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Die Steilvorlage ist angekommen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG)
hatte im Februar 2004 die von einigen Bundesländern im Jahr 2002 eingeführte
nachträgliche Sicherungsverwahrung für verfassungswidrig erklärt.1 Diese
Regelungen sollten es ermöglichen, bestimmte StraftäterInnen nach Verbüßung
ihrer Freiheitsstrafe aufgrund nachträglicher gerichtlicher Anordnung
zur Verhinderung weiterer schwerer Straftaten im Gewahrsam zu behalten.
Nach Auffassung des Gerichts wäre dies zwar materiell verfassungsgemäß
gewesen, verstieß aber gegen die Kompetenzordnung des Grundgesetzes, da
es sich nicht - wie von den Ländern und Teilen der einschlägigen Literatur
behauptet - um Gefahrenabwehrrecht, sondern um das bundesgesetzlich zu
regelnde Strafrecht handelte.2
Konsequenz dieser Feststellung hätte eigentlich die Nichtigkeit der entsprechenden
Regelungen sein müssen, mit der Folge der umgehenden Freilassung der zur
Zeit fünf betroffenen Häftlinge. Das BVerfG entschied jedoch - in diesem
Teil des Urteils nur mit einer Mehrheit von fünf zu drei Stimmen -, dass
die verfassungswidrigen Regelungen bis Ende September 2004 anwendbar bleiben
sollten, damit der Bundesgesetzgeber Gelegenheit erhalte, eine Entscheidung
über die bundesgesetzliche Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung
zu treffen.
Dieser hat die Vorlage aufgenommen und in einem abgekürzten Gesetzgebungsverfahren
mit Wirkung vom 29. Juli 2004 eine entsprechende Regelung in das Strafgesetzbuch
eingefügt. Alles in Ordnung? Keineswegs. Mit der Fortgeltungsanordnung
hat das BVerfG massiv seine Kompetenzen überschritten und unfreiwillig
offenbart, wie sehr die immer so viel gepriesene Idee des Rechtsstaats
unter Druck geraten ist. Um dies zu erläutern, muss etwas weiter ausgeholt
werden.
Demokratie und Rechtsstaat
Nach ihrer diskurstheoretischen Deutung ist Demokratie ein Verfahren
der Organisation staatlicher Herrschaft, das auf der unsicheren Hoffnung
beruht, die offene Auseinandersetzung über gesellschaftlich relevante
Themen verhelfe zumindest langfristig in irgendeiner Weise der jeweils
vernünftigeren oder gerechteren Lösung zum Durchbruch. Wir vertrauen darauf,
dass die Kraft guter Gründe sich über das demokratische Verfahren in positives
Recht verwandeln kann. Da aber zumeist höchst umstritten ist, was als
guter Grund zählt, bedarf das demokratische Verfahren der Normsetzung
einer Organisation, die nicht nur allen BürgerInnen die Möglichkeit zur
Meinungsäußerung gibt, sondern am Ende auch eine Entscheidung gewährleistet,
in der jede Stimme gleich viel zählt. Die demokratische Willensbildung
wird deshalb in ein rechtsstaatliches Korsett gezwängt. Dieses soll gewährleisten,
dass einerseits die Gesetzgebung fairen Maßstäben genügt, andererseits
aber auch nur diejenigen guten Gründe sich in Rechtsform niederschlagen
können, die eben dieses Verfahren durchlaufen haben.3
Ein Verfassungsgericht steht zu diesem Demokratiemodell dann in einem
Konkurrenzverhältnis, wenn es faktisch oder rechtlich für sich die Möglichkeit
beansprucht, eigene Entscheidungen darüber zu treffen, welche guten Gründe
rechtswirksam werden sollen. Zwar mag das Gericht über eine hohe Sachkompetenz
und seine Verfahren über eine ausgeprägte Rationalität verfügen, es fehlt
jedoch an der fairen Beteiligung aller BürgerInnen am Entscheidungsprozess.
Deshalb ist ein Verfassungsgericht zunächst darauf beschränkt, die Einhaltung
der demokratischen Verfahrensregeln sowie der Zuständigkeitsbereiche verschiedener
Staatsorgane oder -ebenen zu überwachen.
Sofern es daneben auch noch die Kompetenz hat, inhaltliche Entscheidungen
über die Vereinbarkeit eines Gesetzes mit den Grundrechten treffen, wird
zwar die Geltungsentscheidung des demokratischen Gesetzgebers über die
"richtigen Gründe" in Frage gestellt, das Gericht bleibt aber auf eine
reaktive Rolle beschränkt. Nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung darf
ein Verfassungsgericht also immer nur die Gründe des Gesetzgebers verwerfen,
in Ausnahmefällen auch Richtlinien für eine Neuregelung entwickeln, nie
dagegen sein eigenes Urteil über das richtige Recht an dessen Stelle setzen.
