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Der Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien war 68 Tage alt, als er
am 30. Mai 1999 die serbische Kleinstadt Varvarin heimsuchte. Zur Mittagszeit
überflogen zwei Kampfjets der NATO den Ort und legten in zwei aufeinanderfolgenden
Attacken die alte Stadtbrücke in Schutt und Asche. Der Bombenangriff kostete
zehn Menschen das Leben, 30 weitere wurden verletzt, 17 von ihnen schwer.
Das Hauptquartier des westlichen Militärbündnisses erklärte, der Angriff
habe der "Autobahnbrücke" von Varvarin gegolten, die als "Hauptkommunikationslinie
und ein vorgesehenes, legitimes militärisches Ziel" bewertet wurde. Tatsächlich
konnte die zerstörte Brücke mit ihren gerade einmal viereinhalb Metern
in der Breite und der maximalen Belastbarkeit von zwölf Tonnen kein schweres
Kampfgerät tragen, in den Ort führte keine Fernstraße und von Militär
blieb die Ortschaft bis dato unbehelligt.
Nach den seit 1907 geltenden Regeln des internationalen Kriegsrechts,
insbesondere dem Ersten Zusatzprotokoll der Genfer Konventionen von 1977,
stellt der Überfall auf Varvarin einen Verstoß gegen das Verbot des Führens
eines unterschiedslos wirkenden, die Zivilbevölkerung oder zivile Objekte
in Mitleidenschaft ziehenden unverhältnismäßigen Angriffs dar, der nach
Art. 85 des Genfer Abkommens als Kriegsverbrechen zu ahnden und ferner
nach Art. 91 vom verantwortlichen Staat zu entschädigen ist. In Übereinstimmung
mit diesen völkerrechtlichen Vorgaben verlangten die überlebenden Opfer
und die Angehörigen der Getöteten von Deutschland insgesamt 3,5 Millionen
Euro Entschädigung und reichten Klage vor dem Bonner Landgericht ein.1
Wiedergutmachung
Bislang haben die Gerichte der Bundesrepublik Klagen von Einzelpersonen,
die als Staatsangehörige fremder Staaten Opfer deutscher Völkerrechtsverletzungen
wurden, stets abgewiesen. Wiedergutmachungsansprüche seien danach von
den jeweiligen Heimatstaaten gegenüber den verantwortlichen Staaten im
Rahmen von Reparationsabkommen geltend zu machen, individuelle Ansprüche
könnten nach der aktuellen Lage des Völkerrechts nicht durchdringen.
Die Rechtsprechung, die Wiedergutmachungsansprüche ausschließlich den
Staaten zubilligen will, trägt dem heutigen Entwicklungsstand der Menschenrechte
im internationalen Rechtsgefüge und der damit verbundenen Stärkung individueller
Rechte gegenüber Staaten kaum Rechnung. Darüber hinaus verkennt sie, dass
Deutschland mit der 1993 vorgenommenen Ratifizierung des Ersten Zusatzprotokolls
zu den Genfer Konventionen die Verpflichtung eingegangen ist, Schadensersatz
für kriegsrechtswidrige Handlungen zu leisten. Dieser vertraglichen Pflicht
ist im innerstaatlichen Recht nachzukommen, sei es mit einer direkten
Anwendung der völkerrechtlichen Norm, einer nationalen Ausführungsbestimmung
oder einer völkerrechtskonformen Auslegung des bestehenden nationalen
Rechts. Es wäre sicher sinngerecht, wenn die Bundesrepublik diesbezüglich
eine eindeutige nationale Regelung im Sinne der in Art. 91 des Protokolls
festgelegten Haftung geschaffen hätte, eine derartige Normierung wurde
bislang aber nicht vorgenommen.
Die Klageführung konzentrierte sich deshalb darauf, die Entschädigungsansprüche
der EinwohnerInnen Varvarins auf der Grundlage des nationalen Staatshaftungsrechts
durchzusetzen, wonach der Staat im Falle einer Pflichtverletzung durch
seine AmtsträgerInnen auf Schadensersatz haften muss.
