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Das Recht auf Abtreibung ist seit Entstehung der Frauenbewegung ein zentrales
Element weiblicher Selbstbestimmung. Durch humangenetische Beratung wird
Abtreibung jedoch als eugenische Maßnahme nach pränataler Diagnostik eingesetzt
- angesichts einer Stigmatisierung von Menschen mit Behinderung ein Konflikt,
der im Folgenden beleuchtet wird.
Auswirkungen von pränataler Diagnostik und Fetaltherapie
auf die schwangere Frau
Während die Schwangerschaft einer Frau sich früher an subjektiven, von
ihr selbst festgestellten Anzeichen festmachte, ist heute das Bewusstsein
schwanger zu sein, stark von dem Ergebnis eines chemischen Tests oder
einer medizinischen Untersuchung geprägt. Nach und nach gewannen erst
die Hände der/s GeburtshelferIn, das Stethoskop, dann Röntgenstrahlen
und Ultraschallgerät und jetzt Amniozentese (eine Fruchtwasseruntersuchung,
mit der sich Erbkrankheiten und Chromosomenanomalien wie Trisomie 21 feststellen
lassen) und Chorionzottenbiopsie (zur genetischen Analyse wird Material
vom Gewebe der Eihülle entnommen) an Bedeutung.
Die zunehmende Technisierung von Schwangerenvorsorge und Geburtshilfe
bewirkt ein stärkeres Gebundensein der Frauen an Ärzteschaft und medizinische
Technik. Pränatale Diagnostik, Fetaltherapie und auch in-vitro-Fertilisation
können nur von FachmedizinerInnen ausgeführt werden, zudem ist es schwierig,
als medizinische Laiin den Überblick zu behalten. Sowohl die schwangere
Frau als auch der Fetus unterliegen ständiger Kontrolle und Bewertung
- Schwangerschaft wird zu einem überwachungsbedürftigen Krankheitszustand.
Ultraschall und Amniozentese als "Qualitätskontrollen" weisen das Vorhandensein
bestimmter Krankheiten sowie körperlicher oder geistiger "Fehlentwicklungen"
am Embryo nach oder schließen sie aus.1 Es wird geprüft, ob sich eine
therapeutische Intervention (Fetaltherapie) überhaupt lohnt, oder aber
ob das Leben des Fetus als "nicht lebenswert" prognostiziert und daher
beendet wird.
Ultraschall, biochemische Tests und genetische Untersuchungsverfahren
bieten aber vor allem den ÄrztInnen eine optimale Entscheidungsgrundlage.
Diese sind durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) zu einer
umfassenden Beratung verpflichtet und können einer möglichen Haftung nur
entgehen, wenn sie der schwangeren Frau im Vorfeld zur Amniozentese und
zu anderen pränatalen Diagnosemaßnahmen raten. Behandelnde/r Arzt/Ärztin
und Überweisungsarzt/-ärztin müssen dafür einstehen, dass die Amniozentese
so früh wie möglich durchgeführt wird.2
Es ist davon auszugehen, dass die ärztlichen Beratungen nicht wertneutral
sind. So hat das Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf 1989 eine direktive
Beratungspflicht vorgeschrieben,3 nachdem zuvor der BGH bereits von einem
"aufklärungsrichtigen" Verhalten der über das Risiko der Geburt eines
behinderten Kindes informierten Frau gesprochen hat.4 Eine rechtlich formulierte
Verhaltensnorm für die schwangere Frau findet sich auch in der Literatur,
so z.B. der Rechtsprofessor Detlev Krauß: "Der Arzt hat demnach die Mitwirkung
der Frau an der Erstellung einer optimalen Diagnose mit allem Nachdruck
zu fordern. [...] Das Gesetz gewährt der Schwangeren Schutz vor einer
unzumutbaren Beeinträchtigung ihres zukünftigen Lebens durch ein geschädigtes
Kind - es verlangt jedoch dabei deren opferbereite Mitwirkung zur Vermeidung
von Fehldiagnosen über mögliche oder sichere Schäden des Ungeborenen5."
Die Angst von Frauen vor der Geburt eines behinderten Kindes wird verstärkt
und nimmt zu, die Nachfrage von Frauen in Bezug auf eugenische Beratung
und Tests erhöht sich stetig. Statt Sicherheit zu schaffen, bringen die
Testverfahren jedoch immer neue, weitere Tests hervor. Zum Teil birgt
die Durchführung der Tests selbst das Risiko einer embryonalen Schädigung.
