|
"Fördern und Fordern" - unter diesem Motto will die rot-grüne Bundesregierung
insbesondere junge Menschen ohne Arbeit wieder in den Arbeitsmarkt bringen.
Mit Hartz IV sollen deshalb in der Praxis insbesondere junge Arbeitslose
gezwungen werden, "zumutbare Arbeitsangebote" anzunehmen. Neuere Untersuchungen
lassen aber deutlich zutage treten, dass die Arbeitsmarktreform von Rot-Grün
ein Irrweg mit gravierenden Folgen für die Betroffenen ist.
Umstrukturierung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe
Hartz IV ist mit erheblichen Veränderungen für die in Deutschland lebenden
Menschen ohne Arbeit verbunden.1 Kernstück der Reform ist die Zusammenlegung
von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum neuen Arbeitslosengeld II (ALG
II). Die Arbeitslosen erhalten künftig neben einer für angemessen befundenen
Miete eine soziale Grundsicherung von 345 € im Westen und 331 € im Osten.
Entsprechend der neuen Devise sollen Arbeitslose zukünftig stärker gezwungen
werden, auch wenig attraktive Jobangebote anzunehmen. Bereits vor der
Gesetzesänderung mussten Arbeitslose und SozialhilfeempfängerInnen zumutbare
Arbeitsangebote annehmen. Durch Hartz IV wird der Bereich der zumutbaren
Arbeitsangebote massiv ausgeweitet: Zumutbar ist nach § 10 Sozialgesetzbuch
II (SGB II) grundsätzlich jede legale Arbeit.2
Immerhin erhalten die jugendlichen Erwerbslosen zwischen 15 und 25 Jahren
mit Hartz IV einen Rechtsanspruch auf Vermittlung in eine Arbeit, Ausbildung
und Weiterbildung.3 Die Erfolge beim Versuch, die bundesweit inzwischen
über 516.000 Arbeitslosen unter 25 Jahren in Lohn und Brot zu bringen,
hielten sich jedoch bisher in Grenzen.
Arbeitszwang
Der Grundidee von Hartz IV folgend soll durch finanziellen Druck die
Bereitschaft zur Annahme von Arbeit erzwungen werden. Weil viele der angebotenen
Arbeiten und sog. Fortbildungsmaßnahmen wenig attraktiv sind, sieht das
Gesetz ein abgestuftes System von Kürzungen des ALG II vor, um die Arbeitslosen
zur Mitarbeit zu "motivieren". Die Ablehnung des Jobangebotes hat zur
Folge, dass das Arbeitsamt die Grundsicherung um 30 % kürzen darf. Weigert
sich die oder der Betroffene weiterhin, wird die Grundsicherung abermals
um 30 % gekürzt. Hilft auch dies nicht, werden statt der Geldauszahlung
nur noch Sachleistungen zur Verfügung gestellt.
Kürzungen drohen auch, wenn die oder der Arbeitslose die sog. Eingliederungsvereinbarung
gemäß § 15 SGB II nicht unterschreibt. Hierin wird u.a. festgelegt, welche
Bemühungen die oder der Erwerbslose zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt
unternehmen muss. Wird die "Vereinbarung" nicht unterschrieben, kann ein
Verwaltungsakt desselben Inhalts erlassen werden. Besonders perfide ist
die Sprache, mit der kaschiert werden soll, dass es sich bei den Neuregelungen
um ein ausgeklügeltes System der Sozialdisziplinierung handelt, welches
gegebenenfalls auch mit spürbarem Zwang gegen Menschen vorgeht, die sich
gegen ihren sozialen Abstieg wehren.
Viele Jugendliche haben wenig Hoffnung, mittels der sog. Arbeits- und
Fortbildungsangebote eine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt zu erlangen.
Sie verweigern die Mitarbeit. Im April 2005 war bereits 30.000 erwerbslosen
Jugendlichen das Arbeitslosengeld gestrichen worden, weil diese nicht
bei den Arbeitsagenturen erschienen sind.4 Im Folgenden wird gezeigt,
auf welche weiteren Bereiche der sanktionsbewährte Zwang zur Arbeit Einfluss
erhält.
