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Lehren aus Luhmann   Heft 1/2005
Genethik -
Welches Wissen verträgt der Mensch?

Seite 16
Für eine andere Sicht auf Recht im "Dritten Reich"  
 

"Denken Sie doch mal an die Situation 1945, wie man sie als 17-jähriger erlebt: Vorher schien alles in Ordnung zu sein, und hinterher schien alles in Ordnung zu sein, alles war anders und alles war dasselbe."1

Als Niklas Luhmann, von Hause aus Jurist, 1998 starb, konstatierte Gerd Roellecke in seinem Nachruf auf den Großmeister der Systemtheorie angesichts "treuherziger Fragen" nach Möglichkeiten einer Nutzbarmachung dieser soziologischen Großtheorie für fremde Disziplinen: Ebenso könne man nach der Nutzbarmachung der Relativitätstheorie für die Landwirtschaft fragen - der Output wäre ähnlich fruchtbar.2 In der Tat kann man, auch ohne hinter Luhmann gleich Hegel zu entdecken,3 skeptisch sein. Eine Theorie zu exportieren, die feststellt, dass man nichts exportieren kann, weil jedes Kommunikationssystem, an dem wir teilnehmen, unentrinnbar verschlossen und allein selbstreferenziell vor sich hin brodelt, scheint in der Tat ein fragwürdiges Unternehmen zu sein. Es liegt dann nahe, dass alles beisammen und beim Alten bleibt, mit und ohne Systemtheorie.4 Das sieht auch Gerd Roellecke so, und will daher, dass alle Disziplinen brav "bei sich selbst bleiben"5. Das wäre dann tatsächlich ein Nachruf.

Systemtheorie als Chance

Man kann es aber auch anders machen. Und in der Systemtheorie ein Theorieangebot höchster Güte sehen, das sich, wie jedes Theorieangebot, dadurch auszeichnet, dass es (wenn auch nicht verifiziert, so doch immerhin) falsifiziert werden kann an dem, worauf es sich nun einmal bezieht: Den Gegenstand, den es beschreibt.6 Als sozialwissenschaftliche Großtheorie mit universalem Anspruch bietet sie sich hierzu an, nicht weil sie näher an der "Realität" ist, sondern weil sie weiter weg, eben eine Großtheorie ist. Begrifflich hochsensibel und daher genau, hochkomplex und ausdifferenziert in jener selbstreferenziellen Endlosschleife an Theorieproduktion, die sie selbst nun mal ist, eignet sie sich, indem sie sich offen als Theoriegerüst zu erkennen gibt, besonders gut zur Überprüfung.
Dass ein solches Verfahren Gefahren birgt, für die Theorie wie für den Gegenstand, hängt einmal mit dem Kontingenz-Schock zusammen, den die Systemtheorie für die AnwenderInnen bereit hält. Sie entlässt uns nicht nur ohne metaphysische Tröstung, sondern auch ohne jenen Gesamtzusammenhang, den wir selten finden, aber immer suchen. Wenn der metaphysische Sinn der Ereignisse verschwindet, die Theorie aber noch da ist, tritt sie unweigerlich in Konkurrenz zu jener Geschichtsschreibung, die viel Metaphysik hat, aber keine Theorie zu haben meint. Die Geschichtsschreibung hat dann zwei Möglichkeiten: Sie legt die eigene (latente) Theorie offen oder sie überlässt schlicht der Systemtheorie das theoretische Feld. Für die Systemtheorie ist das Risiko aber nicht geringer: Indem sie sich an der Geschichte messen lässt, läuft sie Gefahr, ihr Theoriedesign (alteuropäisch: ihr Gesicht) zu verlieren. Ihr droht dann das Verheerendste, was einer Theorie passieren kann: Sie ist nicht richtig.
Virulent wird dieses Risiko in ganz besonderer Weise bei der Rechtsgeschichte des "Dritten Reiches". Hier potenzieren sich die genannten Gefahren für beide Seiten. Systemtheoretisch gesprochen hat die Geschichtswissenschaft hier als identitätsproduzierende Geschichtsfabrik in struktureller Koppelung an Moral und Politik in besonderem Maße Komplexitätsreduktion zu leisten. Die Systemtheorie sieht sich ihrerseits, wiederum durch Koppelung, als eigenes Wissenschaftssystem einem verschärften, weil mit fremdem (politischen, moralischen) Code überlappten, Wahrheitsfindungs-Programm gegenüber.

