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Bundesweit sitzen in insgesamt 204 Strafanstalten 81.166 Gefangene ein,
davon sind 4.152 Frauen und 7.021 Jugendliche. 4.051 Menschen sitzen eine
sog. Ersatzfreiheitsstrafe ab,1 sind also im Gefängnis, weil sie eine
verhängte Geldstrafe nicht zahlen konnten oder wollten.
Konzept des "Wegsperrens"
Diese hohen Zahlen beruhen auf dem von nahezu allen Bundesländern favorisierten
konservativen Konzept des "Wegsperrens". Dieses betrifft jedoch nicht
nur die Quantität der Gefangenen, sondern auch die Qualität des Vollzugs:
Von den 81.166 Gefangenen befinden sich nur 10.878 im offenen Vollzug
und das, obwohl ein nicht geringer Anteil der Strafgefangenen lediglich
eine Freiheitsstrafe von bis einschließlich einem Jahr verbüßt.2
Diese Praxis ist in mehrfacher Hinsicht bedenklich. Sie widerspricht neben
dem vom Gesetzgeber in § 2 Satz 1 Strafvollzugsgesetz (StVollzG) normierten
Gedanken der Resozialisierung auch den zahlreichen kriminologischen Forschungsergebnissen,
die belegen, dass ein Gefängnisaufenthalt in der Mehrzahl der Fälle gerade
nicht dazu führt, dass die Betroffenen keine weiteren Straftaten begehen.
Vielmehr wird durch die mit einem Gefängnisaufenthalt einhergehende Stigmatisierung
der Betroffenen sowie den Verlust von Wohnung, Arbeitsplatz und sozialen
Beziehungen eine "kriminelle" Entwicklung gefördert.3 Zu diesem Ergebnis
kommt auch eine vom Bundesjustizministerium in Auftrag gegebene Statistik,
deren Ergebnisse seit Februar 2004 vorliegen. Demnach ist die geringste
Rückfallquote (30 %) bei denjenigen zu verzeichnen, die lediglich zu einer
Geldstrafe verurteilt wurden - während die Rückfallrate derjenigen, die
zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurden, mit 56 % die höchste darstellt
(bei zu einer Bewährungsstrafe Verurteilten betrug die Rückfallquote 45
%). 4
Verschärfend kommt die Überbelegung der Haftanstalten hinzu. Auf die o.g.
81.166 Gefangenen kommen gerade mal 79.204 Haftplätze. Berücksichtigt
man hierbei, dass die Haftanstalten grundsätzlich wegen der Dispositionsreserve
ab einer Auslastung von 90 % als überbelegt gelten, heißt das in der Konsequenz,
dass jede/r achte Gefangene in einer überbelegten Zelle lebt. Die gegenwärtige
Praxis der Doppel- und Mehrfachbelegung von zu kleinen Zellen, in denen
sich das Klo in der Regel innerhalb des Haftraums befindet, stellt jedenfalls
einen Verstoß gegen die Menschenwürde dar und ist gemäß der ständigen
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts5 rechtswidrig.
Armut als Ursache von Kriminalität
Gänzlich ausgeblendet wird, dass die (Über-)Belegung der Gefängnisse
auch unmittelbarer Ausdruck gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse ist.
Ein Großteil derer, die in bundesdeutschen Gefängnissen ihre Strafe absitzen,
sind nicht etwa Menschen, die wegen besonders schwerer Delikte wie Mord
(4.613 Gefangene), Kindesmissbrauch (4.481 Gefangene) etc. verurteilt
wurden, sondern überwiegend diejenigen, die durch die vorherrschende kapitalistische
Verwertungslogik vom gesamtgesellschaftlichen Reichtum ausgeschlossen
sind. Darauf lässt jedenfalls die Tatsache schließen, dass die Anzahl
derer, die aufgrund von Eigentumsdelikten (Diebstahl und Raub) einsitzen,
mit insgesamt 22.223 Gefangenen die mit Abstand größte Gruppe in bundesdeutschen
Haftanstalten darstellt.6 Auch die soziale Struktur in den Gefängnissen
deutet auf einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Armut und Kriminalität
hin: 73 % der Gefangenen waren vor ihrem Gefängnisaufenthalt arbeitslos,
62 % lebten von Arbeitslosengeld/-hilfe oder Sozialhilfe, rund 46 % hatten
keinen Schulabschluss.7 Neben der Kritik des Verwahrvollzugs ist also
zu bedenken, dass in erheblichem Maße Personen einsitzen, hinsichtlich
derer schon die Notwendigkeit und Angemessenheit eines resozialisierenden
Vollzugs fraglich ist, da bestimmender Faktor für das kriminelle Verhalten
kein behandelbarer persönlicher "Defekt" sondern die soziale Situation
ist.