Regulärer Arbeitsmarkt
Die ArbeitnehmerInnen werden durch die neuen Zumutbarkeitsregelungen
verpflichtet, erhebliche berufliche Verschlechterungen, die mit massiven
finanziellen Einbußen verbunden sind, hinzunehmen. Zumutbar ist laut §
10 Abs. 1 SGB II grundsätzlich jede Arbeit, soweit diese nicht sittenwidrig
ist. Sittenwidrigkeit kann etwa durch Lohndumping eintreten. Das Lohnniveau
ist in Deutschland als Folge der hohen Arbeitslosenzahlen massiv gesunken.
Nicht wenige ArbeitgeberInnen scheinen die prekäre Situation auf dem Arbeitsmarkt
bewusst auszunutzen.
Die Gerichte haben dieser Entwicklung bisher nicht Einhalt geboten. So
ist Lohndumping nach Auffassung des Sozialgerichts Berlin erst dann sittenwidrig,
wenn die Bezahlung ein Drittel des ortsüblichen Tariflohns unterschreitet.5
Werden Arbeitslose in Zukunft verstärkt gezwungen, auch solche untertariflichen
Arbeitsbedingungen hinzunehmen, stellt der Staat die Tarifautonomie in
Frage. Das zunehmende Lohndumping auf dem Arbeitsmarkt erhält durch Hartz
IV unter tatkräftiger Unterstützung der Rechtsprechung eine weitere tragende
Säule.
"Ein-Euro-Jobs"
Neben den regulären Arbeitsangeboten sollen mit Hartz IV mehrere 100.000
sog. Ein-Euro-Jobs geschaffen werden. Die Betroffenen erhalten anstelle
eines regulären Arbeitslohns neben dem ALG II nach § 16 Abs. 3 SGB II
eine sog. Mehraufwandsentschädigung. Die Arbeitslosen dürfen dieses Geld
als zusätzliche Einnahmequelle für sich behalten. Durch sie wird aber
- wie sich aus § 16 Abs. 3 S. 2 2. Hs. SGB II ergibt - kein Arbeitsverhältnis
begründet, was zur Folge hat, dass die JobberInnen keinen Anspruch auf
Lohn im Krankheitsfalle, bezahlten Urlaub oder betriebliche Mitbestimmung
haben.
Ein-Euro-Jobs sind unter folgenden Bedingungen erlaubt: Wie auch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen
(ABM) müssen diese zusätzlich sein und sollen keine regulären Beschäftigungsverhältnisse
verdrängen. Sie müssen ferner gem. § 16 Abs. 3 S. 2 SGB II im öffentlichen
Interesse liegen. Damit ist gemeint, dass die Arbeiten vor allem dem öffentlichen
Wohl und nicht primär erwerbswirtschaftlichen Zwecken dienen sollen.6
Die Betroffenen werden in der Praxis zur Reinigung von Grünanlagen oder
zu Arbeiten im sozialen Bereich gezwungen, für welche die ALG II-EmpfängerInnen
regelmäßig gar nicht befähigt sind. Es ist deshalb zu befürchten, dass
hilfsbedürftige Menschen in sozialen Einrichtungen zunehmend von unqualifizierten
Pflegekräften mit geringer Arbeitsmotivation versorgt werden. Die Ein-Euro-Jobs
sorgen für erheblichen sozialen Unfrieden, da zu Recht befürchtet wird,
dass die ebenfalls unter Kostendruck leidenden sozialen Einrichtungen
und Kommunen in die Versuchung gelangen, fest angestellte ArbeitnehmerInnen
durch Ein-Euro-JobberInnen auszutauschen.7 So werden bereits in einigen
Schulen die Wände von Ein-Euro-JobberInnen statt von ausgebildeten Malern
gestrichen.
"Trainingsprogramme"
Arbeitslose haben ferner die Verpflichtung, an sog. Trainingsprogrammen
teilzunehmen. Viele der Langzeitarbeitslosen haben keine abgeschlossene
Ausbildung. In den letzten Jahren bilden immer weniger Betriebe aus. Das
aber ist eine fatale Entwicklung, denn Erwerbslose mit abgeschlossenen
Ausbildungen finden wesentlich schneller einen neuen Arbeitsplatz.