Das "Dritte Reich" und die "Fakten"

Warum also mehr Theorie für unser Geschichtsbild und mehr Geschichte für unsere Großtheorie? Gerade bezüglich des "Dritten Reiches" scheint die Geschichtswissenschaft keine Belehrungen zu benötigen. An Informationen über ihren Gegenstand und damit an Nähe zur allseits beschworenen "Realität" mangelt es ihr nicht (jedenfalls nicht zentral). So weiß sie spätestens seit den 1960er Jahren, dass angesichts von Ämterkonfusion, Polykratie der Ressorts, Kompetenzüberlappung etc. das "Dritte Reich" keineswegs jenem propagierten und vor allem nach 1945 gern geglaubten Bild vom "totalen" oder auch nur "totalitären" Staat entsprach.7 Sie weiß, dass der Nationalsozialismus eine hohe "plebiszitäre Sensibilität" (Martin Broszat) besaß, dass er neben offenem Terror immer wieder, und das bis zuletzt, gerade in zentralen Bereichen wie der Wirtschaftspolitik auffällig konsensbemüht war, und dass er zu keiner Zeit einen totalen Zugriff auf die Gesellschaft verwirklicht hat.8 Sie weiß auch, dass es weder in der Verwaltung noch in der Justiz zu einer personellen Kompletterneuerung gekommen ist, dass weder auf die Richterschaft noch auf die (nicht-jüdische) Jurisprudenz als solche direkter Zwang ausgeübt wurde, statt dessen beide Gruppen an mehreren Stellen die Zielvorgaben der Führung sogar an Schärfe übertroffen haben.9 Und sie weiß, dass in Richterschaft, Jurisprudenz und Verwaltung eine erstaunliche personelle Kontinuität auch nach 1945 festzustellen ist.10
Die erste Frage ist: Wie gehen wir um mit diesen Informationen? Hier ist Theorie notwendig. So oder so. Denn die Anschlussfragen müssen doch sein: Was war das für eine Gesellschaft, damals, in der "chaotische Polykratie" möglich war und staatlich organisierter (!) Massenmord? Inwieweit (und vor allem: an welchen Stellen) waren gesellschaftliche Kräfte hinderlich und/oder hilfreich zum Erreichen verbrecherischer Ziele?
Die Geschichtswissenschaft hat hier seit den späten 1960er Jahren den entscheidenden Anfang gemacht, indem sie die, wie sie sagte, strukturellen Bedingungen des NS-Regimes zu Recht gegenüber einer betont personalistisch-intentionalistischen Geschichtsdeutung hervorgehoben hat.11 Damit ist der Beobachterstandpunkt richtig gewählt, denn dahinter steht doch immerhin die Erkenntnis, dass die "Großen" der Weltgeschichte in (und mit) der Weltgeschichte sind, dass sie also von ihrer Umwelt (mindestens) ebenso abhängig sind wie diese von ihnen. Enttarnt ist damit auch, dass der gängigen Historiographie eine (intentionalistische) Theorie zugrunde lag, die angesichts unserer Informationslage als theoretische Prämisse wenig plausibel erscheint. Doch der Hinweis auf die Struktur geht nicht weit genug. Er erklärt weder die Strukturen selbst, etwa den Bau des Rechts- oder des Wirtschaftssystems zwischen 1933 und 1945, noch die Modi, mit denen sie unter-, neben- und aufeinander wirkten, noch die Anschlussstellen, durch die nach 1945 jene berüchtigten "Kontinuitäten" und "Brüche" erst möglich werden konnten.

