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"Denken Sie doch mal an die Situation 1945, wie man sie als 17-jähriger
erlebt: Vorher schien alles in Ordnung zu sein, und hinterher schien alles
in Ordnung zu sein, alles war anders und alles war dasselbe."1
Als Niklas Luhmann, von Hause aus Jurist, 1998 starb, konstatierte Gerd
Roellecke in seinem Nachruf auf den Großmeister der Systemtheorie angesichts
"treuherziger Fragen" nach Möglichkeiten einer Nutzbarmachung dieser soziologischen
Großtheorie für fremde Disziplinen: Ebenso könne man nach der Nutzbarmachung
der Relativitätstheorie für die Landwirtschaft fragen - der Output wäre
ähnlich fruchtbar.2 In der Tat kann man, auch ohne hinter Luhmann gleich
Hegel zu entdecken,3 skeptisch sein. Eine Theorie zu exportieren, die
feststellt, dass man nichts exportieren kann, weil jedes Kommunikationssystem,
an dem wir teilnehmen, unentrinnbar verschlossen und allein selbstreferenziell
vor sich hin brodelt, scheint in der Tat ein fragwürdiges Unternehmen
zu sein. Es liegt dann nahe, dass alles beisammen und beim Alten bleibt,
mit und ohne Systemtheorie.4 Das sieht auch Gerd Roellecke so, und will
daher, dass alle Disziplinen brav "bei sich selbst bleiben"5. Das wäre
dann tatsächlich ein Nachruf.
Systemtheorie als Chance
Man kann es aber auch anders machen. Und in der Systemtheorie ein Theorieangebot
höchster Güte sehen, das sich, wie jedes Theorieangebot, dadurch auszeichnet,
dass es (wenn auch nicht verifiziert, so doch immerhin) falsifiziert werden
kann an dem, worauf es sich nun einmal bezieht: Den Gegenstand, den es
beschreibt.6 Als sozialwissenschaftliche Großtheorie mit universalem Anspruch
bietet sie sich hierzu an, nicht weil sie näher an der "Realität" ist,
sondern weil sie weiter weg, eben eine Großtheorie ist. Begrifflich hochsensibel
und daher genau, hochkomplex und ausdifferenziert in jener selbstreferenziellen
Endlosschleife an Theorieproduktion, die sie selbst nun mal ist, eignet
sie sich, indem sie sich offen als Theoriegerüst zu erkennen gibt, besonders
gut zur Überprüfung.
Dass ein solches Verfahren Gefahren birgt, für die Theorie wie für den
Gegenstand, hängt einmal mit dem Kontingenz-Schock zusammen, den die Systemtheorie
für die AnwenderInnen bereit hält. Sie entlässt uns nicht nur ohne metaphysische
Tröstung, sondern auch ohne jenen Gesamtzusammenhang, den wir selten finden,
aber immer suchen. Wenn der metaphysische Sinn der Ereignisse verschwindet,
die Theorie aber noch da ist, tritt sie unweigerlich in Konkurrenz zu
jener Geschichtsschreibung, die viel Metaphysik hat, aber keine Theorie
zu haben meint. Die Geschichtsschreibung hat dann zwei Möglichkeiten:
Sie legt die eigene (latente) Theorie offen oder sie überlässt schlicht
der Systemtheorie das theoretische Feld. Für die Systemtheorie ist das
Risiko aber nicht geringer: Indem sie sich an der Geschichte messen lässt,
läuft sie Gefahr, ihr Theoriedesign (alteuropäisch: ihr Gesicht) zu verlieren.
Ihr droht dann das Verheerendste, was einer Theorie passieren kann: Sie
ist nicht richtig.
Virulent wird dieses Risiko in ganz besonderer Weise bei der Rechtsgeschichte
des "Dritten Reiches". Hier potenzieren sich die genannten Gefahren für
beide Seiten. Systemtheoretisch gesprochen hat die Geschichtswissenschaft
hier als identitätsproduzierende Geschichtsfabrik in struktureller Koppelung
an Moral und Politik in besonderem Maße Komplexitätsreduktion zu leisten.
