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Schon seit geraumer Zeit wird Bioethik aus verfassungsrechtlicher Sicht
diskutiert. Öffentlichkeitswirksam wurde die Debatte im Herbst 2003 durch
einen Essay des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde
in der FAZ,1 den er mit "Die Würde des Menschen war unantastbar" überschrieb.
Seitdem wird in deutschen Feuilletons heftig über die Relativierung der
Menschenwürde diskutiert, seitdem ist die Gentechnik-Debatte um ihre verfassungsrechtliche
Dimension reicher. Böckenfördes Mahnung traf damals auf fruchtbaren Boden,
wurden doch gerade Stammzellenforschung, therapeutisches Klonen und Präimplantationsdiagnostik
(PID) thematisiert - das Stammzellengesetz war im Vorjahr verabschiedet
worden -, und von vielen als bedrohliche Beispiele einer Relativierung
der Menschenwürde wahrgenommen.
Böckenfördes Thema ist die von Matthias Herdegen vorgenommene Neukommentierung
des Grundsatzes der Unantastbarkeit der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz
[GG]) im Kommentar von Maunz/Dürig, die er als "Epochenwechsel" bezeichnet.
Ihm zufolge ist in der verfassungsrechtlichen Literatur ein "Wechsel im
Verständnis der Würde-Garantie" zu beobachten "vom tragenden Fundament
der neu errichteten staatlichen Ordnung, das deren Identität ausweist,
zu einer Verfassungsnorm auf gleicher Ebene neben anderen, die rein staatsrechtlich,
das heißt aus sich heraus positiv-rechtlich zu interpretieren ist."
Die für die "Verfassungsväter" so evidente, aus der Erfahrung des Nationalsozialismus
geborene "Notwendigkeit eines bleibenden, unabdingbaren Halte- und Orientierungspunktes
für die Ordnung des Zusammenlebens der Menschen" habe für die neue Generation
von Staatsrechtlern, für die das "Dritte Reich" nur noch Geschichte sei,
offensichtlich keine Bedeutung mehr. Für die Zukunft biete letztlich auch
die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG keinen Schutz gegen eine schleichende
Neuinterpretation der Verfassung. Mit dieser Neukommentierung, so endet
Böckenförde, sei ein Kernstück herausgebrochen aus dem ursprünglichen
"Maunz-Dürig", so dass dessen verstorbener Mitbegründer Günter Dürig darum
bitten würde, "seinen Namen hinfort aus dem Titel des Gesamt-Kommentars
herauszunehmen."
Menschenwürde als abstrakte Seinsgegebenheit
Die Unterschiede zwischen der Kommentierung Dürigs von 1958 und derjenigen
Herdegens von 2003 sind in der Tat erheblich. Dürig versteht die Menschenwürde
als naturrechtlichen Begriff, der im GG positiviert werde. Die Würdegarantie
ist für ihn "oberstes Konstitutionsprinzip allen objektiven Rechts", das
die Basis für ein ganzes, in den folgenden Grundrechten zugunsten des
Einzelnen konkretisiertes, "Wert- und Anspruchssystem"2 bildet, aber eben
kein selbständiges Grundrecht ist. Die Menschenwürde sei - entsprechend
der so genannten "Mitgifttheorie" - eine dem Menschen "Kraft seines Geistes,
der ihn abhebt von der unpersönlichen Natur" abstrakt zukommende Seinsgegebenheit,
auf deren Konkretisierung beim konkreten Menschen es nicht ankomme.3 Selbstverständlich
sei deshalb - ebenso wie der "Geisteskranke" - auch der "nasciturus" vom
Schutz der Menschenwürde (in ihrer objektiven Dimension) umfasst.
Für Dürig folgt aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde unter anderem
das absolute Verbot von Praktiken wie Folter oder "Menschenzucht". Eine
(damals hypothetische) Legalisierung der Abtreibung wäre ihm zufolge "bereits
nach Art. 1 Abs. 1 Verfassungsunrecht",4 auch Angriffe Privater auf das
"ungeborene Leben" müsse der Staat abwehren. Das Vorverständnis Dürigs
wird bei seiner Begründung der Würdewidrigkeit der heterologen Insemination
besonders sichtbar: Naturwidrigkeit werde mit ihr zum System, überhaupt
könne "der Samenproduzent, dem es gleichgültig ist, wem das Sperma zur
Verfügung gestellt wird [...] nur schaudernd gedacht werden"5. Dürigs
Position ist dogmatisch scharf und basiert klar erkennbar auf einer christlich
motivierten Reaktion auf die deutschen Verbrechen aus der NS-Zeit.