Vor dem Hintergrund der dargestellten Beeinflussung durch MedizinerInnen
kann nicht von einer wirklich autonomen Entscheidung der Frau ausgegangen
werden.
Eine neue Fortpflanzungsindustrie ist entstanden: "Durch die neuen Technologien
und die dadurch möglich gewordenen Fortpflanzungsalternativen entsteht
um die sich ursprünglich in der Privatsphäre abspielenden Vorgänge des
Kinderzeugens und -gebärens ein Markt, der zunehmend von kommerziellen
Interessen geprägt wird"6 und beherrscht ist von der Idee des gesunden,
funktionstüchtigen Lebens. Es geht jetzt um Verträge, um Leistungen, um
Qualität.
Der Fetus als eigenständiges Rechtssubjekt - Folgen für
die schwangere Frau
Die Einordnung des Fetus als eigenständiges Rechtssubjekt unabhängig
von der schwangeren Frau führt zum Konflikt zwischen den beiden Rechtssubjekten.
Das wird deutlich, wenn die Frau bestimmte Maßnahmen pränataler Diagnostik
und Therapie nicht durchführen lassen oder aber die Schwangerschaft nicht
austragen will. Die Rechte des Fetus stehen dann gegen das Selbstbestimmungsrecht
der Frau. Insbesondere die ÄrztInnen vertreten die Rechte des Fetus, der
in diesem Sinne vor der Frau geschützt werden soll.7 Die Frau wurde zum
"fetalen Umfeld", d.h. zu einem überwachten, kontrollierten Aufbewahrungsort
für Embryonen.8 Es ist davon auszugehen, dass, sofern eine Beeinträchtigung
des Fetus vorgeburtlich therapierbar ist, dessen Recht auf Behandlung
stärker gewichtet wird als das der Frau.9 In den USA gilt es beispielsweise
als besonders schonend, durch Kaiserschnitt auf die Welt zu kommen - dementsprechend
werden Frauen genötigt, diese Operation durchführen zu lassen.10
Reproduktive Selbstbestimmung der Frau
Bei der Frage nach weiblicher Selbstbestimmung in Bezug auf pränatale
Diagnose geht es wesentlich um das Verhältnis von Individuum und Kollektiv,
um die sozialen Bezüge individueller Selbstbestimmung. Reproduktive Selbstbestimmung
ist seit den 1970er Jahren eines der Hauptanliegen der Frauenbewegung
gewesen. Während die von Teilen der Bewegung im Namen der Selbstbestimmung
vertretene Forderung nach Streichung des § 218 Strafgesetzbuch (StGB)
sich gegen staatliche Regulierung richtete, steht der Begriff der Selbstbestimmung
seit Ende der 80er Jahre eher für die Forderung nach einem "Frauenrecht".11
Der Begriff wird jedoch sehr unterschiedlich gefüllt.
So betonte die Ökofeministin Maria Mies 1986, dass es nicht darum gehe,
vom Staat das "Recht" auf Abtreibung oder auf Samenbanken etc. zu fordern,
sondern sich diese Rechte einfach zu nehmen.12 Die deutlichste Gegenposition
dazu vertritt die US-Amerikanerin Laurie B. Andrews. Sie fordert nicht
nur das Recht auf Abtreibung, für sie umfasst reproduktive weibliche Selbstbestimmung
auch das Eigentumsrecht der Frau an ihrem Körper, damit Frauen unmittelbar
finanziell vom Verkauf ihrer Körperteile und von ihren körperlichen Dienstleistungen
profitieren können.13
Auch für Silvia Kontos beinhaltet weibliche Selbstbestimmung die Inanspruchnahme
von Gen- und Reproduktionstechnologien. Für sie hat Selbstbestimmung vor
allem mit Autonomie im gesamten Reproduktionsprozess zu tun. Autonomie
versteht sie als Kampf um die größtmöglichen Entscheidungs- und Handlungsspielräume
von Frauen. Kontos bezieht sich dabei auf den Umgang mit den eigenen sexuellen
Empfindungen und Bedürfnissen, auf Menstruation, Empfängnisverhütung und
Abtreibung, auf die Gestaltung von Schwangerschaft und Geburt sowie auf
den Umgang mit Kindern. Sie unterzieht den Reproduktionsprozess jedoch
einer kritischen Reflexion und fordert, dass Frauen sich mit den gesellschaftlichen
Folgen ihrer privaten Entscheidung auseinandersetzen.14
Die Wurzeln des heutigen Selbstbestimmungsbegriffs
Mit den Wurzeln des heutigen Selbstbestimmungsbegriffs hat sich die österreichische
Soziologin Susan Zimmermann bei der Untersuchung der Sexualreformerinnen
zur Zeit der Jahrhundertwende befasst. Ziel von Feministinnen wie Helene
Stöcker oder Annemarie Durand-Wever war die umfassende Reform des Geschlechtslebens
und der Mutterschaft im Sinne der Utopie einer Gesellschaft freier und
gleichberechtigter Individuen beiderlei Geschlechts.
