundsätzlich untersagt, im Einzelfall aber - beispielsweise wenn mit dem Kopftuch andere Schülerinnen und Schüler zum Islam bekehrt werden sollen - ein Schulverweis möglich.
Wie viele Konfliktfälle an öffentlichen Schulen tatsächlich auftreten, ist nicht genau erfasst. Das Bildungsministerium spricht von 150 problematischen Fällen im Jahr 2003.1 Nur wenige der Fälle enden vor den Verwaltungsgerichten, von einem Schulausschluss waren im Schuljahr 2003/2004 sechs Schülerinnen betroffen. Im Falle eines Ausschlusses aus der Schule besteht teilweise die Möglichkeit, am Angebot des Nationalen Zentrums für Fernunterricht (CNED) teilzunehmen oder sich zu Hause unterrichten zu lassen. Für die Mehrzahl der ausgeschlossenen jungen Frauen endet auf Grund der ungleich schwierigeren Lernsituation die Schullaufbahn damit weit vor der allgemeinen Hochschulreife. Erheblich größer dürfte die Anzahl von Kopftuchträgerinnen an katholischen Privatschulen sein, an denen das Tragen religiöser Symbole erlaubt ist.

Der Gang der Debatte im Jahr 2003

Im Sommer 2003 setzte Staatspräsident Jacques Chirac eine Kommission unter Leitung des christdemokratischen Politikers Bernard Stasi ein. Der am 12. Dezember 2003 veröffentlichte Bericht spricht sich unter anderem für ein Verbot des Tragens religiöser Symbole durch Schülerinnen und Schüler aus. In der Forderung nach einem Verbot wird vor allem die Sorge um einen Verlust an republikanischer Identität deutlich. Eine religiös motivierte Ablehnung von Unterrichtsfächern wie dem Sexualkunde- oder dem Sportunterricht, die Ablehnung der Beschäftigung mit bestimmten historischen Fragestellungen wie dem Holocaust im Unterricht oder eben auch das Tragen religiöser Kleidung brächten diese Identität in Gefahr. Chirac schlug darauf hin ein Gesetz zum Verbot religiöser Zeichen bei Schülerinnen und Schülern vor.
Die Konfliktlinien der anschließenden Debatte verliefen zum Teil quer durch politische Lager sowie die traditionell für eine Trennung von Staat und Religion eintretenden Organisationen.
Auf Seiten der BefürworterInnen des Gesetzes fanden sich neben jenen, die im Prinzip der Laizität die unabdingbare Vorraussetzung für die freie - auch religiöse - Entfaltung aller sehen2 vor allem Frauenrechtlerinnen. Das Kopftuch sei eben nicht Symbol des Islam sondern Symbol der Unterdrückung der Frau. Ein Verbot an Schulen wäre ein erster Schritt, aufgeklärten Musliminnen und Muslimen das Leben ihres Glaubens ohne die Stigmatisierung durch das Kopftuch zu ermöglichen.3 Daneben spielte auch hier das Argument, das Anwachsen des politischen Islams sowie den Rückzug von MuslimInnen in eigene Subkulturen zu stoppen, eine Rolle. Ein weiterer Faktor ist schlicht die Ablehnung von Einwanderung und die Angst vor Menschen mit einem anderen religiösen und kulturellen Hintergrund.
Auf Seiten der GegnerInnen fanden sich sehr unterschiedliche Koalitionen, deren ideelle Ausgangsbasis und Kritikpunkte nicht miteinander kompatibel sind. So sprachen sich beispielsweise antirassistische Organisationen gegen das Gesetz aus, weil sie ihrerseits eine weitere Stigmatisierung muslimischer Französinnen und Franzosen befürchten. Außerdem nehme ein Verbot gerade jungen Frauen jede Chance, sich über den Bildungsweg zu emanzipieren, und werfe sie statt dessen in die Arme der FundamentalistInnen. Eine Verabschiedung des Gesetzes vor diesem Hintergrund gefährde das Prinzip der Laizität anstatt es zu festigen. Der Soziologe Bruno Latour wies darauf hin, das mit dem Verbot bestimmter Kleidungsstücke ein gewissermaßen negativer "Bekleidungskodex der Republik" festgelegt werde, der eindeutig die Kleidung mancher Französinnen mit Migrationshintergrund ausschließe.4 Daneben machten aber auch fundamentalistische Gruppen geltend, ein Kopftuchverbot gefährde die Ehre der Frau. Die Teilnehmerschaft an den öffentlichen Demonstrationen war deshalb sehr heterogen.
Für viele geht es bei dem Gesetzesprojekt nicht um ein alle Religionen gleichermaßen betreffendes Prinzip, sondern um einen erneuten Versuch, Menschen mit Migrationshintergrund noch weiter an den Rand der französischen Gesellschaft zu drängen, indem ihnen und ihrer Religion gewissermaßen die Kompatibilität mit den Werten und Gesetzen der Republik abgesprochen wird.