Dass die gegenwärtige Entwicklung in der BRD nicht darauf hoffen
lässt, dass die Anzahl derer, die zur Erreichung eines besseren Lebensstandards
zu illegalen Mitteln greifen, zukünftig abnehmen wird, zeigt u.a.
der von der Bundesregierung Anfang März 2005 vorgelegte Armutsbericht.
Demnach ist der Anteil der unter der Armutsgrenze lebenden Menschen von
1998 bis 2003 von 12,1 auf 13,5 % gestiegen. Von den Familien sind sogar
13,9 % verarmt. Damit gelten mehr als elf Millionen BundesbürgerInnen
als arm. Gleichzeitig nahm der Besitzanteil der Reichsten im Lande am
Gesamtvermögen zu. Während die unteren 50 % der Haushalte weniger
als 4 % des gesamten Nettovermögens besitzen, haben die reichsten
10 % der Haushalte knapp 47 %.8
Insofern ist eine effektive Bekämpfung von Kriminalität aus politischer
Perspektive nur dann möglich, wenn deren Ursachen, nämlich unter anderem
die ungerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums und die umfangreiche
Kriminalisierung und Verfolgung von einfachster Eigentumskriminalität,
wenn schon nicht beseitigt, so zumindest auf ein Minimum zurückgedrängt
werden. Aus juristischer Sicht ist es erforderlich, die vorhandenen Sanktionsmöglichkeiten
außerhalb des Freiheitsentzuges konsequent zu nutzen und - wenn die Schwere
der Straftat dem entgegensteht - den Vollzug jedenfalls auf die Resozialisierung
der/des Gefangenen auszurichten, wie es im Übrigen auch das Gesetz vorsieht.
Von Lösungsansätzen dieser Art wollen die HardlinerInnen der "law and
order"-Politik selbstredend nichts wissen. Vielmehr ist insgesamt eine
grundlegende Abkehr vom Behandlungs- bzw. Resozialisierungsvollzug zu
sehen.9
Luxusurlaub und Modernisierung
So auch in der Freien und Hansestadt Hamburg: Seit dem Amtsantritt von
Justizsenator Roger Kusch (CDU) am 31.10.2001 gehört die Praxis des vergleichsweise
liberalen Strafvollzugs der Vergangenheit an. Kusch hatte von Anfang an
keine Zweifel über seine Vorstellungen von Strafvollzug gelassen. Mit
propagandistischen Aussprüchen wie "Haft darf kein Luxusurlaub sein. Haft
muss wieder als Haft spürbar sein!"10 und "Für mich ist der geschlossene
Vollzug die Regel, nicht der offene"11 machte der amtierende Justizsenator
klar, dass unter seiner Leitung fortan nicht mehr die verfassungsrechtlichen12
und gesetzlichen Vorgaben (§ 2 StVollzG) der Resozialisierung als erstes
Vollzugsziel gelten sollen, sondern statt dessen der Verwahrvollzug im
Vordergrund steht.13
Anstatt also den Strafvollzug auf das Ziel der Resozialisierung auszurichten,
worauf der/die Gefangene einen aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art.