Die Sexualreformerinnen beteiligten sich jedoch zum Teil an der Etablierung
einer rassenhygienischen Ideologie: Ihre Utopie sollte für verantwortungsbewusste
Frauen gelten, welche die individuelle Freiheit zur "Höherentwicklung
der Rasse" einsetzen. So forderten sie Normierung, Überwachung und rechtliche
Sanktionen für verantwortungsloses Gebärverhalten, beispielsweise im "Bund
für Mutterschutz". Zimmermann geht davon aus, dass auch der heutige Selbstbestimmungsbegriff
noch auf ähnlichen Positionen basiert, so dass für alle Frauen ein befreiender
Umgang mit ihrer Gebärfähigkeit ausgeschlossen sei. Sie fordert daher
eine vollständige Abkehr vom Selbstbestimmungsbegriff.15
Selbstbestimmung als Widerstandsbegriff der Frauenbefreiung
Andere Theoretikerinnen halten dennoch am Selbstbestimmungsbegriff fest,
so beispielsweise Ute Anneke, die Herausgeberin der "beiträge zur feministischen
theorie und praxis". Der Begriff der Selbstbestimmung stellt für sie aufgrund
seines antihierarchischen Moments immer noch einen Widerstandsbegriff
der Frauenbefreiung dar. Anneke fordert ein Einlassen auf eine positive
inhaltliche Begriffsbestimmung als die Möglichkeit, etwas mit der eigenen
Stimme festzusetzen und zu benennen, sich nicht von anderen bestimmen
zu lassen.16
Diese positive Besetzung und Erstreitung von Selbstbestimmung erscheint
ihr gerade im Hinblick auf die neuen Technologien notwendig. Gerade weil
die Vielfalt der technologischen Angebote an Diagnose- und Behandlungsmethoden
in der Medizin, in der Reproduktionstechnik Frauen keine wirklichen Entscheidungsalternativen
eröffnen, sondern die Übereinstimmung mit den herrschenden sozialen Erwartungen
- zum Beispiel mit der Erwartung, kein behindertes Kind zur Welt zu bringen
- voraussetzen, ist es um so dringlicher, dass Frauen sich eine inhaltliche
Entscheidungsfreiheit und Wahlfreiheit erstreiten. Nur der aufklärerische
feministische Dialog, der die materiellen Verhältnisse, Interessen und
Entscheidungsräume thematisiert, in denen sich weibliche Selbstbestimmung
ausdrückt, die potentielle Widersprüchlichkeit zwischen individuellen
und kollektiven Bedürfnissen von Frauen problematisiert und die strukturelle
Verantwortung - auch von Frauen - diskutiert, trägt die Chance in sich
zum (selbst-) bewussten Handeln und stärkt den gemeinsamen Widerstand.