Bonner Urteil
Am 10. Dezember 2003 wies das Landgericht (LG) Bonn die Klage mit einer
sechsseitigen Urteilsbegründung zurück. Neben völkerrechtlichen Ansprüchen
lehnte das Gericht auch den Amtshaftungsanspruch aus § 839 des Bürgerlichen
Gesetzbuchs (BGB) i.V.m. Art. 34 Grundgesetz (GG) mit folgender Begründung
ab:
"Das deutsche Staatshaftungsrecht kommt in Fällen bewaffneter Konflikte
nicht zur Anwendung. Es wird durch die Regelungen des internationalen
Kriegsrechts überlagert. Bewaffnete Auseinandersetzungen sind nach wie
vor (s. zur Beurteilung der Rechtslage für das Jahr 1944: Urteil des BGH
vom 26.6.2003, unter IV 2 bb) als völkerrechtlicher Ausnahmezustand anzusehen,
der die im Frieden geltende Rechtsordnung weitgehend suspendiert. Die
Verantwortlichkeit für den Beginn der Auseinandersetzung und die Folgen
der Gewaltanwendung sind grundsätzlich auf der Ebene des Völkerrechts
zu regeln. Die nach Völkerrecht gegebenenfalls bestehende Haftung eines
Staates für die entstandenen Schäden umfasst auch die Haftung für die
Handlungen aller zu diesem Staat gehörenden Personen."2
Woraus sich die Rechtsfolge ergeben soll, dass "die im Frieden geltende
Rechtsordnung weitgehend suspendiert wird" und dass im Kriegsfall an die
Stelle des innerstaatlichen Staatshaftungsrechts völkerrechtliche Regelungen
bzw. das internationale Kriegsrecht treten, wird in dem Urteil nicht dargelegt.
Das Bonner Gericht begnügt sich mit einem Verweis auf eine nahezu gleichlautende
Entscheidung des Bundesgerichtshofes (BGH) vom 26. Juni 2003, die den
Opfern eines SS-Massakers im griechischen Ort Distomo eine Entschädigung
verwehrte.
Ausnahmezustand
Der BGH erklärte seinerzeit den überlebenden Opfern des NS-Kriegsverbrechens,
"[...] dass das Deutsche Reich während des Zweiten Weltkrieges eine Reihe
von Bestimmungen erließ, die ebenfalls - ohne dass es sich insoweit um
spezifisch nationalsozialistisches Unrecht handelte - keinerlei Anhalt
dafür bieten, dass nach dem maßgebenden Rechtsverständnis im Jahre 1944
eine Haftung des Deutschen Reiches für völkerrechtswidrige Kriegshandlungen
seiner Truppen im Ausland gegenüber geschädigten Individualpersonen in
Betracht kam." Nach damaliger Rechtsauffassung "[...] wurde der Krieg
als völkerrechtlicher Ausnahmezustand gesehen, der seinem Wesen nach auf
Gewaltanwendung ausgerichtet ist und die im Frieden geltende Rechtsordnung
suspendiert."3
Welcher Ungeist die BundesrichterInnen geritten hat, für die rechtliche
Bewertung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen jenes Rechtsverständnis
deutscher Juristen im Kriegsjahr 1944 heranzuziehen, das andernorts treffend
als Rechtsperversion abqualifiziert wird, und welche Differenzierungen
sie in Deutschlands Eroberungsfeldzug in Europa, dem Vernichtungskrieg
in Osteuropa und dem Terrorregime in den besetzten und ausgeplünderten
Nationen hinsichtlich eines "spezifisch nationalsozialistischen Unrechts"
machen wollen, bleibt schleierhaft.