Die Systemtheorie sieht sich ihrerseits, wiederum durch Koppelung, als
eigenes Wissenschaftssystem einem verschärften, weil mit fremdem (politischen,
moralischen) Code überlappten, Wahrheitsfindungs-Programm gegenüber.
Das "Dritte Reich" und die "Fakten"
Warum also mehr Theorie für unser Geschichtsbild und mehr Geschichte
für unsere Großtheorie? Gerade bezüglich des "Dritten Reiches" scheint
die Geschichtswissenschaft keine Belehrungen zu benötigen. An Informationen
über ihren Gegenstand und damit an Nähe zur allseits beschworenen "Realität"
mangelt es ihr nicht (jedenfalls nicht zentral). So weiß sie spätestens
seit den 1960er Jahren, dass angesichts von Ämterkonfusion, Polykratie
der Ressorts, Kompetenzüberlappung etc. das "Dritte Reich" keineswegs
jenem propagierten und vor allem nach 1945 gern geglaubten Bild vom "totalen"
oder auch nur "totalitären" Staat entsprach.7 Sie weiß, dass der Nationalsozialismus
eine hohe "plebiszitäre Sensibilität" (Martin Broszat) besaß, dass er
neben offenem Terror immer wieder, und das bis zuletzt, gerade in zentralen
Bereichen wie der Wirtschaftspolitik auffällig konsensbemüht war, und
dass er zu keiner Zeit einen totalen Zugriff auf die Gesellschaft verwirklicht
hat.8 Sie weiß auch, dass es weder in der Verwaltung noch in der Justiz
zu einer personellen Kompletterneuerung gekommen ist, dass weder auf die
Richterschaft noch auf die (nicht-jüdische) Jurisprudenz als solche direkter
Zwang ausgeübt wurde, statt dessen beide Gruppen an mehreren Stellen die
Zielvorgaben der Führung sogar an Schärfe übertroffen haben.9 Und sie
weiß, dass in Richterschaft, Jurisprudenz und Verwaltung eine erstaunliche
personelle Kontinuität auch nach 1945 festzustellen ist.10
Die erste Frage ist: Wie gehen wir um mit diesen Informationen? Hier ist
Theorie notwendig. So oder so. Denn die Anschlussfragen müssen doch sein:
Was war das für eine Gesellschaft, damals, in der "chaotische Polykratie"
möglich war und staatlich organisierter (!) Massenmord? Inwieweit (und
vor allem: an welchen Stellen) waren gesellschaftliche Kräfte hinderlich
und/oder hilfreich zum Erreichen verbrecherischer Ziele?
Die Geschichtswissenschaft hat hier seit den späten 1960er Jahren den
entscheidenden Anfang gemacht, indem sie die, wie sie sagte, strukturellen
Bedingungen des NS-Regimes zu Recht gegenüber einer betont personalistisch-intentionalistischen
Geschichtsdeutung hervorgehoben hat.11 Damit ist der Beobachterstandpunkt
richtig gewählt, denn dahinter steht doch immerhin die Erkenntnis, dass
die "Großen" der Weltgeschichte in (und mit) der Weltgeschichte sind,
dass sie also von ihrer Umwelt (mindestens) ebenso abhängig sind wie diese
von ihnen. Enttarnt ist damit auch, dass der gängigen Historiographie
eine (intentionalistische) Theorie zugrunde lag, die angesichts unserer
Informationslage als theoretische Prämisse wenig plausibel erscheint.
Doch der Hinweis auf die Struktur geht nicht weit genug. Er erklärt weder
die Strukturen selbst, etwa den Bau des Rechts- oder des Wirtschaftssystems
zwischen 1933 und 1945, noch die Modi, mit denen sie unter-, neben- und
aufeinander wirkten, noch die Anschlussstellen, durch die nach 1945 jene
berüchtigten "Kontinuitäten" und "Brüche" erst möglich werden konnten.