Diskriminierung von Menschen mit Behinderung
Für die Beibehaltung des Selbstbestimmungsbegriffs spricht sich auch
Dorothea Brockmann aus - sie weist jedoch darauf hin, dass Selbstbestimmung
als Subjektbegriff notwendigerweise auf Individualismus basiert und die
kollektiven Konsequenzen dieser Durchsetzung ausgeblendet werden.17 Es
bleibt festzustellen, dass Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung immer
auch ein Moment der Gewalt und Unterdrückung anderer enthält, in der Reproduktionsmedizin
sind das die Lebensinteressen behinderter Menschen.18
Der Protest der Behindertenbewegung gegen Pränataldiagnostik und selektive
Abtreibung ist berechtigt, da Frauen sich mit der Nutzung dieser Techniken
und der Akzeptanz von selektiver Abtreibung zu Lasten von Behinderten
an der Alltagseugenik beteiligen. "Würde es mich nicht geben, wenn meine
Mutter damals Pränataldiagnostik hätte machen lassen?", fragen sich Behinderte
zu Recht. Ein erster Schritt wäre getan, würden Frauen sich bewusst machen,
dass sie im oben genannten Fall eine Entscheidung darüber treffen, welches
Leben lebenswert ist und welches nicht. Es geht also auch darum, Verantwortung
für das eigene Handeln zu übernehmen. Ein Selbstbestimmungsbegriff jedoch,
der ein Recht auf ein nichtbehindertes Kind impliziert, ist gefährlich,
weil er nur im Rahmen einer Politik verwirklicht werden kann, die sich
potentiell gegen die Lebensinteressen behinderter Menschen richtet.
Abtreibung eines geschädigten Fetus nach pränataler Diagnostik
- die Frau als Handlangerin der EugenikerInnen?
Es gibt zwar keine direkte embryopathische Indikation des § 218 StGB
mehr, d.h. eine Abtreibung direkt aufgrund einer Schädigung des Embryos,
weil der Gesetzgeber sie mit dem Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz
von 1995 abgeschafft hat. Dennoch ist die Abtreibung eines geschädigten
Fetus durch die Erweiterung der medizinischen zur sozial-medizinischen
Indikation in § 218a Abs. 2 StGB straffrei möglich.19
Abgestellt wird dabei auf die Unzumutbarkeit von Pflege und Erziehung
des behinderten Kindes für die Mutter.20 Auffällig ist die Art der Auslegung
des Kriteriums. Die Zumutbarkeit wird bei der medizinisch-sozialen Indikation
allgemein sehr eng gefasst, es sei denn, die Gefahr der Geburt eines behinderten
Kindes ist abzusehen. Auch eine Einschränkung durch zeitliche Befristung
ist in diesem Fall - anders als bei den übrigen Indikationen des § 218a
StGB - nicht gegeben. Der hier größere Spielraum einer Entscheidung der
Frau fällt ins Auge. In Anbetracht der vollständigen Entmündigung der
Frau im allgemeinen Rahmen des § 218 StGB erscheint die plötzliche Rücksichtnahme
auf das Leben der Frau fragwürdig und lässt sich nur mit der speziellen
Thematik erklären.
Das Kriterium der Unzumutbarkeit wird allerdings aufgeweicht, zum Beispiel
wenn es eine Verwendungsmöglichkeit für die Organe des geschädigten Fetus
gibt. In diesem Fall wird es der Frau durchaus zugemutet, die Schwangerschaft
bis zum Ende auszutragen. Perfide wird auch hier mit dem Wohle der Frau
argumentiert, die aus der Entnahme von Organen bei dem Neugeborenen einen
Sinn für die Schwangerschaft ableiten könnte. Das Wohl der Frauen wird
nach den jeweiligen medizinischen und bevölkerungspolitischen Gesichtspunkten,
nicht aber orientiert an den realen Interessen der Frauen ausgelegt.
Zur Not wird auch das zu erwartende Leiden des Kindes als Argumentationshilfe
für eine Abtreibung herangezogen, wie im Falle der "wrongful-life"-Rechtsprechung
im Zivilrecht. Danach schützt die Indikation nicht nur ökonomische Interessen
der Schwangeren, sondern auch ihr ethisches Interesse daran, den Vorwurf
oder auch nur Selbstvorwurf zu vermeiden, dem behinderten Kind nicht ein
unter Umständen qualvolles und der Eingliederung in die Gesellschaft schwer
zugängliches Leben erspart zu haben.21
Auch diese Diskussion zeigt deutlich, dass es nicht um weibliche Selbstbestimmung
geht, sondern um gesundheitspolitische Kontrolle - selbst wenn seit dem
Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) von 199322 immer wieder
betont wird, dass eine mögliche Qualifizierung behinderten Lebens als
nicht lebenswert auf jeden Fall zu vermeiden ist23. Eine andere Erklärung
als die oben genannte ist jedoch nicht ersichtlich. Die eugenischen Absichten
des Staates werden diskret der Frau zugeschoben. Wie bereits ausgeführt
wurde, ist die schwangere Frau vielfältiger Beeinflussung hinsichtlich
der Inanspruchnahme pränataler Diagnostiken ausgesetzt. Gerade auch die
Bewertung einer Schädigung des Fetus hängt von gesellschaftlichen Werten
ab, welche auf die Frau wirken bzw. von ihr verinnerlicht werden. Jedes
Herrschaftssystem schafft sich seine moralischen Systeme gemäß seinem
Interesse, Macht auszuüben und Herrschaft zu sichern. So sind §§ 218,
218a StGB bezogen auf die Abtreibungsfrage Ausdruck der herrschenden Moral.