1 Abs. 1 Grundgesetz folgenden grundrechtlichen Anspruch hat,14 setzt
der konservative Justizsenator auf US-amerikanische Verhältnisse. Im Interesse
der Modernisierung des Hamburger Strafvollzugs machte sich Kusch im August
2002 gar auf den weiten Weg nach Phoenix (US-Bundesstaat Arizona), um
sich dort von Sheriff Joe Arpaio ein paar Anregungen zu holen.15 Sheriff
Joe Arpaio gilt als der "härteste Sheriff der USA", weil er seine Gefangenen
in rosa Unterwäsche hält, diese aus Schweinetrögen essen lässt und sie
zudem in unmittelbarer Nähe zu Müllhalden unterbringt, damit diese "gleich
wissen wo sie hingehören".16
Dass Verhältnisse wie in Arizona - jedenfalls die Rechte der Gefangenen
betreffend - durchaus Vorbildcharakter für den Hamburger Strafvollzug
haben können, machte Kusch dann auch im Zuge seines Modernisierungsprojektes
unmissverständlich deutlich. Gleich zu Beginn seiner Amtszeit wurden konsequent
alle Spritzenautomaten in Hamburger Haftanstalten abgebaut und die Ausgabe
von sterilen Spritzen durch MitarbeiterInnen der jeweiligen Vollzugsanstalt
eingestellt. Drogenabhängige Gefangene erhalten seitdem nur noch für die
Dauer eines Entzuges Methadon - wer rückfällig wird, wird mit Fernseh-
oder Radioentzug, Besuchsbeschränkungen und sogar Arrest bestraft.17 Folge
dieser repressiven Drogenpolitik im Strafvollzug ist, "dass nun wieder
vermehrt eine Suchtbefriedigung im Haus zu beobachten ist", wie der Sprecher
der Insassenvertretung, Sven Born, in einem offenen Brief schreibt.18
Mit diesem offenen Brief hatten sich die Gefangenen der Justizvollzugsanstalt
(JVA) Fuhlsbüttel, Haus II (Santa Fu) im August 2003 an die Öffentlichkeit
gewandt, um auf die Verschlechterung ihrer Haftbedingungen aufmerksam
zu machen. Kritisiert wurde neben der restriktiven Drogenpolitik die Streichung
von Besuchstagen, die Kürzung der Hausarbeiterlöhne um 20 %, verlängerte
Einschlusszeiten, die unverhältnismäßige Einschränkung der Telefonierzeiten,
die von Kusch verfassungs- und rechtswidrig wieder eingeführte Doppelbelegung
von Zellen und der Wegfall der Haftplätze im offenen Vollzug durch die
Inbetriebnahme der JVA Billwerder. Der Justizsenator selbst hielt es,
so eine weitere Kritik der Gefangenen, trotz mehrfacher Einladung nicht
für nötig, sich mit den Gefangenen auseinander zu setzen.
8-qm-Zellen, Doppelbelegung und die Menschenwürde
Ähnliche Erfahrungen mit Kuschs Ignoranz hatten knapp ein Jahr zuvor
bereits die Vorsitzenden der Hamburger Strafvollstreckungskammern gemacht.
Mit Bezug auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts19, die in
der Doppelbelegung der 8 qm kleinen Zellen mit offenen Toiletten und ohne
Entlüftung in Santa Fu einen Verstoß gegen die Menschenwürde gesehen hat,
verlangten die Vorsitzenden der Hamburger Strafvollstreckungskammern in
einem gemeinsamen Schreiben an den Justizsenator die Einstellung der von
diesem im Februar 2002 angeordneten rechtswidrigen Praxis der Doppelbelegung.