Derartige Unterscheidungen dürften sich schwerlich auch im von völkischen
Rechtsauffassungen durchsetzten nationalen Recht machen lassen. Das Staatshaftungsrecht
bildete diesbezüglich keine Ausnahme. So blieb der Amtshaftungsanspruch
an sich zwar erhalten, doch erhielt die Verwaltung durch zwei Gesetzesänderungen
die Möglichkeit, Amtshaftungsprozesse vor den ordentlichen Gerichten nach
unkontrollierbaren Maßstäben zu verhindern. Schnell entwickelte sich der
allgemeine Grundsatz "[...], dass bei allen Maßnahmen hochpolitischer
Natur die Staatshaftung von vornherein ausgeschlossen ist", wie es der
zeitgenössische Verfassungsrechtler Ernst Rudolf Huber formulierte. Der
Amtshaftungsanspruch galt nur noch in einzelnen Bereichen wie dem Grundbuchwesen
oder dem Verkehrswesen. Seine rechtsstaatliche Funktion hatte er verloren,
weil er nicht mehr die Einhaltung des Rechts durch die Verwaltung sicherte,
sondern vielmehr zum Bestandteil der nationalsozialistischen Herrschaftssicherung
wurde.4
Der eigentliche Skandal liegt aber beim LG Bonn. Dieses transformiert
die vom BGH herangezogenen nationalsozialistischen Auffassungen über Krieg
und Staatshaftung nun unversehens in die Gegenwart. Angesichts solcher
geschichtsvergessenen Manöver fällt es schwer, es im Folgenden bei sachlichen
Hinweisen zu belassen. Danach lässt sich zum einen mit der Rechtsanschauung
von 1944 nicht die Rechtslage von 1999 beurteilen. Zum anderen geben weder
Völkerrecht noch der Regelungsgehalt des Amthaftungsanspruches Anlass,
die Staatshaftung generell für rechtswidrig erzeugte Schäden auszuschließen.
Gegenseitigkeit
Wie auch immer man die Heranziehung der Rechtslage von 1944 bewerten
will, so stellte der BGH in seiner Distomo-Entscheidung doch weder fest,
dass das Amtshaftungsrecht durch das Kriegsrecht überlagert werde, noch
dass das deutsche Staatshaftungsrecht in bewaffneten Konflikten grundsätzlich
nicht anwendbar sei. Er orientierte sich in seiner Begründung vielmehr
an einigen damals geltenden innerstaatlichen Rechtsvorschriften. Anknüpfungspunkt
war insbesondere § 7 a.F. des Reichsbeamtenhaftungsgesetzes (RBHG), der
für den Ersatzanspruch von Angehörigen fremder Staaten voraussetzte, dass
in deren Heimatländern Gleiches auch für Deutsche galt. Eine solche Gegenseitigkeitsbekundung
lag in bezug auf Griechenland zum damaligen Zeitpunkt nicht vor, so dass
eine diesbezügliche Einstandspflicht gegenüber griechischen StaatsbürgerInnen
im Jahr 1944 nicht gegeben sei.
§ 7 RBHG erhielt im Jahr 1993 jedoch eine neue Fassung. Danach gilt nicht
mehr das Prinzip, dass das Bestehen der Gegenseitigkeit ausdrücklich bekannt
gemacht werden muss. Vielmehr muss die Bundesregierung durch Rechtsverordnung
bestimmen, dass ausländische Staatsangehörige keine Ansprüche geltend
machen können, wenn keine Gegenseitigkeit besteht. In Folge dessen kann
die Gegenseitigkeit also auch nicht durch das bloße Vorliegen eines bewaffneten
Konfliktes suspendiert werden.5
Bereits aus diesem augenscheinlichen Grund konnte das Distomo-Urteil des
BGH dem Bonner Gericht nicht als Präzedenzfall für die Beurteilung gegenwärtiger
Fälle von Amtshaftungsansprüchen wegen der Verletzung humanitären Völkerrechts
dienen. Nicht ohne Grund ließ es der BGH auch ausdrücklich offen, "ob
nach dem heutigen Amtshaftungsrecht im Lichte der Geltung des Grundgesetzes
und der Weiterentwicklung im internationalen Recht ähnliches gelten würde".
Kriegszustand
Tatsächlich korrespondiert die innerstaatliche Rechtsentwicklung mit
der Fortschreibung des internationalen Rechts. Nach einhelliger Ansicht
ist mit dem Ersten Weltkrieg, spätestens aber seit Ende des Zweiten Weltkrieges
der Eintritt eines Kriegszustands mit der Folge, dass die zwischenstaatlichen
Beziehungen voll oder weitgehend dem Kriegsrecht unterliegen, äußerst
selten geworden. In der Regel finden vielmehr sektoral begrenzte Konflikte
statt, die weite Teile des Territoriums der Konfliktparteien unberührt
lassen. Ausdruck dieses veränderten Kriegsbildes ist der Wechsel von dem
Begriff "Krieg" zum "bewaffneten internationalen Konflikt" in der modernen
Völkerrechtspraxis und -lehre. Während früher nach klassischem Kriegsrecht
allgemein davon ausgegangen wurde, dass die Begründung eines Kriegszustandes
zwischen den beteiligten Staaten alle vertraglichen Beziehungen zwischen
ihnen automatisch beendete oder zumindest aussetzte, hat heutzutage weder
ein bewaffneter Konflikt noch ein formeller Kriegszustand solche Auswirkungen.