Gerade auch im Rahmen umfassender Einsparungen im Sozial- und Gesundheitswesen
lassen sich diese Positionen "gut" verwerten: Behinderte sind einfach
zu teuer.
Mit der Institutionalisierung von humangenetischer Beratung und Pränataldiagnostik
wurden gesundheitliche Standards gesetzt, die sich am gesunden, nicht
behinderten Leben orientieren. Der soziale und psychische Druck, ein gemäß
medizinischen Standards heiles Kind zur Welt zu bringen und behinderte
Kinder zu vermeiden, hat gerade mit den technischen Prognosemöglichkeiten
massiv zugenommen24.
Schwangere Frauen, die von einer möglichen Schädigung des Embryos erfahren,
sind damit konfrontiert, dass Eltern behinderter Kinder zu wenig finanzielle
und andere Unterstützung erhalten. Es gibt zu wenige ambulante, gemeinde-
oder stadteilnahe Hilfsdienste für behinderte Kinder, es gibt auch kaum
Kinderkrippen, Kindergärten oder Regelschulen, die behinderte Kinder aufnehmen.
Meist sind es die Mütter, die ihren Beruf aufgeben oder ihre Ausbildung
abbrechen, um die Betreuung des behinderten Kindes sicherzustellen. Frauen
fürchten mit Recht, in dieser Gesellschaft weit gehend allein und mit
allerlei Mütterlichkeitsideologie im Nacken ein behindertes Kind aufzuziehen
und dessen Diskriminierung individuell auffangen zu müssen.
Es sind jedoch nicht nur äußere Gründe, die eine Frau zur Abtreibung eines
geschädigten Fetus treiben, sondern auch das eigene Menschenbild und der
eigene Wunsch nach einem nichtbehinderten Kind. Der besondere Charakter
der selektiven Abtreibung ist gekennzeichnet durch die Entscheidung gegen
eine zunächst gewollte Schwangerschaft, die durch ein potentielles Qualitätsmerkmal
des Fetus zur ungewollten Schwangerschaft wird. Damit tragen Frauen bei
einer medizinisch-sozialen Indikation aufgrund der zu erwartenden Schädigung
des Kindes zur Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der an Gesundheit
und Funktionsfähigkeit orientierten Norm bei.
Ein neu durchdachter Selbstbestimmungsbegriff
Wenn Frauen Selbstbestimmung durch selektive Abtreibung realisieren wollen,
dann beteiligen sie sich an eugenischen Maßnahmen und fördern damit deren
Akzeptanz, unabhängig davon, ob sie selbst Verfechterin der Eugenik sind,
oder nicht. Es geht hierbei nicht um eine Personalisierung des Fetus und
die Degradierung der Frau zum "fetalen Umfeld", sondern um die Frage,
ob Pränataldiagnostik Teil dessen ist, was unter feministischer Selbstbestimmung
verstanden wird. Ziel ist nicht eine Verurteilung von Frauen, die aufgrund
der Diagnose "voraussichtlich behindertes Kind" abtreiben, und schon gar
nicht eine Stigmatisierung von Abtreibung. Natürlich kann nicht von einer
Frau verlangt werden, die Behindertenfeindlichkeit dieser Gesellschaft
auszubaden und individuell dafür verantwortlich gemacht zu werden. Es
geht vielmehr um die Frage, ob in einer nicht behindertenfeindlichen Gesellschaft
sich eine Frau ohne Problem vorstellen könnte, auch ein behindertes Kind
auszutragen.