Aus diesem Grund haben die Arbeitsämter in der Vergangenheit mit z. T.
großem Erfolg mehrjährige Umschulungen bezahlt. Das der Bundesanstalt
für Arbeit unterstehende Institut für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung
fand heraus, dass die Chance von UmschulerInnen, einen Job zu finden und
diesen auch auf lange Sicht zu behalten, besonders groß ist.8
Daneben gab es aber auch vor der Hartz-Reform bereits zahlreiche ABM-Maßnahmen,
die treffend als "Verschiebebahnhöfe" bezeichnet wurden, da von ihnen
praktisch keine berufsqualifizierenden Wirkungen ausgehen. Viele Betroffene
haben wohl nicht zu Unrecht den Eindruck, dass solche ABM-Maßnahmen in
erster Linie der Schönung der Arbeitslosenstatistik dienen.
Mit Hartz IV wurde das Umschulungskonzept zum Auslaufmodell: Die Zahl
der beruflichen Weiterbildungen sank zwischen Dezember 2003 und Dezember
2004 von rund 235.000 TeilnehmerInnen auf 149.000.9 Einher geht diese
Entwicklung mit einem Abbau von Arbeitsplätzen in der Weiterbildungsbranche:
Schätzungen der Gewerkschaften zur Folge haben mindestens 25.000 MitarbeiterInnen
in diesem Bereich ihren Arbeitsplatz verloren. Dieser Trend setzt sich
fort, seitdem die ArbeitsvermittlerInnen der Bundesanstalt für Arbeit
immer weniger Bildungsgutscheine vergeben.10
Aussteuerungsbetrag
Hintergrund dieser Entwicklung sind die Finanzierungsfragen, die sich
aus der Trennung von ALG I und ALG II ergeben. Wenn ALG I-BezieherInnen
nach einem Jahr in die Gruppe der ALG II-BezieherInnen wechseln, muss
die Arbeitsagentur nach § 46 Abs. 2 SGB II einen sog. Aussteuerungsbetrag
in Höhe des zwölffachen monatlichen Zahlbetrages, das sind ca. 10.000
€ an den Bundeshaushalt erbringen. Für 2005 ist ein Gesamtbetrag von 6,
7 Milliarden € geschätzt. Dieser Betrag liegt deutlich über den vier Milliarden,
die der Bundeshaushalt an die Bundesagentur abführt. Der Aussteuerungsbetrag
hat Sanktionscharakter. Die Arbeitsvermittler sind gehalten, sich vorrangig
mit der Vermittlung der kurzzeitig erwerbslosen ALG I-Empfänger zu beschäftigen,
um die "Strafzahlung" zu vermeiden.11 Die MitarbeiterInnen der Agenturen
sollen deshalb Kosten für Weiterbildungen nur dann übernehmen, wenn noch
vor einem Wechsel in die ALG II-Gruppe eine Beschäftigung als wahrscheinlich
gilt.12 Hartz IV hält nicht, was es verspricht. Das Motto lässt sich daher
wohl treffender mit dem Stichwort: "Fordern statt Fördern" zusammenfassen.
Wandel des Sozialstaatsprinzips
Hartz IV geht mit einem grundlegenden Wandel des Sozialstaatsprinzips
einher. Während vor 1949 kein rechtlicher Anspruch auf Fürsorge bestand,
da nach altem preußischem Recht die Fürsorge dem Bedürftigen lediglich
aus Gründen der öffentlichen Ordnung, nicht aber um seiner selbst willen
zu gewähren war, änderte sich dieser Zustand mit Inkrafttreten des Grundgesetzes.
Aus der Gnade wurde ein Rechtsanspruch. Das Sozialstaatsprinzip in Art.