Lernen aus dem Zettelkasten

Hier liefert die Systemtheorie Einsichten, die die vorhandenen Fakten in eine plausible Beziehung zueinander setzen. Zugleich lenkt sie den Blick auf eher vernachlässigte Informationen, indem sie deren Relevanz für das Gesamtbild andeutet. Dies beginnt bei der zahlreichen Ämterkonfusion, -zersplitterung, -überlappung und -konkurrenz, jenem bemerkenswerten, immense Reibungsverluste erzeugenden Phänomen des "nationalsozialistischen Staates":
Wenn man sich darauf einigen könnte, dass die NSDAP 1933 auf eine funktional ausdifferenzierte Gesellschaft traf, die schon damals aus operativ geschlossenen, nach eigenen Codes arbeitenden sozialen Systemen bestand, und dass Veränderungen im Politiksystem, selbst so einschneidende wie Hitlers Ernennung zum Reichskanzler zunächst nur "outside noise" bildeten, dann wird erklärbar, wie begrenzt die Zugriffsmöglichkeiten Hitlers tatsächlich waren. Das vehement zur Macht drängende Personal der NSDAP konnte, wenn überhaupt, in Gestalt jener zahlreichen halbstaatlichen Zwitterbehörden nur neben die bestehenden Stellen gesetzt werden. Alles zu beherrschen, das ist in ausdifferenzierten Gesellschaften nicht mehr möglich.
Natürlich besteht immer die physische Möglichkeit, alle auszuwechseln, alle zu ermorden, alles zu besetzen. Aber damit ist, selbst theoretisch, das System höchstens zerstört, nicht aber eingenommen. Wer wie Hitler ein in jeder Beziehung so ressourcenaufwendiges Fernziel verfolgt, ist auf die hochspezialisierte Leistung der sozialen Systeme angewiesen. Er kann daher nur von außen im System Resonanzen erzeugen. Diese werden zum Ziel führen, wenn sie mit Rücksicht auf die jeweiligen Systemrationalitäten entworfen sind. Im Wirtschaftssystem, wo das Phänomen einer "friedensmäßigen Kriegswirtschaft" in der Tat mindestens ebenso ausgeprägt war wie das der bekannten "kriegsmäßigen Friedenswirtschaft", und wo das Regime eine besonders ausgeprägte Sensibilität für Gruppeninteressen an den Tat legte, ist das mit den Händen zu greifen.
Das gilt aber auch für das Rechtssystem. Statt der personellen "Massensäuberung" erfolgte "nur" die Entfernung jüdischer oder ansonsten missliebiger Beamter.12 Das konnte das System offenbar verkraften. Notwendig und unerlässlich war nur, das Rechtssystem mit anschlussfähigen Kommunikationen zu versorgen, kurz: Dessen "Sprache" zu sprechen. So wird sinn- und bedeutungsvoll, wenn das Regime es offenbar für erforderlich hielt, das "Ermächtigungsgesetz" dreimal zu verlängern - wo doch vermeintlich die nackte Gewalt allein regierte; wenn im "Unrechts-Staat" dem Reichstag de iure in dem gesamten Zeitraum von 1933 bis 1945 seine Gesetzgebungskompetenz verblieb - wo doch die Herrschenden keine Gelegenheit ausließen, ihre Verachtung für dieses Organ anzubringen; und wenn bis zuletzt darauf verzichtet wurde, Hitler die gesamte (von ihm faktisch ausgeübte) Legislative durch ein Gesetz zu übertragen - obwohl dadurch erhebliche Reibungsverluste entstanden, die durch simplen Rechts-/Gewaltakt zu beheben gewesen wären, zumal in einer auch äußerlich die Omnipotenz des "Führers" sowie die Geringschätzung der Parlamentsdemokratie gleichermaßen dokumentierenden Weise. Auch dass das Regime fast durchweg "Gesetzesattrappen"13 erließ, die keinen oder kaum wirklichen (insofern also auch nicht "pervertierten") Regelungsgehalt besaßen, während es die eigentlichen Ziele per einfacher Weisung und Erlas erreichte, ist ohne die Systemtheorie vielleicht nur die Verhöhnung des Rechtsstaates durch die "Teufelsfratze" (von Münch) nationalsozialistischer Gesetzgebung, mit ihr aber vielleicht das Öl, das eine aus Kommunikationen bestehende Systemwelt am Laufen hielt.