Der Begriff der Selbstbestimmung muss nicht aufgegeben, wohl aber neu
durchdacht und dem Gleichheitsgedanken mehr Raum gegeben werden. Die Inanspruchnahme
der modernen Fortpflanzungstechnologien kann jedenfalls nicht Ausdruck
weiblicher Selbstbestimmung sein, da in diesem Fall selbstbestimmt nur
zwischen verschiedenen Übeln zu wählen ist. Bei der Forderung nach Selbstbestimmung
sollte es aber darum gehen, dass Frauen die Möglichkeit haben, herrschaftsunabhängig
die sie betreffenden Entscheidungen zu fällen.
Reingard Zimmer.
Anmerkungen:
1 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Fruchtwasseruntersuchung bzw. Chorionzottenbiopsie.
2 BGH, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1989, 1536 ff.
3 OLG Düsseldorf, NJW 1989, 1548 (1550).
4 BGH, NJW 1987, 2924; ähnlich zuvor in NJW 1984, 659.
5 Vgl. Richtlinie zur pränatalen Diagnostik von Krankheiten u. Krankheitsdispositionen,
in: Deutsches Ärzteblatt 1998, 95 (A-3236-3242).
6 Wunder, Von der Schwangerenvorsorge zur Menschenzüchtung. Pränataldiagnostik
und Redproduktionsmedizin am Scheideweg, in: GID-Spezial Nr. 2, Eugenik
gestern und heute, 12/2002.
7 Oberlies, Zur Entstehung des Embryos als Rechtssubjekt, in: Streit 1997,
51 (53).
8 Winkler, Wunschkinder über Züchtung? Reproduktionstechnologien, in:
Stein, (Hrsg.), Lebensqualität statt Qualitätskontrolle menschlichen Lebens,
1992, 163.
9 Kölbel, Humangenetik und pränatale Diagnostik: Instrumente der "Neuen
Eugenik", in: Degener/Kölbel, Hauptsache es ist gesund. Weibliche Selbstbestimmung
unter humangenetischer Kontrolle, 1992, 55.
10 Dubler-Baretta/Fischer, Von der Rechtsstellung des Embryo und der Selbstbestimmung
der Frau, Streit 1988, 32.
11 Rebentisch, Zurück in die Zukunft, in: Gender-Killer - Texte zu Feminismus
und Politik, 1994, 25 (34).
12 Mies, Argumente wider den Bio-Krieg, in: Die Grünen (Hrsg.), Frauen
gegen Gen- und Reproduktionstechnik, 1986, 114 (118).
13 Andrews, My Body, My Property, in: Hastings Center Report, Oktober
1986, 28 ff.
14 Kontos, Wider die Dämonisierung medizinischer Technik, in: Die Grünen
(Hrsg.), Frauen gegen Gen- und Reproduktionstechnik, 1986, 137 ff.
15 Zimmermann, Weibliches Selbstbestimmungsrecht und auf "Qualität" abzielende
Bevölkerungspolitik. Ein unverarbeiteter Zusammenhang in den Konzepten
der frühen Sexualreform, in: beiträge zur feministischen theorie und praxis,
Bd. 21/22, 53ff.
16 Ähnlich auch Honnens, Wunschkinder über Abtreibung? Eugenische Indikation
im § 218, in: Stein, a.a.O. S. 175.
17 Brockmann, "Gehört mein Bauch mir?" Die Herausforderung des Selbstbestimmungsbegriffs
durch die neuen Reproduktionstechnologien, in: beiträge zur feministischen
theorie und praxis, Bd. 24, 1989, 105 (113 und 115).
18 Degener, Weibliche Selbstbestimmung zwischen feministischem Anspruch
und "Alltagseugenik", in: Degener/Kölbel, Hauptsache es ist gesund. Weibliche
Selbstbestimmung unter humangenetischer Kontrolle, 1992, 67 (76).
19 Lackner, Kommentar zum Strafgesetzbuch, vor § 218, Rn 22 u. § 218a,
Rn 14; Rudolphi, in: Systematischer Kommentar zum StGB (SK-StGB), § 218a,
Rn 8.
20 Lackner, § 218a, Rn 14; Rudolphi, in: SK-StGB, § 218a, Rn 31.
21 BGH, Juristenzeitung 1983, 448.
22 BVerfGE 88, 203.
23 Tröndle, StGB-Kommentar, §218a, Rn 9a.
24 Wunder, a.a.O, S. 3.
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