20 Abs. 1 Grundgesetz (GG) beinhaltet den Anspruch auf ein Existenzminimum,
und zwar nicht nur auf das physische, das den Menschen vor dem Verhungern
und Verdursten schützt, sondern auf das sogenannte soziokulturelle, das
eine Teilnahme am gesellschaftlich-kulturellen Leben ermöglicht.
Das Bundesverfassungsgericht hat 1990 in einem Aufsehen erregenden Urteil
entschieden, dass das Einkommen insoweit steuerfrei belassen sein muss,
als es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges
Dasein benötigt wird.13 Den bedürftigen Bürgerinnen und Bürgern soll durch
die Zuwendung ermöglicht werden, in der Umgebung von nicht bedürftigen
Bürgerinnen und Bürgern ähnlich wie diese zu leben. Sie soll also Ausgrenzung
verhindern. Nur dann wird es der Hilfeempfängerin oder dem Hilfeempfänger
ermöglicht, ein Leben zu führen, das der menschlichen Würde gemäß Art.
1 GG entspricht.14
Vor Hartz IV bestand die Sozialhilfe aus einem Regelsatz in Höhe von knapp
300 € , der Miete und einer Fülle von Einzelleistungen, die vom Hilfeempfänger
in bestimmten Situationen benötigt und nicht vom Regelsatz bezahlt werden
mussten. Der Regelsatz differierte je nach Kommune; die dortigen Lebenshaltungskosten
wurden berücksichtigt. Nunmehr wird lediglich zwischen West (345 €) und
Ost (331 €) unterschieden. Das jetzige ALG II erfasst Einzelleistungen
nur noch im Ausnahmefall. Bisher wurde beispielsweise eine Waschmaschine
als einmalige Sozialhilfeleistung nach § 21 I a Nr.6 Bundessozialhilfegesetz
(BSHG) gewährt.
Heute würde die Waschmaschine gemäß § 23 III Nr. 1 SGB II nur noch im
Rahmen der Erstausstattung einer Wohnung gestellt. Sollte das Gerät irgendwann
defekt sein, wird kein weiteres gewährt. Es müsste von der Pauschale bezahlt
werden, was realistischerweise bei diesen Beträgen kaum möglich erscheint.
Da der Politik dies auch bewusst ist, bietet sie statt der Gewährung der
Hilfe nunmehr "großzügig" ein Darlehen an (§ 23 I 1 SGB II).
Grundsätzlich ist die Umgestaltung der Sozialhilfe in Form des leicht
erhöhten Regelsatzes ohne zusätzliche Einzelleistungen verfassungsrechtlich
nicht zu beanstanden. Die konkrete Ausgestaltung der Sozialhilfe ist Sache
des Gesetzgebers.15 Er muss jedoch gewährleisten, dass durch die Sozialhilfe
nach wie vor das soziokulturelle Existenzminimum gedeckt ist.
Ausgestaltung des neuen Regelsatzes
Ob dies der Fall ist, ist jedoch höchst fraglich.16 Nach § 28 SGB XII
berücksichtigt die Regelsatzbemessung Stand und Entwicklung von Nettoeinkommen,
Verbraucherverhalten und Lebenshaltungskosten. Grundlage sind die tatsächlichen,
statistisch ermittelten Verbrauchsausgaben von Haushalten in unteren Einkommensgruppen.
Dieses komplizierte Rechenexempel ist nur für einen kleinen Kreis von
ExpertInnen überhaupt nachvollziehbar. So erklärt es sich, dass nur wenige
versucht haben, die Berechnungen nachzuvollziehen. Der Paritätische Wohlfahrtsverband
hat die Berechnungen analysiert und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass
die Festlegungen der Regelsätze nicht nachvollziehbar, in vielen Punkten
willkürlich und deutlich zu niedrig seien.17 So hält der Verband einen
Regelsatz von mindestens 412 € für unverzichtbar, um das soziokulturelle
Existenzminimum zu sichern.
Der Regelsatz setzt sich aus verschiedenen Produktgruppen zusammen, z.