Die Kammern selbst hatten dem bereits im Wege des Eilrechtsschutzes ein
Ende bereitet. Trotzdem wurde die unzulässige Doppelbelegung nun auf "freiwilliger"
Basis fortgesetzt und gipfelte schließlich darin, dass der Justizsenator
die Haftanstalten Anfang März 2002 in einem Schreiben anwies, keine Doppelbelegung
vorzunehmen, wenn erkennbar sei, dass diese im konkreten Fall durch die
Strafvollstreckungskammer wieder aufgehoben würde. Kusch sah sich aber
weder genötigt, zu der von ihm getätigten Anweisung Stellung zu beziehen,
noch eine Zusicherung hinsichtlich einer generellen Einstellung der rechtswidrigen
Doppelbelegungspraxis abzugeben.20
Ausnahmezustand als Normalität
Im Dezember 2003 schließlich machten die Gefangenen aus Haus II in Santa
Fu ihrem Unmut Luft. Anlass hierfür war, neben den schon genannten Verschlechterungen,
die geplante weitere Verkürzung der Aufschlusszeiten (Möglichkeit mit
anderen Gefangenen gemeinsam die Freizeit zu verbringen)21 um eine Stunde.22
Anstatt am Ende der Freizeit in ihre Zellen zurückzukehren, versammelten
sich zahlreiche Gefangene auf allen Etagen in der Mitte des Hafthauses
und forderten eine Rücknahme der Einschränkungen. Zwar bestreitet der
Senat, im Anschluss an die Protestaktionen Strafmaßnahmen verhängt zu
haben - die von ihm eingeleiteten "Sicherheitsmaßnahmen" waren jedoch
im Ergebnis nichts anderes: Haus II wurde ab dem 18. Dezember 2003 komplett
unter Verschluss genommen und den Gefangenen vier Tage später von der
Anstaltsleitung erklärt, dass dieser Zustand bis auf weiteres andauern
würde. Vermeintliche "Rädelsführer" wurden ausgemacht und in andere Anstalten
verlegt. Insgesamt vier Tage gab es für die Gefangenen keine Möglichkeit
zu telefonieren, BesucherInnen wurden abgewiesen und den Gefangenen das
über den Einkauf für die Weihnachtstage bestellte (und bezahlte) Fleisch
nicht ausgehändigt. Ferner wurde angekündigt, dass "geeigneten" Gefangenen
die "Chance" eingeräumt würde, ihren Vollzug freizügiger zu gestalten,23
oder um es mit anderen Worten zu sagen: Wer seinen Protest gegen die sich
stetig verschlechternden Haftbedingungen aufgibt, kann auch mit Vergünstigungen
rechnen.
Wie wirkungsvoll diese Versuche der Spaltung der Gefangenenproteste im
Einzelnen waren, soll hier nicht beurteilt werden. Klar ist aber, dass
der Senat die Proteste der Gefangenen zum Anlass genommen hat, längst
geplante Verschärfungen im Strafvollzug schneller zu verwirklichen.24
Sprich: Der Ausnahmezustand ist seit Dezember 2003 Normalzustand in Haus
II der JVA Fuhlsbüttel. Nach Angaben von Gefangenen wurde dort zudem ein
sog. Stufenvollzug eingeführt, was bedeutet, dass sich nur die Gefangenen,
die sich durch Wohlverhalten eine höhere Stufe "verdient" haben, in den
Genuss bestimmter "Privilegien" kommen. Das betrifft sowohl die Dauer
der Besuchszeiten (neue Gefangene, die zwangsläufig auf Stufe eins sind,
haben z.B. nur alle 14 Tage Anspruch auf 60 Minuten Besuch) als auch die
Sport- und Freizeitmöglichkeiten. Weiterhin gilt: 22 1/4 Stunden Einschluss
am Tag für alle Gefangenen (die nicht arbeiten); eine Stunde Hofgang am
Tag; Aufschluss gerade mal eine Dreiviertelstunde täglich nach dem Abendessen,
während der sich die Gefangenen ausschließlich auf ihrer Station bewegen
können, sowie der Wegfall von Besuchen am Montag und Freitag.
Geschlossener Vollzug als Regelvollzug
Nicht anders dürfte sich die Lebensrealität der derzeit 419 Gefangenen
in der JVA Billwerder gestalten. Die vom Vorgängersenat mit 382 Plätzen
im offenen Vollzug konzipierte Anstalt25 wurde unter Leitung von Kusch
kurzerhand umfunktioniert und soll nach der Fertigstellung des zweiten
Bauabschnitts im Herbst 2005 insgesamt 803 Plätze des geschlossenen Vollzugs
umfassen.26 Damit würden dann für die derzeit 3.027 Strafgefangenen27
in Hamburg 2.915 Haftplätze im geschlossenen Vollzug "bereitstehen"28.