Anschlussfähigkeit an das Rechtssystem

Natürlich bedurften die vielen Rechtswissenschaftler, die nach 1933 engagiert bis euphorisch die Ankunft des neuen Regimes "wissenschaftlich" legitimierten, keines entsprechenden Öls. Männer wie Carl Schmitt boten sich den Machthabenden vehement an - ohne Druck, ohne Terror, ohne Not.14 Ihre Wirkung (in diesem Fall im Wissenschaftssystem) konnten die Herren aber nur ausspielen, indem auch sie an die überlieferten "Kommunikationen" explizit anschlossen:
Sei es die lange vor 1933 beliebte Verachtung für den vermeintlichen "Positivismus", die "Lebensferne", die "Blutleere" der Rechtswissenschaft, sei es die Anrufung von "Gemeinschaftsdenken", "Zugehörigkeit", "Volksgeist" etc. oder auch die Verehrung Hegels.15 Dabei erscheint die oft heruntergespielte Wirkung solcher Publikationsanstrengungen systemtheoretisch in einem anderen Licht. Um ein Kommunikationssystem in entsprechende Schwingungen zu versetzen, ist der von prominenten Wissenschaftlern ausgehende "Werbeeffekt"16 ein bisschen mehr als nur die harm- und wirkungslose Entgleisung von "Verführbaren".
Auch die folgenreiche, vom Regime allseits geforderte und ermöglichte "unbegrenzte Auslegung" (Rüthers) von Rechtsnormen jenseits ihres Wortlautes oder ihrer historischen Zielsetzung erhält eine besondere Bedeutung, wenn man sie als Maßnahme versteht, die die Eigendynamik der systemischen Autopoiesis, der unablässigen Selbsterschaffung des sozialen Systems aus sich heraus, nicht behindern, sondern fördern wollte - gewiss weil man sich der (im Urteilstenor nicht auftauchenden) Gesinnung der Richter sicher sein konnte; aber eben auch, weil die Systeme auf diesem Weg weitaus effizienter für das Gesamtziel arbeiten als bei ihrer bloßen Lahmlegung durch "Terror".
Weder Justiz noch Verwaltung noch Rechtswissenschaft sind je zu reinen Befehlsempfängern geworden. Sie mussten es nicht. Überhaupt ist mit der Freisetzung autopoietischer Eigendynamik ein wesentlicher Charakterzug des "Dritten Reiches" akkurat erfasst. Die Radikalisierungstendenzen innerhalb der Verwaltung, die an vielen Stellen ohne direkte Befehle von oben festzustellen sind, die immense Flut an rechtswissenschaftlichen Publikationen im doch so rechtsfeindlichen "Unrechts-Staat", eine Rechtsprechung, die bemerkenswert linientreu entscheidet ohne durch Gesetze der neuen Führung hieran gebunden zu sein - all das ist zu verstehen als "gewöhnliche" unablässige Produktion blinder weil selbstreferenziell operierender sozialer Systeme.

Broszats Erbe

Die Jahre zwischen 1933 und 1945 sind kein gewöhnlicher Forschungsgegenstand. Dass sie nicht abgelöst von moralischen Reaktionen und den mit ihnen einhergehenden Kategorien zu erforschen sind, ist nicht nur verständlich, sondern sogar legitim und notwendig.17 Die moralische Empörung darf aber nicht zur wissenschaftlichen Kapitulation führen. Ein differenziertes und gerade darin moralisches Urteil ist nur möglich, wenn man die NS-Zeit nicht als Insel in der Geschichte begreift. Für ihre Erforschung müssen die Grundsätze wissenschaftlicher Genauigkeit nicht weniger gelten als sonst, sondern mehr.
Das war es, was der viel zu früh verstorbene Martin Broszat mit seinem legendären "Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus" vor nahezu zwei Jahrzehnten einforderte.18 Es ging (und geht) darum, eine wissenschaftliche Analyse zu erreichen, die fundierter und damit verlässlicher ist als populäre aber unwissenschaftliche Geschichts-Erzählungen. Dass dies keine Selbstverständlichkeit ist, zeigt etwa der Umstand, dass die frühen empirisch angelegten Arbeiten der Vertriebenen Franz Neumann und Ernst Fraenkel bis 1974 bzw. 197719 unübersetzt blieben, während die großen Hitler-zentrischen Darstellungen bereits seit den 1950er Jahren populär waren (und blieben); und das zeigt nicht zuletzt der reißende Absatz, den eine unverändert dämonisierende und darin apologetische Boulevard-Historiographie, vor allem im Fernsehen, in den letzten Jahren fand.
Hier leistet die Systemtheorie viel, indem sie das NS-Regime radikaler als sonst in ein modernes Geflecht sozialer Systeme stellt, das sich vor allem durch eines auszeichnet: Es ist uns bekannt, weil wir darin leben. Die NS-Zeit rückt damit nicht weiter weg, sondern näher heran. Die Entscheidungen von damals sind die Entscheidungen von heute. Wenn das so ist, dann ermöglicht die doch so unterkühlt-amoralische Systemtheorie vielleicht eine intensivere Betroffenheit als alle in "warmherzige" Geschichtsbilder getauchten Appell-Erzählungen.20
Für das Rechtssystem selbst tritt eine Kontinuität hervor, die nicht mehr durch bloße Umwertungsnachweise (Rechtsstaat vs. Unrechtsstaat) neutralisierbar ist. Für die Systemtheorie ist es nicht schwer zu glauben, dass das Recht von damals das Recht von heute ist. Stärker als ohne sie stellt sich damit die Frage, ob und inwieweit nach 1933 das Rechtssystem allein durch Selektion und Variation in die Katastrophe führte und seit 1945 auf ebendiesem Weg Mittel zu ihrer Vermeidung entwickelt hat. Wer eine solche Besinnung für überflüssig hält, ist sehr mutig.