B. Nahrungsmittel, Bekleidung, Gesundheitspflege, Verkehr etc. Die getroffenen
Festsetzungen sind im einzelnen sehr aufschlussreich. So sind im Rahmen
des Regelsatzes für Westdeutschland in Höhe von 345 € für Freizeitveranstaltungen
wie Theater, Kino und Sportveranstaltungen lediglich 4,63 € pro Monat
für ALG II-EmpfängerInnen veranschlagt, für Bücher weitere 5,98 €. Die
Pauschalen für Ostdeutsche fallen entsprechend niedriger aus. Wie mit
diesen Beträgen eine Teilnahme am gesellschaftlich-kulturellen Leben,
wie dies auch § 20 I SGB II n. F. vorsieht, möglich sein soll, erscheint
rätselhaft.
Die von der Regierung beauftragten ExpertInnen, die Hartz IV verteidigen,
rechtfertigen das geringe Leistungsniveau vor allem damit, dass die öffentlichen
Kassen leer seien und daher nicht mehr Geld vorhanden sei.18 Angesichts
der am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Steuerreform, die vor allem
Großverdienern massive Entlastung bringt, überzeugt diese Argumentation
nicht.
Neues Modell des "aktivierenden" Sozialstaates
Der Politik geht es in Wirklichkeit um die Etablierung eines neuen Sozialstaatsmodells.
Während der bisherige Sozialstaat eine Absicherung der Hilfebedürftigen
in allen Lebenslagen gewährleistete, soll das nach dem neuen Modell nicht
mehr der Fall sein. Es liegt ein Bruch vor, was die Vorstellung von sozialen
Bürgerrechten als unbedingten Ansprüchen angeht. Viviane Forrester stellt
in ihrem Buch "Terror der Ökonomie" die Frage, ob man sich denn sein Recht
zu leben erst verdienen müsse. Für das neue Sozialstaatsmodell ist dies
nur eine rhetorische Frage. Die Antwort lautet selbstverständlich "ja".
Das weitgehende Entfallen der Einzelleistungen sowie der sehr niedrig
bemessene Regelsatz sollen die Eigenverantwortung des Einzelnen stärken.
Das neue Modell wird "aktivierender" Sozialstaat genannt. Ausgangspunkt
ist die Annahme, Arbeitslose müssten aktiviert werden, um wieder in Jobs
gebracht zu werden. Damit wird unterstellt, Arbeitslose seien passive
faule Menschen, die wieder auf den rechten Weg gebracht werden sollen.
Im Gesetz findet sich eine Vielzahl von Normen, die diese Vermutung nahe
legen. So heißt es gleich am Anfang des Gesetzes in § 1 I 1 SGB II, dass
die Grundsicherung für Arbeitssuchende die Eigenverantwortung von erwerbsfähigen
Hilfebedürftigen stärken und dazu beitragen soll, dass sie ihren Lebensunterhalt
unabhängig von der Grundsicherung aus eigenen Mitteln und Kräften bestreiten
können. § 2 SGB II etabliert den Grundsatz des Forderns, der u. a. besagt,
dass Hilfebedürftige aktiv an allen Maßnahmen zu seiner Eingliederung
in Arbeit mitwirken, insbesondere eine Eingliederungsvereinbarung gemäß
§ 15 SGB II abschließen müssen. Eines der Ziele bei der Einführung der
Ein-Euro-Jobs besteht darin, Langzeitarbeitslose wieder an regelmäßige
Arbeit zu gewöhnen.
Es wird der Eindruck erweckt, Arbeitslosigkeit sei durch persönliches
Verhalten verschuldet. Dass es bei über 5 Millionen offiziell gemeldeten
Arbeitslosen nur einige Hunderttausend offene Stellen gibt und so auch
bei bestmöglicher Vermittlung immer noch Millionen ohne Arbeit wären,
wird dabei bewusst verschwiegen.