Das universale Völkergewohnheitsrecht weist dementsprechend keinen Rechtssatz
auf, der eine Suspendierung oder Beendigung von auf den Friedenszustand
zugeschnitten Verträgen als generelle Folge bewaffneter Auseinandersetzungen
vorsieht.6
Ein bewaffneter Konflikt kann zudem zwar mit Beginn oder zu einem beliebigen
Zeitpunkt seines Verlaufs sekundäre Rechtsfolgen herbeiführen, diese treten
aber nicht zwangsläufig, sondern erst nach ausdrücklich bekundetem Willen
der Parteien ein. In der jüngeren Staatenpraxis ist zu beobachten, dass
die Parteien im Konfliktfall nicht einmal die diplomatischen Beziehungen
automatisch abbrechen und im Allgemeinen sich flexibel um Lösungen bemühen,
die auf den einzelnen Vertrag und seinen spezifischen Inhalt abgestellt
sind. Dabei gilt, dass je größer das Maß ist, in dem die Konfliktparteien
nichtfeindliche Beziehungen aufrechterhalten, um so wichtiger sich das
Friedensvölkerrecht darstellt.7
Pacta sunt servanda
Es entspricht im übrigen auch dem völkerrechtlichen Regelwerk der Wiener
Vertragskonvention (WVK) und insbesondere dem Rechtsgedanken des Art.
60 Abs. 1 WVK, wenn vor der Suspendierung von Verträgen von den Konfliktparteien
festgestellt wird, ob mit dem Beginn oder im Verlauf des Konflikts ein
wesentlicher Vertragsbruch, d.h. die Verletzung einer für die Verwirklichung
des Vertragsziels und -zwecks wesentlichen Bestimmung, zu verzeichnen
ist. In diesem Fall ergäbe sich die Befugnis zur Geltendmachung der Beendigung
des Vertrages oder zur Aussetzung seiner Wirksamkeit. Diese Suspendierung
wiederum kann sich auf den ganzen Vertrag oder lediglich auf einzelne
Bestimmungen beziehen. Die Art. 60 ff. WVK bieten eine ausreichende Grundlage
für diese Dispositionsbefugnis.8
Politische Verträge oder ganze Vertragskategorien werden im Falle des
bewaffneten Konflikts nicht mehr automatisch und generell suspendiert
oder beendet. Entsprechend der befriedenden Funktion des Völkerrechts
werden vielmehr die Beendigungs- und Suspendierungsgründe, die sich aus
der bewaffneten Auseinandersetzung ergeben können, von den Konfliktparteien
für jeden Vertrag gemäß der Art. 60 ff. WVK geltend zu machen sein. Eine
generelle Suspendierung der im Frieden geschlossenen Verträge lässt sich
jedenfalls nicht auf eine geltende Rechtsnorm stützen. Die allgemeine
Feststellung des LG Bonn, bewaffnete Auseinandersetzungen seien nach wie
vor als völkerrechtlicher Ausnahmezustand anzusehen, der die im Frieden
geltende Rechtsordnung weitgehend suspendiere, lässt sich somit auch angesichts
der Entwicklung des modernen Völkerrechts nicht aufrechterhalten.
Keine Exklusivität
Aber selbst wenn man die soeben geschilderte völkerrechtliche Situation
ausblenden und in Anlehnung an die Rechtsauffassung von 1944 in einem
Krieg einen "völkerrechtlichen Ausnahmezustand" erblicken würde, schlösse
das eine Anwendung des Staatshaftungsrechts für bewaffnete Auseinandersetzungen
nicht aus.