Entwicklungsabhängiger Würdeschutz
Herdegen hingegen will die Menschenwürde vom positiven Recht her bestimmen
und stuft sie verfassungsdogmatisch quasi exklusiv als subjektiv-rechtlichen
Anspruch ein. Nicht einmal negativ, also von den Verletzungshandlungen
her, lasse sich der Inhalt der Menschenwürde klar bestimmen. Insbesondere
die auf Kant zurückgehende "Objektformel" (wonach der Mensch nie zum Objekt
staatlichen Handelns werden dürfe), die das BVerfG verwendet, sei nicht
immer operabel. Deswegen will Herdegen zwischen einem evidenten "Würdekern"
und einem "peripheren abwägungsoffenen Schutzbereich" abschichten.6
Vordergründig hält er zwar an der "Abwägungsfestigkeit" des Würdeschutzes
fest. Doch bei der im Einzelfall vorzunehmenden Konkretisierung des Würdeanspruchs
könne sehr wohl mit den Rechtsgütern Dritter abgewogen werden. Denn: "Trotz
des kategorischen Würdeanspruchs aller Menschen sind Art und Maß des Würdeschutzes
für Differenzierungen durchaus offen, die den konkreten Umständen Rechnung
tragen."7 In vitro erzeugte Embryonen besäßen i.E. mangels Entwicklungsperspektive
keine Menschenwürde - eine Pflicht zur Implantation könne es nicht geben.
Keimbahntherapie und positive Eugenik beträfen dem entsprechend ebenso
niemanden in seiner Würde wie die verbrauchende Stammzellenforschung,
das reproduktive Klonen hingegen schon: Es beraube den "Geklonten" seiner
genetischen Identität, die Bestandteil der Menschenwürde sei.8 Der Schwangerschaftsabbruch
sei entgegen dem BVerfG9 regelmäßig nur ein Eingriff in das Recht auf
Leben des Embryos aus Art. 2 Abs. 2 GG, wenn sie nämlich "allein mit der
Ablehnung der Schwangerschaft als solcher" motiviert ist.10
Herdegens Position bietet also viel Flexibilität, die zu bedenklichen
Ergebnissen führt - übrigens auch beim Thema Folter: Die Rechte und Interessen
Dritter will er bei der Konkretisierung des Würdeanspruchs des/der Gefolterten
berücksichtigen, i.E. liegt dann nicht immer eine Würdeverletzung vor.
In Sachen Gentechnik ermöglicht Herdegens Auffassung die Unterordnung
unter Forschungs- und Verwertungsinteressen der Biotechnologie-Unternehmen.
Liberale Eugenik rückt in Reichweite.11
Konservativer Rollback?
Der Vorwurf an Herdegen, er relativiere "die Unabdingbarkeit der Menschenwürde
selbst, wiewohl der Anschein erweckt wird, diese bestünde fort" (Böckenförde),
trifft also zu. De facto erhält Art. 1 Abs. 1 GG hier die Struktur eines
einfachen Freiheitsgrundrechts, was verfassungsdogmatisch angreifbar ist.12
Inhaltlich aber steht Herdegen mit dem, was Böckenförde für den Anfang
eines gefährlichen bioethischen Dammbruchs hält, längst nicht allein da:
Die Menschenwürde-Trägerschaft des pränadativen Embryos lehnen viele Staatsrechtler
ab.13 Und so nachvollziehbar die Melancholie eines Verfassungsrechtlers
aus dieser Generation angesichts der neueren Entwicklungen auch sein mag:
Unbedenklich ist sie aus zwei Gründen nicht. Wenn Böckenförde schreibt,
mit der Menschenwürde werde dem GG seine "Grundfeste und metapositive
Verankerung" entzogen, und der "Pfeiler im Strom des verfassungsrechtlichen
Diskurses" fließe nun in diesem mit,14 dann ist die Nähe zu konservativen
Klagen über den modernen Werte- und Sittenverfall schwer zu übersehen.
Die Moralvorstellungen des "Verfassungsvaters" Dürig, der seinen "Anker"
im Christentum und dessen Menschenbild fand, sind in der Tat mit Vorsicht
zu genießen, gerade in Anbetracht der am Rande der Gentechnikdebatte laut
werdenden Rufe nach einem konservativen Rollback beim Thema Abtreibung.