Im Ergebnis bleiben dann nur noch 188 Haftplätze im offenen Vollzug -
Ende 2001 waren es noch 631.29 Dabei wäre für viele Gefangene der offene
Strafvollzug ausreichend und auch geeigneter. Das ergibt sich schon daraus,
dass etwa die Hälfte der männlichen Gefangenen eine Freiheitsstrafe von
unter einem Jahr absitzt und um die 70 % nicht wegen eines Verbrechens
gegen Leib und Leben verurteilt wurden. Zudem liegen Erkenntnisse vor,
dass ca. 30 % der Gefangenen auch die Voraussetzungen (keine Missbrauchs-
und Fluchtgefahr, § 10 Abs. 1 StVollzG) für die Verlegung in den offenen
Vollzug erfüllen.30
Für den Justizsenator bieten diese Tatsachen jedoch keinen Anlass, die
Gestaltung des Vollzugs nach den gesetzlichen Vorgaben auszurichten, wonach
gemäß § 3 StVollzG das Leben im Vollzug den allgemeinen Lebensverhältnissen
so weit als möglich angeglichen sein soll (§ 3 Abs. 1) und schädlichen
Auswirkungen des Freiheitsentzuges entgegenzuwirken ist (§ 3 Abs. 2).
Der Vollzug ist deshalb darauf auszurichten, dem Gefangenen zu helfen,
sich in das Leben in Freiheit einzugliedern (§ 3 Abs. 3). Kusch hat vielmehr
an die Stelle des gesetzlichen Auftrags die kostenintensive(re) "lebensfeindliche
und lebensfremde Welt des halbmilitärischen Verwahrvollzugs"31 gesetzt,
was neben der strikten Reduzierung von Haftplätzen im offenen Vollzug
auch an dem massiven Abbau sonstiger Vollzugslockerungen (Ausgang, Urlaub,
Freigang) sowie an der im Februar 2005 erfolgten Schließung der Übergangsanstalt
Moritz-Liepmann-Haus deutlich zu sehen ist.32
Schließung sozialtherapeutischer Anstalten
Aufgegeben werden sollen auch die sozialtherapeutischen Anstalten Bergedorf
und Altengamme. Trotz erheblicher Kosten für den erforderlichen Umbau
und massiver Kritik33 an diesen Plänen soll der sozialtherapeutische Vollzug
künftig in das Haus IV der JVA Fuhlsbüttel verlegt werden.34 Mit der Schließung
der drei Anstalten will der Senat nach eigenen Angaben jährlich 0,7 Mio.
Euro einsparen.35 Vor dem Hintergrund, dass sich allein die Kosten zur
Gebäudeunterhaltung des Neubaus Billwerder (1,4 Mio. im Jahr)36 im Verhältnis
zu den Einsparungen auf das Doppelte belaufen werden und dann zudem mit
einer Unterbelegung von ca. 600 Haftplätzen im geschlossenen Vollzug zu
rechnen ist, erscheint das Argument der Einsparungen geradezu lächerlich.
Jedenfalls ist in den "Einsparungen" kein besonderer Grund i.S.v. § 123
Abs. 2 StVollzG zu sehen, so dass auch keine rechtsgültige Ermächtigung
vorliegt, die sozialtherapeutischen Anstalten in eine Anstalt des geschlossenen
Vollzugs einzugliedern.
Während in der Übergangsanstalt Moritz-Liepmann-Haus 45 behandlungs- und
eingliederungsintensive Plätze zur Verfügung standen, werden bisher in
der sozialtherapeutischen Anstalt Bergedorf (42 Plätze) schwerpunktmäßig
Sexualstraftäter und in der Anstalt Altengamme (60 Plätze) überwiegend
wegen Verbrechen gegen Leib und Leben verurteilte Menschen behandelt.37
Zahlreiche internationale und nationale Untersuchungen in Bezug auf die
Effektivität der Sozialtherapie haben ergeben, dass die Rückfälligkeit
nach Sozialtherapie deutlich seltener ist, als nach sozialtherapeutischen
Maßnahmen im Regelvollzug.38 Die Ergebnisse der sozialtherapeutischen
Anstalt Altengamme bestätigen dies insbesondere in Bezug auf die Rückkehrquote:
Nach zwei Jahren waren 91 % und nach fünf Jahren 86 % nicht in den Strafvollzug
zurückgekehrt. Die Rückkehrquote bei den aus dem Strafvollzug Entlassenen
liegt dagegen bundesweit mit nur 71 % in Freiheit Gebliebenen nach vier
Jahren ungleich höher.39
Der Erfolg der Sozialtherapie hängt jedoch unmittelbar davon ab, in welchem
Rahmen sie stattfinden kann. Die organisatorischen Strukturen und Vorstellungen
von Sicherheit und Ordnung einer Großanstalt des geschlossenen Vollzugs
jedenfalls machen eine Straftäterbehandlung nach den Grundlinien der Sozialtherapie
nahezu unmöglich.40 Schlussendlich unterläuft Kusch mit seinen "Einsparungen"
nicht nur die gesetzlichen Vorgaben (§ 123 StVollzG), sondern nimmt auch
wider besseren Wissens eine erhöhte Rückfallquote im Bereich der Schwerstkriminalität
billigend in Kauf.