Das LG Bonn selbst macht in seinem Urteil deutlich, dass das völkerrechtliche
Grundprinzip des diplomatischen Schutzes nicht ausschließe, dass das nationale
Recht eines Staates der verletzten Person einen Anspruch außerhalb völkerrechtlicher
Verpflichtungen gewähre. Es bezieht sich dabei auf einen Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts vom 13. Mai 1996. Dieses hatte festgestellt,
dass es keine völkerrechtliche Regel gebe, nach der Entschädigungen für
Kriegsschäden ausschließlich auf zwischenstaatlicher Ebene geltend gemacht
werden könnten. Selbst wenn es eine solche Regel gäbe, könne sie nur den
Ausschluss völkerrechtlicher Individualansprüche zur Folge haben. Die
Annahme, ein solcher Grundsatz könne auch Ansprüche ausschließen, die
das deutsche Recht gewähre, beruhe auf einer nicht ausreichenden Unterscheidung
zwischen Ansprüchen nach Völkerrecht und nach nationalem Recht.9
Es kann also ohnehin nicht von einer Exklusivität der Regelung von Entschädigungsansprüchen
auf völkerrechtlicher Ebene ausgegangen werden, die Ansprüche nach dem
Amtshaftungsrecht ausschließen könnten. Eine derartige Rechtsfolge müsste
sich somit allein aus dem innerstaatlichen Recht ergeben.
Keine Automatik
Einen Anhaltspunkt für die Existenz einer Bestimmung, welche die Anwendbarkeit
des Staatshaftungsrechts in bewaffneten Konflikten ausschließt, ist jedoch
weder in der einschlägigen Norm noch im gesamten deutschen Recht aufzufinden.
Im übrigen ist eine solche direkte, unmittelbar innerstaatliche Rechtsfolgen
erzeugende Anknüpfung an den völkerrechtlichen Kriegszustand der deutschen
Rechtsordnung auch völlig fremd. Schon nach der Reichsverfassung von 1871
hatte der völkerrechtliche Ausnahmezustand nicht ohne weiteres den innerstaatlichen
Ausnahmezustand zur Folge. Im bundesdeutschen Recht sind die in Art. 115a
ff. GG vorgesehenen innerstaatlichen Rechtsfolgen für einen äußeren Notstand
grundsätzlich abhängig von der Feststellung des - hier wohl nur bedingt
heranzuziehenden - Verteidigungsfalls durch Beschluss des Bundestages
mit Zustimmung des Bundesrates. Im geltenden deutschen Recht existiert
somit kein Automatismus bezüglich der innerstaatlichen rechtlichen Folgen
einer bewaffneten Auseinandersetzung mit einem anderen Staat.10
Preußische Kabinettsorder
In Ermangelung einer gegenwärtigen Norm im nationalen Recht, mit der
eine staatliche Haftung für kriegsbedingte Schäden ausgeschlossen werden
könnte, bemühten die beklagte Bundesrepublik und ihr Bonner Landgericht
wiederum die Vergangenheit und zogen eine von dem Staatsrechtler Fritz
Ossenbühl zitierte Kabinettsorder des Königs von Preußen aus dem Jahr
1831 heran. Seinerzeit hatten die Truppen des Königs die Vorstädte Breslaus
niedergebrannt. Als der Justizminister auf Grundlage des Allgemeinen Landrechts
(ALR) den kriegsgebeutelten Untertanen eine Wiedergutmachung zukommen
lassen wollte, stellte seine Majestät mit der Kabinettsorder vom 4. Dezember
klar, dass sich derartige Entschädigungsansprüche der Betroffenen nur
durch ein gesondertes Gesetz ergeben könnten und ansonsten ausgeschlossen
seien.
Dieser Regelungsgehalt, so führten Bundesrepublik und Landgericht in Übereinstimmung
mit Ossenbühl aus, habe sich bis heute nicht geändert. Mit Erlass der
Kabinettsorder sei die Staatshaftung "nur für den Normalfall" gedacht
und nicht für "staatliche Katastrophenfälle wie namentlich Kriege". Für
Kriegsfolgen seien in der Folge deshalb auch immer Sonderregelungen und
gesetzliche Ausgleichsysteme erlassen worden.11 Diese Schlussfolgerung
hinkt in zweierlei Hinsicht.