So hat sich z.B. der ehemalige Präsident des BVerfG Ernst Benda für eine
strikte Unterordnung von PID, therapeutischem Klonen und Stammzellenforschung
unter die Menschenwürde ausgesprochen. Dabei erwähnte er ausdrücklich
den Einfluss und die Verantwortung der Bürger, die durch gesellschaftlichen
Druck etwa auch das Thema Abtreibung wieder auf die Tagesordnung setzen
könnten.15
Wenn man aus der Lektüre des Grundgesetzes von 1949 heraus konkrete Praktiken
über 50 Jahre später absolut verbieten will, ist das aus demokratietheoretischer
Sicht nicht unproblematisch: Sollen wirklich gesellschaftlich so umstrittene
Themen dem Gesetzgeber und damit (zumindest theoretisch) der Entscheidung
der BürgerInnen auf ewig entzogen bleiben? Der Gedanke liegt nahe, dass
damit die Verfassung überfrachtet wird - auch, dass in der Konsequenz
die Würdegarantie sogar eher aufgeweicht werden könnte.
Gattungsethik
Geht man auf der Suche nach einem "dritten Weg" von der Unantastbarkeit
der Menschenwürde als "Bedingung für die Möglichkeit einer ausgezeichneten
normativen Ordnung, nämlich einer solchen, der die Unterworfenen jederzeit
sollen zustimmen können"16 aus, muss man an der objektiv-rechtlichen Dimension
der Menschenwürde festhalten. Mehr als nur subjektives Recht ist sie oberstes
Staatskonstitutionsprinzip. Gentechnische Praktiken sind danach unabhängig
von der subjektiven Würdeträgerschaft von Embryonen dann menschenwürde-
und somit verfassungswidrig, wenn sie gegen die objektive Dimension der
Menschenwürde verstoßen.
Für die PID, bei der "lebenswertes" Leben selektiert und die Zufälligkeit
der menschlichen Eigenschaften durch einer Art Zulassungskontrolle zur
Gattung Mensch aufgehoben wird, bedeutet das: Sie stellt die gegenseitige
Anerkennung aller Menschen als Freie und Gleiche, also die Basis von Menschenwürde,
Menschenrechten und Demokratie,17 in Frage und ist als Verstoß (zumindest)
gegen die objektive Dimension von Art. 1 Abs. 1 GG verfassungswidrig.
Daran führt auch die vorgeschlagene Begrenzung auf Ausnahmefälle nicht
vorbei - zumal zu bezweifeln ist, ob eine solche Begrenzung in der Realität
lange Bestand hätte. Der Schwangerschaftsabbruch hingegen, der sich in
einer Tötungshandlung erschöpft und kein Unwerturteil über den Embryo
spricht, ist nur ein Eingriff in das (von der Menschenwürde zu trennende!)
Recht auf Leben des Embryos und i.E. gerechtfertigt.18 Andere Praktiken,
die wie die Stammzellenforschung nicht die Menschenwürde in Frage stellen,
wären grundsätzlich für eine gesetzgeberische Regelung offen.
Man mag die Betonung der Notwendigkeit eines "naturrechtlichen Ankers"
(Böckenförde) der Verfassung für konservativ halten. Bei genauerer Betrachtung,
insb. der Gefahren eines totalen moralischen Relativismus, ist es aber
dringende gesellschaftliche Aufgabe, sich über die vernünftigen ethischen
Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens zu verständigen. Dabei bietet
das GG nicht mehr, aber auch nicht weniger als den Rahmen, der in der
politischen Auseinandersetzung ausgefüllt werden muss.
John Philipp Thurn studiert Jura in Freiburg.
Anmerkungen:
1 Böckenförde, Die Würde des Menschen war unantastbar. Abschied von den
Verfassungsvätern, in: FAZ v. 3.9.2003, 33 u. 35.
2 Dürig, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar (bis 2003), Art. 1 Abs. 1, Rn.
4 f.
3 Ebd., Rn. 18.
4 Ebd., Rn. 24.
5 Ebd., Rn. 39.
6 Herdegen, in: Maunz/Dürig (ab 2003), Art. 1 Abs. 1, Rn. 43 f.
7 Ebd., Rn. 50.
8 Ebd., Rn. 98.
9 BVerfGE 39, 1.
10 Herdegen, a.a.O., Rn. 105.
11 Siehe Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu
einer liberalen Eugenik?, 2001.
12 So Petersen, Auf dem Weg zur zweckrationalen Relativität des Menschenwürdeschutzes,
in: Kritische Justiz (KJ) 2004, 316 ff.
13 Z.B. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG-Kommentar, Art. 1 I Rn. 82 ff.;
Podlech, in: Alternativkommentar zum GG, Art. 1 Abs. 1, Rn.57 f.
14 Böckenförde, a.a.O.
15 Bonner General-Anzeiger v. 25.05.2003.
16 Podlech, a.a.O., Rn. 15.
17 Sackofsky, U., PID und Grundgesetz, in: KJ 2003, 274 ff. mit
Verweis auf Habermas, aaO.
18 So auch Sackofsky, aaO, 286.
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