Lernen aus dem Zettelkasten
Hier liefert die Systemtheorie Einsichten, die die vorhandenen Fakten
in eine plausible Beziehung zueinander setzen. Zugleich lenkt sie den
Blick auf eher vernachlässigte Informationen, indem sie deren Relevanz
für das Gesamtbild andeutet. Dies beginnt bei der zahlreichen Ämterkonfusion,
-zersplitterung, -überlappung und -konkurrenz, jenem bemerkenswerten,
immense Reibungsverluste erzeugenden Phänomen des "nationalsozialistischen
Staates":
Wenn man sich darauf einigen könnte, dass die NSDAP 1933 auf eine funktional
ausdifferenzierte Gesellschaft traf, die schon damals aus operativ geschlossenen,
nach eigenen Codes arbeitenden sozialen Systemen bestand, und dass Veränderungen
im Politiksystem, selbst so einschneidende wie Hitlers Ernennung zum Reichskanzler
zunächst nur "outside noise" bildeten, dann wird erklärbar, wie begrenzt
die Zugriffsmöglichkeiten Hitlers tatsächlich waren. Das vehement zur
Macht drängende Personal der NSDAP konnte, wenn überhaupt, in Gestalt
jener zahlreichen halbstaatlichen Zwitterbehörden nur neben die bestehenden
Stellen gesetzt werden. Alles zu beherrschen, das ist in ausdifferenzierten
Gesellschaften nicht mehr möglich.
Natürlich besteht immer die physische Möglichkeit, alle auszuwechseln,
alle zu ermorden, alles zu besetzen. Aber damit ist, selbst theoretisch,
das System höchstens zerstört, nicht aber eingenommen. Wer wie Hitler
ein in jeder Beziehung so ressourcenaufwendiges Fernziel verfolgt, ist
auf die hochspezialisierte Leistung der sozialen Systeme angewiesen. Er
kann daher nur von außen im System Resonanzen erzeugen. Diese werden zum
Ziel führen, wenn sie mit Rücksicht auf die jeweiligen Systemrationalitäten
entworfen sind. Im Wirtschaftssystem, wo das Phänomen einer "friedensmäßigen
Kriegswirtschaft" in der Tat mindestens ebenso ausgeprägt war wie das
der bekannten "kriegsmäßigen Friedenswirtschaft", und wo das Regime eine
besonders ausgeprägte Sensibilität für Gruppeninteressen an den Tat legte,
ist das mit den Händen zu greifen.
Das gilt aber auch für das Rechtssystem. Statt der personellen "Massensäuberung"
erfolgte "nur" die Entfernung jüdischer oder ansonsten missliebiger Beamter.12
Das konnte das System offenbar verkraften. Notwendig und unerlässlich
war nur, das Rechtssystem mit anschlussfähigen Kommunikationen zu versorgen,
kurz: Dessen "Sprache" zu sprechen. So wird sinn- und bedeutungsvoll,
wenn das Regime es offenbar für erforderlich hielt, das "Ermächtigungsgesetz"
dreimal zu verlängern - wo doch vermeintlich die nackte Gewalt allein
regierte; wenn im "Unrechts-Staat" dem Reichstag de iure in dem gesamten
Zeitraum von 1933 bis 1945 seine Gesetzgebungskompetenz verblieb - wo
doch die Herrschenden keine Gelegenheit ausließen, ihre Verachtung für
dieses Organ anzubringen; und wenn bis zuletzt darauf verzichtet wurde,
Hitler die gesamte (von ihm faktisch ausgeübte) Legislative durch ein
Gesetz zu übertragen - obwohl dadurch erhebliche Reibungsverluste entstanden,
die durch simplen Rechts-/Gewaltakt zu beheben gewesen wären, zumal in
einer auch äußerlich die Omnipotenz des "Führers" sowie die Geringschätzung
der Parlamentsdemokratie gleichermaßen dokumentierenden Weise. Auch dass
das Regime fast durchweg "Gesetzesattrappen"13 erließ, die keinen oder
kaum wirklichen (insofern also auch nicht "pervertierten") Regelungsgehalt
besaßen, während es die eigentlichen Ziele per einfacher Weisung und Erlas
erreichte, ist ohne die Systemtheorie vielleicht nur die Verhöhnung des
Rechtsstaates durch die "Teufelsfratze" (von Münch) nationalsozialistischer
Gesetzgebung, mit ihr aber vielleicht das Öl, das eine aus Kommunikationen
bestehende Systemwelt am Laufen hielt.