Aufopferung
Zunächst fällt die besagte Kabinettsorder rechtsdogmatisch in den Bereich
des so genannten Aufopferungsanspruches. Der Aufopferungsanspruch wie
auch die mit ihm verbundene Entschädigung für enteignende und enteignungsgleiche
Eingriffe hat einen völlig anderen Ursprung als die deliktsrechtlich orientierte
Amtshaftung. Sie reicht in die Zeit des aufgeklärten Absolutismus des
18. Jahrhunderts zurück. Damals bildete sich unter Berufung auf das Naturrecht
die Auffassung, dass der Einzelne "wohlerworbene" Rechte habe, in die
der Landesherr nur aus besonderen Gründen des Allgemeinwohls und nur gegen
Entschädigung eingreifen dürfe.12
Ursprünglich war diese Entschädigung auf rechtmäßige Eingriffe beschränkt.
Erst im Laufe der Zeit dehnte sie sich immer weiter, insbesondere auch
auf rechtswidrige Eingriffe aus. Kennzeichnend für Aufopferungsansprüche
ist, dass sie nicht notwendigerweise ein deliktisches Handeln voraussetzen.
Vor diesem Hintergrund sind sowohl der Kriegsschäden ausschließende Inhalt
der Kabinettsorder wie auch die späteren speziellen Regelungen beispielsweise
für die Entschädigungen von Kriegsopfern des Zweiten Weltkrieges, denen
gegenüber der Aufopferungsanspruch als subsidiär gilt, zu erklären. Und
deshalb lassen sich Schäden, welche Folgen von legalen Kriegshandlungen
sind, mangels einer Amtspflichtverletzung auch schwer unter den Regelungsbereich
des Bürgerlichen Rechts fassen.
Aufopferungsanspruch und Amtshaftungsanspruch können zwar nebeneinander
geltend gemacht werden. Ihr Regelungsgehalt ist jedoch in historischer
und teleologischer Hinsicht zu unterscheiden und lässt sich nicht übertragen.
Zumindest können Sachverhalte, die in Folge des rechtswidrigen Handelns
von AmtsträgerInnen sämtliche Tatbestandsvoraussetzungen eines Amtshaftungsanspruches
erfüllen, nicht ausschließlich nach den Regeln der Aufopferung beurteilt
werden.
Des Weiteren fällt die zitierte Kabinettsorder in eine Zeit, in der die
Staatshaftung in ihrer Grundsätzlichkeit noch höchst umstritten war und
in der die Gesetzgebung des vorkonstitutionellen Preußens immer mehr dazu
neigte, die Gerichte von der indirekten Kontrolle der Verwaltungsmaßnahmen
auszuschließen. Die allerhöchste Kabinettsorder verschloss generell den
Rechtsweg bei den sogenannten Hoheits- und Majestätsrechten.13 Der Aufopferungsanspruch
wurde im Wege der "authentischen Interpretation" auf Eingriffe der Verwaltung
beschränkt und die Entschädigung für gesetzliche Beschränkungen sowie
der Ausgleich für Kriegsschäden der besonderen gesetzlichen Regelung vorbehalten.
Damit besteht zwischen dem Ausschluss der Staatshaftung für Kriegsvorfälle
und der generellen Ablehnung staatlicher Haftung ein enger inhaltlicher
Zusammenhang.
Heute hat sich eine gänzlich andere Rechtsauffassung herausgebildet, wonach
der Aufopferungsanspruch nicht nur an rechtmäßige Eingriffe anknüpft,
sondern sogar auch auf rechtswidrig schuldhafte Eingriffe ausgedehnt worden
ist. Insofern ist es alles andere als zweckmäßig, in der Frage um die
Entschädigung von Kriegsschäden mittels eines Aufopferungsanspruches auf
die staatspolitischen Debatten im absolutistischen Preußen des mittleren
19. Jahrhunderts zurückzugreifen.
Bürgerliches Gesetzbuch
Im übrigen gibt auch die Historie des § 839 BGB keinerlei Veranlassung
für den Ausschluss des Staatshaftungsrechts in Fällen bewaffneter Konflikte.