Zum Beispiel Paul Kirchhof
Ein exemplarischer Vertreter des neuen Sozialstaatsmodells ist der ehemalige
Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof. Er vertritt die Ansicht, der Staat
werde zum Gegner der Freiheit, indem die Bereitstellung von "ausufernden"
(!) sozialen Leistungen den Freiheitswillen der Menschen zu ersticken
drohe.19 Richtig ist jedoch das Gegenteil. Ohne eine gewisse finanzielle
Basis ist persönliche Freiheit nicht denkbar. Solange die tatsächlichen
Voraussetzungen für ihren Gebrauch nicht vorhanden sind, bleibt Freiheit
substanzlos. Von ausufernden sozialen Leistungen kann in unserem Staat
nicht die Rede sein. Dass diese - für das Existenzminimum unerlässlichen
- Leistungen dem Leistungsempfänger obendrein schaden sollen, erscheint
geradezu absurd und völlig lebensfern.
Das wahre Gesicht von Hartz IV
Die von der Politik verwendeten positiv besetzten Begriffe wie "Eigenverantwortung",
"aktivierend" etc. sollen verschleiern, worum es in Wirklichkeit geht:
um eine massive Senkung der Sozialausgaben zulasten der Arbeitslosen.
Die hohe Arbeitslosigkeit verursacht naturgemäß erhebliche Kosten. Dies
soll durch Hartz IV geändert werden. In einer Zeit, in der Arbeitslosigkeit
ein Massenphänomen darstellt, das in den allermeisten Fällen nichts mit
persönlichem Verschulden zu tun hat, stellt diese Maßnahme eine einseitige
Bestrafung der Arbeitslosen dar. Nicht die Arbeitslosigkeit wird bekämpft,
sondern die Arbeitslosen.
Während durch die Hartz-Gesetze bis Herbst 2005 eine Halbierung der Massenarbeitslosigkeit
erreicht werden sollte, ist diese inzwischen auf über 5 Millionen angewachsen.
Dadurch wird deutlich: Hartz IV ist in erster Linie ein großes Kostensenkungsprogramm,
von dem keine neuen Arbeitsplätze zu erwarten sind. Abgesehen davon, dass
das Gesetz zutiefst unsozial ist, ist es auch gesamtwirtschaftlich kontraproduktiv.
Durch die Kürzung der Sozialeinkommen wird die Kaufkraft und damit die
Binnenkonjunktur weiter geschwächt.20
Perspektiven einer neuen Politik des Sozialen
Angesichts der beschriebenen Situation ist eine gesamtgesellschaftliche
Diskussion über Alternativen zur Politik des Sozialabbaus dringend nötig.
Beispielsweise ist Arbeitszeitverkürzung ein gangbarer Weg, um die Arbeitslosenzahl
zu senken. Durch die fortschreitende Technisierung ist die Produktivität
so sehr gestiegen, dass mit immer weniger Menschen immer mehr Produkte
hergestellt werden. Es spricht viel dafür, dass dauerhaft derart viele
Arbeitskräfte eingespart werden, dass auch in wirtschaftlich florierenden
Zeiten mit einem grundlegenden Sinken der Arbeitslosenzahlen nicht zu
rechnen ist.21
Da immer weniger Arbeit vorhanden ist, sollte diese auf mehr Menschen
verteilt werden. Stattdessen wird der gegenteilige Weg beschritten und
die Arbeitszeiten werden schrittweise wieder erhöht. Arbeitszeitverlängerung
dient Unternehmerinteressen, da sie faktisch die Löhne senkt. Verkauft
wird sie jedoch von der Politik als Mittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.
Darüber hinaus sollte über den Ausbau des Sektors der öffentlichen Beschäftigung,
insbesondere in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Kinderbetreuung,
wo ein erheblicher Bedarf an Arbeitskräften herrscht, diskutiert werden.
Die skandinavischen Länder, die weitaus geringere Arbeitslosenzahlen aufweisen,
sind hier ein Vorbild. Der Ausbau des öffentlichen Sektors hätte neben
einer besseren Versorgung der Bevölkerung die Schaffung von zahlreichen
Arbeitsplätzen zur Folge. Die von unseren VolksvertreterInnen so gern
vorgetragene These, die Politik könne keine Arbeitsplätze schaffen, ist
so nicht richtig.