Anschlussfähigkeit an das Rechtssystem
Natürlich bedurften die vielen Rechtswissenschaftler, die nach 1933 engagiert
bis euphorisch die Ankunft des neuen Regimes "wissenschaftlich" legitimierten,
keines entsprechenden Öls. Männer wie Carl Schmitt boten sich den Machthabenden
vehement an - ohne Druck, ohne Terror, ohne Not.14 Ihre Wirkung (in diesem
Fall im Wissenschaftssystem) konnten die Herren aber nur ausspielen, indem
auch sie an die überlieferten "Kommunikationen" explizit anschlossen:
Sei es die lange vor 1933 beliebte Verachtung für den vermeintlichen "Positivismus",
die "Lebensferne", die "Blutleere" der Rechtswissenschaft, sei es die
Anrufung von "Gemeinschaftsdenken", "Zugehörigkeit", "Volksgeist" etc.
oder auch die Verehrung Hegels.15 Dabei erscheint die oft heruntergespielte
Wirkung solcher Publikationsanstrengungen systemtheoretisch in einem anderen
Licht. Um ein Kommunikationssystem in entsprechende Schwingungen zu versetzen,
ist der von prominenten Wissenschaftlern ausgehende "Werbeeffekt"16 ein
bisschen mehr als nur die harm- und wirkungslose Entgleisung von "Verführbaren".
Auch die folgenreiche, vom Regime allseits geforderte und ermöglichte
"unbegrenzte Auslegung" (Rüthers) von Rechtsnormen jenseits ihres Wortlautes
oder ihrer historischen Zielsetzung erhält eine besondere Bedeutung, wenn
man sie als Maßnahme versteht, die die Eigendynamik der systemischen Autopoiesis,
der unablässigen Selbsterschaffung des sozialen Systems aus sich heraus,
nicht behindern, sondern fördern wollte - gewiss weil man sich der (im
Urteilstenor nicht auftauchenden) Gesinnung der Richter sicher sein konnte;
aber eben auch, weil die Systeme auf diesem Weg weitaus effizienter für
das Gesamtziel arbeiten als bei ihrer bloßen Lahmlegung durch "Terror".
Weder Justiz noch Verwaltung noch Rechtswissenschaft sind je zu reinen
Befehlsempfängern geworden. Sie mussten es nicht. Überhaupt ist mit der
Freisetzung autopoietischer Eigendynamik ein wesentlicher Charakterzug
des "Dritten Reiches" akkurat erfasst. Die Radikalisierungstendenzen innerhalb
der Verwaltung, die an vielen Stellen ohne direkte Befehle von oben festzustellen
sind, die immense Flut an rechtswissenschaftlichen Publikationen im doch
so rechtsfeindlichen "Unrechts-Staat", eine Rechtsprechung, die bemerkenswert
linientreu entscheidet ohne durch Gesetze der neuen Führung hieran gebunden
zu sein - all das ist zu verstehen als "gewöhnliche" unablässige Produktion
blinder weil selbstreferenziell operierender sozialer Systeme.
Broszats Erbe
Die Jahre zwischen 1933 und 1945 sind kein gewöhnlicher Forschungsgegenstand.