In den Materialien und Protokollen zur Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuches
findet sich hinsichtlich der seinerzeit sehr umstrittenen und ausgiebig
diskutierten Amtshaftung nach § 839 kein Hinweis, der darauf schließen
lässt, dass ein Ausschluss der Amtshaftung für Kriegsfälle debattiert
geschweige denn vereinbart worden wäre.14 Aus der Tatsache, dass in den
damaligen Gremien nicht über diese Frage diskutiert worden ist, lässt
sich nicht schließen, dass man die Unanwendbarkeit der Staatshaftung auf
kriegerische Auseinandersetzungen als selbstverständlich ansah bzw. stillschweigend
darüber übereingekommen worden war. Vielmehr deuten verschieden geäußerte
Bedenken über die Geltung der Staatshaftung auch für Polizeieinsätze auf
ein Problembewusstsein für rechtswidrige Gewaltausübungen staatlicher
Stellen hin. Zudem lässt sich aus einer in diesem Zusammenhang dokumentierten
Stellungnahme des damaligen Staatssekretärs von Buchka, in der dieser
unter den Begriff der Beamten auch Militäranwärter fasste, entnehmen,
dass auch die Tätigkeiten des Militärs vom Staatshaftungsrecht umfasst
werden sollten. 15
Zumindest aber lässt sich aus der damaligen Kontroverse um die Einführung
und Geltungsweite der Amtshaftung keine Rechtsüberzeugung ableiten, wonach
die Amtshaftung für Schäden aus bewaffneten Konflikten ausgeschlossen
werden sollte und der aus gewohnheitsrechtlicher Sicht heute Beachtung
zukommen müsste.
Millionenklagen
Weder aus dem Völkerrecht noch aus nationalem Recht ergibt sich somit
eine Rechtsfolge, nach der das deutsche Staatshaftungsrecht in Fällen
bewaffneter Konflikte nicht zur Anwendung kommt, sondern durch die Regelungen
des internationalen Kriegsrechts überlagert wird. Die Verwaltungslehre
geht überdies davon aus, dass eine Beschränkung oder gar der Ausschluss
der Haftungsübernahme überhaupt nur dann zulässig sind, wenn sie erstens
aus sachlichen Gründen geboten und verhältnismäßig sind und zweitens auf
einem formellen Gesetz beruhen.16 Vorliegend ist dargestellt worden, dass
es keine formelle Norm - ja noch nicht einmal Anhaltspunkte für eine entsprechende
Auslegung - gibt, die eine Haftungsübernahme bei bewaffneten Konflikten
ausschließt.
Auch sachliche Gründe, auf die es hier schon gar nicht mehr ankommen müsste,
stünden einer Entschädigung nicht entgegen. Die verschieden geäußerten
Bedenken, dass man doch nicht nach den Deliktsgrundsätzen "den Millionen
von Opfern und Geschädigten" gegenüber haften könne17, sind hinsichtlich
der Ereignisses im Jugoslawien-Krieg substanzlos. Obgleich Varvarin nicht
das einzige Kriegsverbrechen der NATO-Staaten in diesem Krieg war, so
ist doch die Anzahl der Vorfälle, in denen Menschen durch Verletzungen
des Kriegsrechts (ius in bello) zu Schaden kamen, überschaubar. So bitter
und absurd diese Gegenüberstellung ist, aber die zu ersetzenden Schäden
dürften allein im Verhältnis zu den militärischen Gesamtkosten der NATO
von geschätzten 5 bis 6 Milliarden Euro angemessen und überdies finanzierbar
sein.
Etwas anderes könnte sich allerdings ergeben, wenn die Ansprüche an die
Verletzung des völkerrechtlichen Gewaltverbots (ius ad bellum) anknüpften.
Bei einem Verstoß gegen das Verbot der Aggression könnten über einen Amtshaftungsanspruch
grundsätzlich sämtliche Schäden geltend gemacht werden, die im kausalen
Zusammenhang mit diesem völkerrechtswidrigen Akt stünden. Dann würden
Angriffskriege in der Machart des Jugoslawien-Feldzuges tatsächlich zu
einem unüberschaubaren finanziellen Risiko werden - ein Ergebnis, das
uneingeschränkt zu begrüßen wäre.
Mitgefühl
Vor diesem politischen Hintergrund wird auch das Urteil des Bonner Landgerichts
zu betrachten sein. Der vorsitzende Richter am Bonner Landgericht, Heinz
Sonnenberger, wandte sich in der mündlichen Urteilsverkündung an die Klägerinnen
und Kläger: "Ich darf Ihnen noch einmal unser Mitgefühl versichern. Spontan
möchte man meinen, dass man Ihnen helfen muss, aber das Gericht muss sich
an die Gesetzeslage halten." Um eine solche Beileidsbekundung zu formulieren,
hätte sich das Gericht mehr Mühe machen müssen, jene Gesetzeslage darzulegen,
nach der das Amtshaftungsrecht in bewaffneten Konflikten nicht zur Anwendung
kommen soll. So ist der höhnische Unterton kaum zu überhören. Welche Beweggründe
das Landgericht auch gehabt haben mag, den Leuten aus Varvarin die Entschädigung
für die Toten und die Leiden der Verletzten zu verwehren - sie werden
aus den dargelegten Gründen kaum rechtlicher Natur gewesen sein.