Freiheitsentziehung durch das BVerfG
In dem Urteil über die landesgesetzlichen Regelungen der nachträglichen
Sicherungsverwahrung hat die Mehrheit des zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts
aber genau dies getan: Es hat vermeintlich gute Gründe ohne ein demokratisches
Gesetzgebungsverfahren wirksam werden lassen und zudem den Gesetzgeber
unter einen Zugzwang gesetzt, dem sich dieser (selbst wenn er es gewollt
hätte) kaum entziehen konnte.
Doch eins nach dem anderen. Das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht
eröffnet in § 31 Abs. 2 implizit die Möglichkeit, eine für verfassungswidrig
erklärte gesetzliche Regelung vorübergehend aufrecht zu erhalten. Damit
soll verhindert werden, dass die Nichtigerklärung einer Norm zu einem
Zustand führt, der verfassungsrechtlich noch weniger tragbar erscheint
als die Fortgeltung der verfassungswidrigen Regelung.
Von dieser Vorschrift hat die Senatsmehrheit Gebrauch gemacht. Sie argumentiert,
dass die bisherige Erfahrung mit der nachträglichen Sicherungsverwahrung
einen gewissen Bedarf ("einige wenige Verurteilte") für dieses Rechtsinstitut
gezeigt habe. Der Schutz vor solchen Personen stelle einen überragenden
Gemeinwohlbelang dar. Wie er zu gewährleisten sei, unterliege dem Gestaltungsspielraum
des Gesetzgebers. Bisher habe der Bundesgesetzgeber jedoch irrtümlich
eine Kompetenz der Länder für die nachträgliche Sicherungsverwahrung angenommen
und deshalb eine Regelung unterlassen.
Nachdem nun die Bundeskompetenz festgestellt sei, müsse ihm Gelegenheit
gegeben werden, dies nachzuholen und eine Entscheidung darüber zu treffen,
ob der Schutz vor den betreffenden Personen durch die Einführung der nachträglichen
Sicherungsverwahrung oder in anderen Weise sichergestellt werden könne.
Diese Möglichkeit werde aber vereitelt, wenn die schon bisher auf Grundlage
der landesrechtlichen Regelungen sicherungsverwahrten StraftäterInnen,
für die Gutachten und Gerichte die besondere Gefährlichkeit ja schon festgestellt
hätten, in die Freiheit entlassen würden. Deshalb sei die vorübergehende
Fortgeltung der verfassungswidrigen Gesetze notwendig und in Abwägung
mit den Interessen der Betroffenen zumutbar.
Handlungsdruck wird suggeriert
Diese Argumentation ist schon deshalb fragwürdig, weil der Bundesgesetzgeber,
der 1998 und 2002 bereits Verschärfungen des Rechts der Sicherungsverwahrung
verabschiedet hatte, bisher keinesfalls wegen der vermeintlich fehlenden
Kompetenz, sondern aufgrund inhaltlicher Erwägungen auf eine den landesgesetzlichen
Vorschriften entsprechende Regelung verzichtet hat. Durch das Urteil des
BVerfG wurde deshalb ein Handlungsdruck suggeriert, der der tatsächlichen
politischen Lage gar nicht entsprach.
Die Minderheit des Senats hat denn auch in einem abweichenden Votum grundlegende
rechtsstaatliche Bedenken gegen die Entscheidung erhoben.4 Diese stützen
sich vor allem darauf, dass es einen Unterschied gebe zwischen der Überprüfung
einer gesetzgeberischen Entscheidung und der sie tragenden Gründe am Maßstab
der Verfassung einerseits, und der Ermessensentscheidung auf der Rechtsfolgenseite
andererseits. Für einen solchen originären Gestaltungsspielraum fehle
dem Verfassungsgericht die demokratische Legitimation. Dies wäre allenfalls
dann anders, wenn die Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung
verfassungsrechtlich nicht nur zulässig, sondern auch geboten sei, wenn
also der Gesetzgeber überhaupt keinen Entscheidungsspielraum über die
Mittel zum Schutz der Allgemeinheit vor rückfälligen StraftäterInnen mehr
habe. Dies habe die Senatsmehrheit jedoch gerade nicht festgestellt. Zudem
gebe es hinreichende Alternativen zum Schutz vor den entlassenen StraftäterInnen
(Führungsaufsicht, Weisungen, Observation).
Auf diese Alternativen wollte sich die Senatsmehrheit jedoch nicht einlassen.