Lernerfahrungen für die Systemtheorie

Die Rechtsgeschichte des "Dritten Reiches" könnte zugleich jener Punkt sein, an dem sich die Systemtheorie durch die Geschichte in Verlegenheit setzen lässt. Das wäre dann ihre "Gefahr" - aber auch ihr Gewinn. Vor allem was die Genesis von "Endlösung" und Holocaust angeht.
Zwar deutet die Systemtheorie an, in welchem Ausmaß viele, wenn nicht sämtliche Systeme am Massenmord beteiligt sein mussten.21 Und vor allem sensibilisiert sie den Blick für die bürokratisch-mechanische Einbindung vieler Kommunikationen in ein Unternehmen, dessen moralisch-universale Dimension in den jeweiligen Systemen nicht mehr abbildbar ist - und lenkt damit die Aufmerksamkeit auf ein nicht zu überschätzendes Megaproblem des Rechts wie der Moderne überhaupt.
Aber die Systemrationalitäten von Institutionen, Behörden, Ämtern, Einheiten etc. vernachlässigt sie. In den dort arbeitenden Rationalitäten, die, klein in klein und beschränkt auf Organ, Amt, Abteilung, ungemein wenig Ausweichmöglichkeiten bieten, liegt aber der Verrohungs- und Enthemmungsmotor, der zum Holocaust führt.22 Vor allem in diesem Zusammenhang versagt die Systemtheorie. Sie vermag nicht die Handlungen zu erklären, ohne die kein Jude und keine Jüdin jemals zu Tode gekommen wären: Die Handlung des Einzelnen vor Ort, die Unterschrift des Behördenleiters am berüchtigten "Schreibtisch" genauso wie der Mord mit der geladenen Waffe in der Hand; und zugleich die kleinen Akte der Renitenz, die unspektakulären Entziehungen und Aufmüpfigkeiten, die möglich waren (nur eben wie?), und schließlich, als Frage auch an das Recht, etwa das Verteilen von regimefeindlichen Flugblättern an der Universität, den sicheren Tod vor Augen.
(Nicht nur) hier kann die Systemtheorie mit ihrer theoretischen Entfernung von Mensch und Handlung nicht beim Wort genommen werden. Dabei geht es nicht um Psychologisierungen, sondern um Recht, und zwar um jenen Ort, an dem es, durch Erlass, Anordnung, Weisung etc., potenziert in den Systemrationalitäten der Organisationseinheiten, in Handlungen übertritt - bzw. dies eben nicht tut. Vielleicht ist das, auch wenn Antworten nicht ohne weiteres möglich sind, eine der interessantesten Rechts-Fragen überhaupt.
Eine so systemtheoretisch sensibilisierte Rechtsgeschichte und eine als durch sie falsifizierbar erkannte Systemtheorie bergen Unwägbarkeiten. In jedem Fall fordern sie dazu auf, noch genauer, aber eben auch: noch reflektierter an den Gegenstand heranzugehen. Im Fall des "Dritten Reiches" würde dies ein Bewusstsein fördern, das sein moralisches Urteil auf eine sicherere weil bewusstere Grundlage stellen kann. Wir könnten es brauchen.

Viktor Winkler promoviert an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Anmerkungen:

1 Luhmann, Biographie, Attitüden, Zettelkasten, in: ders., Short Cuts, 2000, 11.
2 Roellecke, Das Recht von außen und von innen betrachtet, in: Juristenzeitung (JZ) 1999, 216.
3 So Roellecke, Theorie und Philosophie des Rechts, in: ders. (Hg.), Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie, 1988, 1 ff.
4 Deutlich bei Wesel, Wahrheit und Dichtung, Rechtshistorisches Journal (RJ) 1998, 113 ff.
5 Roellecke, JZ 1999, 219.
6 Erkennbar in diese Richtung etwa Becker/Reinhardt-Becker, Systemtheorie. Eine Einführung für die Geschichts- und Kulturwissenschaften, 2001.
7 Grundlegend Broszat, Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung, 1969, jetzt 15. Aufl. 2000; früh bereits Schulz, Die Anfänge des totalitären Maßnahmenstaates, in: Bracher/Sauer/Schulz (Hg.), Die Nationalsozialistische Machtergreifung, 1960, 371 ff; zusammenfassend Winkler, Das rechtliche und ökonomische Profil des "Dritten Reiches", in: Zumbansen (Hg.), Zwangsarbeit im Dritten Reich: Erinnerung und Verantwortung, 2002, 17 ff.
8 Thomas Blanke sprach treffend von der "Kompromissstruktur des NS-Herrschaftssystems" als Charakteristikum, vgl. Blanke, Der deutsche Faschismus als Doppelstaat. Eine Auseinandersetzung mit Ernst Fraenkel, in: Redaktion Kritische Justiz (Hg.), Der Unrechtsstaat. Recht und Justiz im Nationalsozialismus, 1979, 72.
9 Mit der gebotenen Deutlichkeit (wenn auch mit wenig geschmackssicherem Titel und manch problematischen Schlussfolgerungen) dazu vor allem Rüthers, Entartetes Recht, 1994.
10 Rückert, Abbau und Aufbau der Rechtswissenschaft nach 1945, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1995, 1251 ff.
11 Statt vieler Mommsen, Hitlers Stellung im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, in: Hirschfeld/Kettenacker (Hg.), Der "Führerstaat". Mythos und Realität, 1981, 43 ff.
12 Grundlegend, bewegend und doch viel zu selten beachtet Göppinger, Juristen jüdischer Herkunft im Dritten Reich: Entrechtung und Verfolgung, 2. Aufl. 1990.
13 Maus, "Gesetzesbindung" der Justiz und die Struktur der nationalsozialistischen Rechtsnormen, in: Dreier/Sellert (Hg.), Recht und Justiz im Dritten Reich, 1989, 80 ff.
14 Wie leider wenig andere hier klar, akkurat und streng wieder Rüthers, Carl Schmitt im Dritten Reich. Wissenschaft als Zeitgeist-Verstärkung?, 2. Aufl. 1990. Die linke Rechtswissenschaft dagegen neigt leider eher zur Milde angesichts ihrer Sympathie mit diversen Schmitt-Bausteinen. Zu den Anschlussfragen nach "Schuld" und "Verantwortung" der NS-Wissenschaftler jetzt unmissverständlich Rückert, Die erste und die zweite Schuld, in: Lehmann/Oexle G. (Hg.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Bd. 1, 2004, 657.
15 Siehe Rückert, Der Rechtsbegriff der Deutschen Rechtsgeschichte in der NS-Zeit, in: ders. / Willoweit (Hg.), Die Deutsche Rechtsgeschichte in der NS-Zeit, 1995, 177 ff.. Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, 1974.
16 So treffend Kohl/Stolleis, Im Bauch des Leviathan. Zur Staats und Verwaltungsrechtslehre im Nationalsozialismus, NJW 1988, 2852.
17 Für den rechtshistorischen Zugriff Stolleis, Vorurteile und Werturteile der rechtshistorischen Forschung zum Nationalsozialismus, in: ders., Recht im Unrecht, 1994, 36 ff; zum Gesamtproblem unübertroffen Broszat, Grenzen der Wertneutralität in der Zeitgeschichtsforschung, in: ders., Nach Hitler, 1986, 92 ff.
18 Broszat, Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus, Merkur 1985, 373 ff.
19 Fraenkel, The Dual State, dt. 1974.; Neumann, Behemoth, dt. 1977. 20 Jüngere Beispiele für den offenbar unerschütterlichen Vorwurf der moralischen Indifferenz gegenüber Luhmann mit Blick auf "Drittes Reich" und Holocaust etwa Ellrich, Der unbezeichnete Faschismus, RJ 1998, 449 ff; Schneider, Pervertiertes Recht und Modernes Rechtsdenken. Versuch einer Kritik zeitgenössischer Rechtstheorien, 1999, insb. 121 ff.
21 Siehe dazu Lüdtke, Die Praxis von Herrschaft: Zur Analyse von Hinnehmen und Mitmachen im deutschen Faschismus, in: Röhr/Berlekamp (Hg.), Terror, Herrschaft und Alltag im Nationalsozialismus. Probleme einer Sozialgeschichte des deutschen Faschismus, 1995, 226 ff.
22 Jüngst etwa Mommsen, Barbarei und Genozid, in: ders., Von Weimar nach Auschwitz, 2001, 268 ff.