Es mag Zufall sein, dass das Gericht mit dem "Ausnahmezustand" einen Begriff
wählte, der in den totalitären Rechtskonstruktionen von Carl Schmitt eine
zentrale Rolle spielt. Schmitt, ein juristischer Wegbereiter nationalsozialistischen
Unrechts, orientierte seine Theorie an der existenziellen Unterscheidung
zwischen Freund und Feind und der Beherrschung des Ausnahmezustands. Danach
vernichte der Staat "im Ausnahmefall die Norm", "hier sondert sich die
Entscheidung von der Rechtsnorm und [...] die Autorität beweist, dass
sie um Recht zu schaffen, nicht Recht zu haben braucht."18 Schmitt prägte
in diesem Zusammenhang den Satz: "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand
entscheidet." Wenn in Zeiten, in denen für deutsche Regierungen die interventionistische,
militärische Praxis zur außenpolitischen Option wird, eine solche Justiz
diese Entscheidung trifft, überkommt einen das kalte Grauen.
Stephen Rehmke studiert Jura in Hamburg.
Anmerkungen:
1 Zu den Hintergründen und der Vorgeschichte: Rehmke, Bomben auf Varvarin,
in: Forum Recht 2004, 96.
2 Das Urteil des LG Bonn vom 10. Dezember 2003 (Az.: 1 O 361/02) wie auch
weitere Informationen und Schriftsätze zur Klage finden sich unter: www.nato-tribunal.de/varvarin.
3 Urteil des BGH vom 26. Juni 2003 ( Az: III ZR 245/98), in: Neue Juristische
Wochenschrift 2003, 3448.
4 von Brünneck, in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, AufbauL. Oktober
2001, Art. 34, Rn. 22.
5 Ausführlich: Johann, Amtshaftung und humanitäres Völkerrecht, in: Humanitäres
Völkerrecht - Informationsschriften (HV-I), Heft 2 2004, 86 (88 f.).
S.a. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2004, § 26 Rn. 36.
6 Vgl. u.a. Greenwood, in: Fleck, Handbuch des humanitären Völkerrechts
in bewaffneten Konflikten, 1994, Rn. 201. Ipsen, in: ders. (Hg.), Völkerrecht,
2004; § 65, Rn. 5 ff., § 71, Rn. 4. Paech/Stuby, Völkerrecht und Machtpolitik
in den internationalen Beziehungen, 2001, Teil B, III. Kap. 4.1, Rn. 197.
7 Ipsen 2004, § 71, Rn. 7 ff.
8 Vgl. Ipsen 2004, § 71, Rn. 12.
9 BVerfGE 94, 315 ff.
10 Johann, HV-I 2004, 86 (90).
11 So Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 5. Aufl. 1998, 126 f.
12 Maurer 2004, § 25 Rn. 2; § 27 Rn. 3.
13 So Gehre, Die Entwicklung der Amtshaftung in Deutschland seit dem 19.
Jahrhundert, 1958, 46 ff. und 77.
14 Vgl. Mugdan (Hg.), Die gesamten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch
für das Deutsche Reich, Neudruck der Ausgabe von 1899-1900, 1979; Schubert
(Hg.), Motive zum Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche
Reich, Amtliche Ausgabe 1888, 819 ff.
15 Siehe Jakobs/Schubert, Die Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuches,
Bd. III, 1983, 998 (1014, 1016, 1017, 1023).
16 Maurer 2004, § 26, Rn. 39.
17 So der Einwand der Beklagten mit Berufung auf das OLG Köln im Distomo-Urteil
vom 27. August 1998 (Az. 7 U 167/97).
18 Schmitt, Politische Theologie, 1922, 13 f. Zit. nach Kutscha, "Verteidigung"
- Vom Wandel eines Verfassungsbegriffs, in: Kritische Justiz, 2004,
228 (237f.).
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