Offenkundig entschied sie wie vorher einige Landesparlamente und hinterher
dann der Bundestag auf der Grundlage der in den letzten Jahren entstandenen
Hysterie über die vermeintlich steigende Zahl gefährlicher Gewalt- und
Sexualverbrechen. Die RichterInnen in Karlsruhe sahen wohl schon die Boulevardtitel
vor sich: "Bundesverfassungsgericht entlässt Kinderschänder in Freiheit!"
Die Überzeugungskraft "guter Gründe" hat so ungefiltert ihren Einzug in
das Recht gehalten, ohne Berücksichtigung der Tatsache, dass wir in den
letzten fünfzig Jahren gut ohne nachträgliche Sicherungsverwahrung ausgekommen
sind und ein realer Anlass für ein Umdenken überhaupt nicht bestand.
Durch die Entscheidung der Senatsmehrheit wurde - wie die Minderheit anmerkt
- den Ländern eine neue Möglichkeit mittelbarer Gesetzgebungsinitiative
eröffnet. Landesparlamente können nun außerhalb der Bahnen des Gesetzgebungsverfahrens
politisch brisante Themen wirksam auf die Tagesordnung bringen und erhalten
dafür auch noch den Segen des Verfassungsgerichts. "Indem die von den
Ländern unter Verstoß gegen die Kompetenzordnung geschaffene Tatsachenlage
für einen Übergangszeitraum aufrechterhalten wird, erhält ihr Regelungsanliegen
zudem ein Gewicht, das den Bundesgesetzgeber faktisch mit einer bestimmten
Tendenz zur Regelung drängt."5
Nacheilender Gehorsam
Dass Regierungsmehrheiten auf populistisch instrumentalisierbare Themen
reagieren, ist der Preis der Demokratie. Vielleicht hätte der Bundestag
deshalb nach dem Urteil sowieso eine nachträgliche Sicherungsverwahrung
eingeführt. Dass aber demokratisch nicht legitimierte und gleichwohl mit
hoher Autorität versehene Staatsorgane wie das BVerfG der Überzeugungskraft
vermeintlich guter Gründe auch noch Nachdruck verleihen, verletzt die
Idee des Rechtsstaats.
Und wie kaum anders zu erwarten hat sich die Prognose der Senatsmehrheit
bewahrheitet. Es finden sich nicht nur in dem Gesetzentwurf der Bundesregierung
wörtliche Zitate aus den Urteilsgründen des Mehrheitsvotums,6 auch der
zuständige Rechtsausschuss des Bundestags sah sich durch die Entscheidung
aus Karlsruhe in die Pflicht genommen. "Mit der Anordnung der Fortgeltung
dieser Landesgesetze für eine Übergangszeit [...] hat das Gericht die
Notwendigkeit solcher Regelungen unterstrichen. Es bedarf einer bundesgesetzlichen
Regelung, bevor diese Übergangsfrist abläuft."7 Diese Bezugnahme auf das
Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist falsch - auch die Senatsmehrheit
hat die nachträgliche Sicherungsverwahrung nur als mögliches, nicht als
notwendiges Mittel angesehen -, eine solche Fehlinterpretation war jedoch
angesichts der Sensibilität des Themas zu erwarten.
Tobias Lieber lebt und promoviert in Berlin.
Anmerkungen:
1 Urteil vom 10. Februar 2004, 2 BvR 834/03, 1588/02, abgedruckt in Deutsches
Verwaltungsblatt (DVBl.) 2004, 501 ff.
2 Zu dem Urteil und zur Verfassungsmäßigkeit der nachträglichen Sicherungsverwahrung
generell Mushoff, BVerfG zur Sicherungsverwahrung, Forum Recht (FoR)
2004, 66; ders., Im Zweifel gegen die Freiheit ..., FoR 2003,
131.
3 Vgl. zu einem Demokratiemodell dieser Art: Habermas, Faktizität und
Geltung, 4. Auflage 1994.
4 Vgl. BVerfG (abw. Meinung) DVBl. 2004, 508 ff. Zustimmend Gärditz,
Freiheitsentziehung durch das Bundesverfassungsgericht?, in: Neue Zeitschrift
für Verwaltungsrecht 2004, 693 ff.
5 BVerfG (abw. Meinung) DVBl. 2004, 508.
6 Gesetzentwurf vom 11. März 2004, BR-Drucksache 202/04. Dazu kritisch
Mushoff, Gesetzentwürfe zur Sicherungsverwahrung, in: FoR 2004,
104. Braum, Nachträgliche Sicherungsverwahrung: In dubio pro securitate?,
in: Zeitschrift für Rechtspolitik 2004, 105 ff.
7 Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses vom 16. Juni 2004, BT-Drucksache
15/3346, 2.
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