Wie weiter?
Die Tatsache, dass der Justizsenator offensichtlich ungeachtet der zahlreichen
Proteste vollkommen unbeirrt seine rechts- und verfassungswidrigen Pläne
in puncto Strafvollzug in Hamburg weiter verfolgt, veranlasst, die Frage
nach dem "wie weiter" zu stellen. Wenn nicht Hamburger RichterInnen und
JugendrichterInnen, nicht die ExpertInnen der kriminologischen Institute,
nicht die (öffentliche) Amtsniederlegung des Anstaltsbeirats der JVA Fuhlsbüttel
Gerhard Rehn, nicht die namhaften UnterzeichnerInnen des Hamburger Appells,
nicht die Opposition und nicht die Gefangenen selbst der reaktionären
Politik von Justizsenator Kusch Einhalt gebieten können, wer oder was
dann?
Halten wir uns vor Augen, dass Kusch die einschneidenden Maßnahmen im
Bereich des Strafvollzugs nur deshalb umsetzen konnte, weil er in seinen
Vorhaben von der Regierung die notwendige Unterstützung erhielt und betrachten
wir die politische Linie der Hamburger Regierung, so wird eines klar:
Die Umstrukturierung des Hamburger Strafvollzugs ist Teil einer Politik,
in deren Mittelpunkt jedenfalls nicht die Bedürfnisse und Interessen der
Menschen stehen. Oder wie sonst sollten die massiven Kürzungen von Geldern
in nahezu allen sozialen Bereichen, wie die Umstrukturierungsmaßnahmen
an der Universität, die Kita-Gutscheine, die zehntausenden Ein-Euro-Jobs,
die nächtlichen Abschiebungen, die rassistischen Polizeikontrollen, die
Vertreibungen der "Drogenszene", das extrem verschärfte neue Hamburger
Polizeigesetz - wie sonst sollte das alles zu verstehen sein, wenn nicht
als Ausdruck eines konservativen, sich an kapitalistischen Wertvorstellungen
orientierenden, politischen Selbstverständnisses des Hamburger Senats.
Insofern kann der gegenwärtigen Politik, sowohl hinsichtlich des Strafvollzugs
als auch alle anderen Bereiche des politischen und sozialen Lebens betreffend,
nur dann Einhalt geboten werden, wenn sich die derzeit an vielen Punkten
bestehende Kritik als Ausdruck einer allgemeinen, grundsätzlichen und
von vielen Menschen getragenen Kritik an den bestehenden Verhältnissen
artikuliert.
In diesem Sinne: Regierung stürzen!
Petra Dervishaj studiert Jura in Hamburg
Anmerkungen:
1 Vgl. Statistisches Bundesamt, Bestand der Gefangenen und Verwahrten
in den deutschen Justizvollzugsanstalten (...), Stichtagserhebung vom
31.03.2004, www.destatis.de - Publikationen - Rechtspflege.
2 Vgl. Statistisches Bundesamt, a.a.O.
3 Vgl. u.a. Dünkel, Frieder/Maelicke, Bernd, Irren ist (un-) menschlich,
Neue Kriminalpolitik 2004, 131 (132).