Die Situation junger Menschen in den Vorstädten

Dabei hat die Ausgrenzung v.a. der jungen Generation in den Vorstädten schon ein Ausmaß erreicht, das bedrückende Folgen hat. Überproportional getroffen von sozialer Ausgrenzung und trotz ihrer französischen Staatsbürgerschaft konfrontiert mit dem alltäglichen institutionalisierten Rassismus sowie im Bewusstsein, von der Politik nur als Problem wahrgenommen zu werden, hat sich - zum Teil unter Rückbesinnung auf den Islam oder das, was als die Werte der Herkunftskultur wahrgenommen wird - eine eigene Subkultur entwickelt. Für viele junge Frauen mit dramatischen Konsequenzen: Die männlichen Jugendlichen eines Wohnviertels verstehen sich demnach als Beschützer der Ehre der Mädchen und v.a. der des Viertels. Begibt sich eine junge Frau selbst dieser Ehre, beispielsweise durch Geschlechtsverkehr mit ihrem Freund oder durch zu frivole Kleidung, so ist sie Schikanen der Gruppe ausgesetzt, bis hin zu körperlicher Gewalt und Vergewaltigung.5 Sich frei zu entfalten und zu entwickeln wird angesichts des durch solche Übergriffe erzeugten Klimas in diesen Stadtvierteln schier unmöglich.

Das Kopftuchverbot: Symbolische Politik

Die Trennung von Staat und Kirche ist in Frankreich zum Teil eine politische Glaubensfrage, und damit hoch emotionalisiert. Auf Seiten der politischen Linken schwingt der Wille mit, das Erbe des Sozialisten Jean Jaurès und anderer zu verteidigen, die vor 100 Jahren die Trennung von Staat und katholischer Kirche auf den Weg gebracht haben. Wie sich eine moderne und säkulare Industriegesellschaft und Gruppen, die religiöse Vorstellungen und Praktiken in jeder Lebenssituation befolgen wollen, zu einander verhalten können, ist in der Tat eine interessante Fragestellung.
Ob das Gesetz tatsächlich die Gleichberechtigung von Frauen und Männern sicherstellt, ist fraglich. Zwar ist richtig, dass damit junge Frauen, die das Kopftuchgebot ablehnen, unterstützt werden. Die Motivationen für das Tragen des Kopftuchs sind aber zumeist Vorstellungen eigener religiöser und kultureller Identität, oder der Versuch, einen Spagat zwischen den kulturellen Vorgaben des Elternhauses und denen der französischen Gesellschaft hinzubekommen. Das Verbot könnte hier eher zu einem Abbruch der Schullaufbahn oder zum Wechsel auf eine Privatschule führen. Im Ergebnis ähnlich dürfte die Lage in Fällen elterlichen Kopftuchzwanges sein.
Zudem verstärkt das Gesetz bei vielen Menschen mit Migrationshintergrund das Gefühl, zum wiederholten Male stigmatisiert und ausgegrenzt zu werden. Ohne eine soziale Perspektive v.a. für die Vorstädte der großen Städte und ohne einen konsequenten Kampf gegen institutionalisierten Rassismus wird sich hieran nichts ändern. Zumindest unter der augenblicklichen konservativen Regierung sind solche Maßnahmen nicht zu erwarten. Nur mit Hilfe solcher Maßnahmen ließe sich aber die Situation gerade junger Frauen dort wirklich verbessern.
Die Verabschiedung des Gesetzes ist damit ein gutes Beispiel für symbolische Politik seitens der Regierung Chirac. Handlungsfähigkeit wird vorgespiegelt, ohne ein Problem zu lösen. Die politische Thematisierung von Einwanderung und Integration wird fast ausschließlich auf dem Rücken der Menschen mit Migrationshintergrund ausgetragen, während die Thematisierung des fortgesetzten sozialpolitischen Versagens des französischen Staates unterbleibt.
Eigentliche Zielgruppe dieses Gesetzes wären damit am Ende weniger diejenigen, die täglich mit dem Sachverhalt zu tun haben - Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler mit oder ohne Kopftuch. Eigentliche Adressatin wäre damit eher jene (große) Gruppe französischer Wählerinnen und Wähler, die sich durch Menschen aus anderen Ländern bedroht fühlen und die ein Zeichen gegen die "Überfremdung" des Landes erwarten. Zwar erlitten die Konservativen bei den Regionalwahlen im März 2004 eine deutliche Wahlniederlage. Das gute Abschneiden des rechtsextremen Front National - der in einigen Regionen über 20 % der Stimmen erhielt - unterstreicht aber, dass Wählerinnen und Wähler mit solchen Themen durchaus gewonnen werden können.

Thilo Scholle war 2003/2004 im Rahmen eines Erasmus-Programms in Paris.

Anmerkungen:

1 Libération, 03.02.2004.
2 Vgl. Pena-Ruiz, Henri, Le Monde Diplomatique, 2/2004.
3 Djavann, Chahdortt, Libération, 29.01.2004.
4 Frankfurter Rundschau, 05.02.2004
5 Vgl. Amaram, Fadela, Ni putes ni soumises, 2003.