Dass sie nicht abgelöst von moralischen Reaktionen und den mit ihnen einhergehenden
Kategorien zu erforschen sind, ist nicht nur verständlich, sondern sogar
legitim und notwendig.17 Die moralische Empörung darf aber nicht zur wissenschaftlichen
Kapitulation führen. Ein differenziertes und gerade darin moralisches
Urteil ist nur möglich, wenn man die NS-Zeit nicht als Insel in der Geschichte
begreift. Für ihre Erforschung müssen die Grundsätze wissenschaftlicher
Genauigkeit nicht weniger gelten als sonst, sondern mehr.
Das war es, was der viel zu früh verstorbene Martin Broszat mit seinem
legendären "Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus"
vor nahezu zwei Jahrzehnten einforderte.18 Es ging (und geht) darum, eine
wissenschaftliche Analyse zu erreichen, die fundierter und damit verlässlicher
ist als populäre aber unwissenschaftliche Geschichts-Erzählungen. Dass
dies keine Selbstverständlichkeit ist, zeigt etwa der Umstand, dass die
frühen empirisch angelegten Arbeiten der Vertriebenen Franz Neumann und
Ernst Fraenkel bis 1974 bzw. 197719 unübersetzt blieben, während die großen
Hitler-zentrischen Darstellungen bereits seit den 1950er Jahren populär
waren (und blieben); und das zeigt nicht zuletzt der reißende Absatz,
den eine unverändert dämonisierende und darin apologetische Boulevard-Historiographie,
vor allem im Fernsehen, in den letzten Jahren fand.
Hier leistet die Systemtheorie viel, indem sie das NS-Regime radikaler
als sonst in ein modernes Geflecht sozialer Systeme stellt, das sich vor
allem durch eines auszeichnet: Es ist uns bekannt, weil wir darin leben.
Die NS-Zeit rückt damit nicht weiter weg, sondern näher heran. Die Entscheidungen
von damals sind die Entscheidungen von heute. Wenn das so ist, dann ermöglicht
die doch so unterkühlt-amoralische Systemtheorie vielleicht eine intensivere
Betroffenheit als alle in "warmherzige" Geschichtsbilder getauchten Appell-Erzählungen.20
Für das Rechtssystem selbst tritt eine Kontinuität hervor, die nicht mehr
durch bloße Umwertungsnachweise (Rechtsstaat vs. Unrechtsstaat) neutralisierbar
ist. Für die Systemtheorie ist es nicht schwer zu glauben, dass das Recht
von damals das Recht von heute ist. Stärker als ohne sie stellt sich damit
die Frage, ob und inwieweit nach 1933 das Rechtssystem allein durch Selektion
und Variation in die Katastrophe führte und seit 1945 auf ebendiesem Weg
Mittel zu ihrer Vermeidung entwickelt hat. Wer eine solche Besinnung für
überflüssig hält, ist sehr mutig.
Lernerfahrungen für die Systemtheorie
Die Rechtsgeschichte des "Dritten Reiches" könnte zugleich jener Punkt
sein, an dem sich die Systemtheorie durch die Geschichte in Verlegenheit
setzen lässt. Das wäre dann ihre "Gefahr" - aber auch ihr Gewinn. Vor
allem was die Genesis von "Endlösung" und Holocaust angeht.
Zwar deutet die Systemtheorie an, in welchem Ausmaß viele, wenn nicht
sämtliche Systeme am Massenmord beteiligt sein mussten.21 Und vor allem
sensibilisiert sie den Blick für die bürokratisch-mechanische Einbindung
vieler Kommunikationen in ein Unternehmen, dessen moralisch-universale
Dimension in den jeweiligen Systemen nicht mehr abbildbar ist - und lenkt
damit die Aufmerksamkeit auf ein nicht zu überschätzendes Megaproblem
des Rechts wie der Moderne überhaupt.