In Zeiten der Massenarbeitslosigkeit sollte es zudem eine gesamtgesellschaftliche
Debatte über ein bedingungslos zu zahlendes Existenzgeld geben. Wenn Arbeitsplätze
auf Dauer fehlen, werden andere Instrumente benötigt. Man muss von Arbeit
leben können - und ohne Arbeit auch. Die immer wieder geäußerte Behauptung,
für ein Existenzgeld seien nicht genügend Finanzmittel vorhanden, geht
fehl. Zwar sind aufgrund einer verfehlten Steuerpolitik die öffentlichen
Kassen weitgehend leer, in der Gesellschaft aber ist der Reichtum vorhanden.
Wenn man sich vergegenwärtigt, dass 0, 5 % der Bevölkerung 25, 7 % des
Vermögens besitzt,22 ist die Frage nach der Finanzierbarkeit des Existenzgeldes
eine rhetorische.
Doch zu einem solchen gesamtgesellschaftlichen Diskurs, wie mit den Problemen
der Langzeitarbeitslosigkeit und der Armut umzugehen ist23, scheint die
rot-grüne Bundesregierung nur sehr eingeschränkt bereit zu sein. Die Bundesregierung
muss einräumen, dass die Zahl der Armen in Deutschland seit ihrem Amtsantritt
von 12, 1 % auf 13, 5 % im Jahr 2003 angestiegen ist. Gleichzeitig wuchs
das Nettovermögen um 17 % an.
Es wird deutlich, dass es politische Alternativen zum derzeitigen Sozialabbau
gibt. Eine andere Sozialpolitik muss gegen das vorherrschende TINA-Dogma
(There ist no Alternative) wieder offensiv eingefordert werden.
Tobias Mushoff und Regina Viotto arbeiten als wissenschaftliche/r
Mitarbeiter/in an der Universität Bielefeld und freuen sich über Anmerkungen
und Kritik.
Anmerkungen:
1 Hierzu: Dammann, Lena: Neue Vorschläge zur Umverteilung von Unten nach
Oben, Forum Recht 2003, 112 ff.
2 Vgl. Löschau, Martin / Marschner, Andreas, Zusammenlegung von Arbeitslosen-
und Sozialhilfe, 2004, Rn. 260 ff.
3 Frankfurter Rundschau (FR) v. 29.03.2005.
4 FR v.14.04.2005.
5 SG Berlin, Urteil v.18.1.2002, Arbeit und Recht 2003, 120.
6 Löschau / Marschner a.a.O. Rn. 528.
7 Löschau / Marschner a.a.O. Rn. 528.
8 FR v. 29.03.2005.
9 FR v. 29.03.2005.
10 vgl. Steinfeld, Friedrich: Nach dem Systemwechsel in der Arbeitsmarktpolitik,
in: Sozialismus 3/2005,4 (7).
11 Taz v. 15.12.2004.
12 FR v. 29.03.2005.
13 BVerfGE 82,60 (85).
14 BVerwGE 97, 376 (378).
15 BVerfGE 82, 60 (81).
16 Z.B. Rothkegel, Ralf: "Bedarfsdeckung durch Sozialhilfe - ein Auslaufmodell?",
ZFSH/SGB 11/2003.
17 Martens, Rudolf (2004): "Zum Leben zu wenig...", Expertise im Auftrag
des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes-Gesamtverband e. V., download
unter www.paritaet.org
18 Joachim Rock: Das Maß der Armut und das Wunder der Regelsatzbemessung,
in: Sozialismus, 2/2005, 14 (17).
19 Kirchhoff, Der Staat als Garant und Gegner der Freiheit, 34 ff.
20 Bischoff, Joachim: "Der Masterplan von Hartz und sein Scheitern" in:
Sozialismus 11/2004.
21 Grimm, Dieter: Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Thema Prävention,
in: Kritische Vierteljahresschrift 1986, 38, 43 f.
22 Dieter Eißel, Einkommens- und Vermögensentwicklung in Deutschland,
in: Intervention, Heft 1, 2004, 28.
23 Vgl. Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hrsg,.), Eine Politik
sozialer Menschenrechte in Zeiten von Verarmung und Repression (2004).
|
|