4 Vgl. Pressemiteilung des Bundesjustizministeriums vom 04.02.2004, www.bmj.de.
5 Vgl. BverfG, Europäische Grundrechte-Zeitschrift (EuGRZ) 2002,
196 (198).
6 Vgl. Statistisches Bundesamt, Fachreihe 10, Reihe 4.1., 2004.
7 Vgl. Dünkel, Frieder, Empirische Beiträge zum Strafvollzug, 1992; Kaiser,
Günther/Schöch, Heinz, Strafvollzug, 5. Auflage 2003, 316.
8 Vgl. Spiegel Online am 02.03.2005.
9 Vgl. Dünkel/Maelicke, a.a.O., 131.
10 Kusch, Hamburger Abendblatt (HA) v. 18.01.2001.
11 Kusch, HA v. 29.01.2001.
12 Vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) Band 35,
202 (235); 45, 187 (238), 98, 169 (200).
13 Vgl. Roth, Reinhold, Von den "Totengräbern im Hamburger Strafvollzug",
Betrifft JUSTIZ 2002, 366 (366).
14 Vgl. BVerfGE 98, 169 (200).
15 Vgl. Junge Welt (jw) v. 30.06.2004.
16 Vgl. jw v. 30.06.2004; Die Zeit 3/2003.
17 Vgl. Pressemeldung der Justizbehörde, 07.02.2002, www.hamburg.de; Roth,
a.a.O., 366.
18 Vgl. 2 Jahre Mitte-Rechts-Regierung in Hamburg - Strafvollzug in Santa
Fu, Veränderungen aus der Sicht der betroffenen Gefangenen, Offener Brief,
14.08.2003.
19 BVerfG, Urteil vom 12.07.2000 - 2 BvQ 25/00.
20 Vgl. Roth, a.a.O.
21 Vgl. Feest, Johannes/Pécic, Denis, Alternativkommentar Strafvollzugsgesetz,
4. Auflage 2000, § 17, Rn. 2.
22 Vgl. Pressemitteilung der GAL, 14.01.2004, www.gal-fraktion.de.
23 Vgl. Bürgerschafts-Drucksache 17/3978, Drucksachen und Protokolle der
Hamb. Bürgerschaft: www.buergerschaft-hh.de/parldok.
24 Justizsenator Kusch auf der Bürgerschaftssitzung am 28.01.2004, Protokoll
3124 A.
25 Vgl. Presserklärung der Justizbehörde, 26.06.03.
26 Vgl. Hamburg - Metropole des Rechts, Schlaglichter 2004, 16, www.hamburg.de.
27 Vgl. Justizbehörde Hamburg, Strafvollzugsamt, Stichtagserhebung vom
30.03.2005.
28 Vgl. Hamburg - Metropole des Rechts, a.a.O., 16.
29 Vgl. Hamburger Appell, Hinz und Kunzt, April 2005, www.hinzundkunzt.de.
30 Vgl. Rehn, Gerhard, Pressemitteilung zur Amtsaufgabe, 16.06.2004.
31 Rehn, a.a.O.
32 Vgl. Hamburger Appell, a.a.O.; Rehn, a.a.O.
33 Vgl. u.a.: Hamburger Appell, a.a.O.; Rehn, a.a.O.; Erklärung von Hamburger
ProfessorInnen des Instituts für Kriminalwissenschaften und des Instituts
für kriminologische Sozialforschung, 28.06.2004, www.gpk-ev.de/profbrief.pdf;
Offener Brief von RichterInnen der Strafvollstreckungskammern des LG Hamburg,
18.06.2004, www.richterverein.de.
34 Vgl. Hamburger Appell, a.a.O.; taz hamburg v. 04.01.2005.
35 Vgl. Pressemitteilung der Justizbehörde, 26.08.2004.
36 Vgl. Offener Brief von RichterInnen (...), 18.06.2004.
37 Vgl. Rehn, a.a.O.
38 Vgl. Rehn, a.a.O.; Erklärung von Hamburger ProfessorInnen (...), 28.06.2004.
39 Vgl. Erklärung von Hamburger ProfessorInnen (...), 28.06.2004.
40 Vgl. Rehn, a.a.O.; Offener Brief von RichterInnen (...), 18.06.2004.
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