Aber die Systemrationalitäten von Institutionen, Behörden, Ämtern, Einheiten
etc. vernachlässigt sie. In den dort arbeitenden Rationalitäten, die,
klein in klein und beschränkt auf Organ, Amt, Abteilung, ungemein wenig
Ausweichmöglichkeiten bieten, liegt aber der Verrohungs- und Enthemmungsmotor,
der zum Holocaust führt.22 Vor allem in diesem Zusammenhang versagt die
Systemtheorie. Sie vermag nicht die Handlungen zu erklären, ohne die kein
Jude und keine Jüdin jemals zu Tode gekommen wären: Die Handlung des Einzelnen
vor Ort, die Unterschrift des Behördenleiters am berüchtigten "Schreibtisch"
genauso wie der Mord mit der geladenen Waffe in der Hand; und zugleich
die kleinen Akte der Renitenz, die unspektakulären Entziehungen und Aufmüpfigkeiten,
die möglich waren (nur eben wie?), und schließlich, als Frage auch an
das Recht, etwa das Verteilen von regimefeindlichen Flugblättern an der
Universität, den sicheren Tod vor Augen.
(Nicht nur) hier kann die Systemtheorie mit ihrer theoretischen Entfernung
von Mensch und Handlung nicht beim Wort genommen werden. Dabei geht es
nicht um Psychologisierungen, sondern um Recht, und zwar um jenen Ort,
an dem es, durch Erlass, Anordnung, Weisung etc., potenziert in den Systemrationalitäten
der Organisationseinheiten, in Handlungen übertritt - bzw. dies eben nicht
tut. Vielleicht ist das, auch wenn Antworten nicht ohne weiteres möglich
sind, eine der interessantesten Rechts-Fragen überhaupt.
Eine so systemtheoretisch sensibilisierte Rechtsgeschichte und eine als
durch sie falsifizierbar erkannte Systemtheorie bergen Unwägbarkeiten.
In jedem Fall fordern sie dazu auf, noch genauer, aber eben auch: noch
reflektierter an den Gegenstand heranzugehen. Im Fall des "Dritten Reiches"
würde dies ein Bewusstsein fördern, das sein moralisches Urteil auf eine
sicherere weil bewusstere Grundlage stellen kann. Wir könnten es brauchen.
Viktor Winkler promoviert an der Goethe-Universität Frankfurt
am Main.
Anmerkungen:
1 Luhmann, Biographie, Attitüden, Zettelkasten, in: ders., Short Cuts,
2000, 11.
2 Roellecke, Das Recht von außen und von innen betrachtet, in: Juristenzeitung
(JZ) 1999, 216.
3 So Roellecke, Theorie und Philosophie des Rechts, in: ders. (Hg.), Rechtsphilosophie
oder Rechtstheorie, 1988, 1 ff.
4 Deutlich bei Wesel, Wahrheit und Dichtung, Rechtshistorisches Journal
(RJ) 1998, 113 ff.
5 Roellecke, JZ 1999, 219.
6 Erkennbar in diese Richtung etwa Becker/Reinhardt-Becker, Systemtheorie.
Eine Einführung für die Geschichts- und Kulturwissenschaften, 2001.
7 Grundlegend Broszat, Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung
seiner inneren Verfassung, 1969, jetzt 15. Aufl. 2000; früh bereits Schulz,
Die Anfänge des totalitären Maßnahmenstaates, in: Bracher/Sauer/Schulz
(Hg.), Die Nationalsozialistische Machtergreifung, 1960, 371 ff; zusammenfassend
Winkler, Das rechtliche und ökonomische Profil des "Dritten Reiches",
in: Zumbansen (Hg.), Zwangsarbeit im Dritten Reich: Erinnerung und Verantwortung,
2002, 17 ff.
8 Thomas Blanke sprach treffend von der "Kompromissstruktur des NS-Herrschaftssystems"
als Charakteristikum, vgl. Blanke, Der deutsche Faschismus als Doppelstaat.
Eine Auseinandersetzung mit Ernst Fraenkel, in: Redaktion Kritische Justiz
(Hg.), Der Unrechtsstaat. Recht und Justiz im Nationalsozialismus, 1979,
72.
9 Mit der gebotenen Deutlichkeit (wenn auch mit wenig geschmackssicherem
Titel und manch problematischen Schlussfolgerungen) dazu vor allem Rüthers,
Entartetes Recht, 1994.
10 Rückert, Abbau und Aufbau der Rechtswissenschaft nach 1945, Neue
Juristische Wochenschrift (NJW) 1995, 1251 ff.
11 Statt vieler Mommsen, Hitlers Stellung im nationalsozialistischen Herrschaftssystem,
in: Hirschfeld/Kettenacker (Hg.), Der "Führerstaat". Mythos und Realität,
1981, 43 ff.
12 Grundlegend, bewegend und doch viel zu selten beachtet Göppinger, Juristen
jüdischer Herkunft im Dritten Reich: Entrechtung und Verfolgung, 2. Aufl.
1990.
13 Maus, "Gesetzesbindung" der Justiz und die Struktur der nationalsozialistischen
Rechtsnormen, in: Dreier/Sellert (Hg.), Recht und Justiz im Dritten Reich,
1989, 80 ff.
14 Wie leider wenig andere hier klar, akkurat und streng wieder Rüthers,
Carl Schmitt im Dritten Reich. Wissenschaft als Zeitgeist-Verstärkung?,
2. Aufl. 1990. Die linke Rechtswissenschaft dagegen neigt leider eher
zur Milde angesichts ihrer Sympathie mit diversen Schmitt-Bausteinen.
Zu den Anschlussfragen nach "Schuld" und "Verantwortung" der NS-Wissenschaftler
jetzt unmissverständlich Rückert, Die erste und die zweite Schuld, in:
Lehmann/Oexle G. (Hg.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften,
Bd. 1, 2004, 657.
15 Siehe Rückert, Der Rechtsbegriff der Deutschen Rechtsgeschichte in
der NS-Zeit, in: ders. / Willoweit (Hg.), Die Deutsche Rechtsgeschichte
in der NS-Zeit, 1995, 177 ff.. Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen
Recht, 1974.
16 So treffend Kohl/Stolleis, Im Bauch des Leviathan. Zur Staats und Verwaltungsrechtslehre
im Nationalsozialismus, NJW 1988, 2852.
17 Für den rechtshistorischen Zugriff Stolleis, Vorurteile und Werturteile
der rechtshistorischen Forschung zum Nationalsozialismus, in: ders., Recht
im Unrecht, 1994, 36 ff; zum Gesamtproblem unübertroffen Broszat, Grenzen
der Wertneutralität in der Zeitgeschichtsforschung, in: ders., Nach Hitler,
1986, 92 ff.
18 Broszat, Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus,
Merkur 1985, 373 ff.
19 Fraenkel, The Dual State, dt. 1974.; Neumann, Behemoth, dt. 1977. 20
Jüngere Beispiele für den offenbar unerschütterlichen Vorwurf der moralischen
Indifferenz gegenüber Luhmann mit Blick auf "Drittes Reich" und Holocaust
etwa Ellrich, Der unbezeichnete Faschismus, RJ 1998, 449 ff; Schneider,
Pervertiertes Recht und Modernes Rechtsdenken. Versuch einer Kritik zeitgenössischer
Rechtstheorien, 1999, insb. 121 ff.
21 Siehe dazu Lüdtke, Die Praxis von Herrschaft: Zur Analyse von Hinnehmen
und Mitmachen im deutschen Faschismus, in: Röhr/Berlekamp (Hg.), Terror,
Herrschaft und Alltag im Nationalsozialismus. Probleme einer Sozialgeschichte
des deutschen Faschismus, 1995, 226 ff.
22 Jüngst etwa Mommsen, Barbarei und Genozid, in: ders., Von Weimar nach
Auschwitz, 2001, 268 ff.
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