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Alljährlich wird von der Gesellschaft für deutsche Sprache (kurz: GfdS)
ein Wort des Jahres und ein Unwort des Jahres gewählt. Ausgewählt werden
dabei von einer unabhängigen Jury Wörter und Ausdrücke, welche die öffentliche
Diskussion des betreffenden Jahres besonders bestimmt haben. Gute Chancen
auf das Unwort des Jahres 2005 hat die Terminologie "Unterschichtenfernsehen".
Denn es kann zweifelsfrei festgestellt werden, dass bis dato fast jedes
Medium die Terminologie aufgegriffen und seine Bedeutung diskutiert hat.
Der Ursprung des Wortes "Unterschichtenfernsehen"
Bereits 1995 hat das Satiremagazin Titanic in einem Beitrag den Sender
Sat 1 als "Unterschichtenfernsehen" geoutet, jedoch mit wenig Resonanz
in der Öffentlichkeit. Dann schrieb der Historiker Paul Nolte ein Buch
mit dem Titel "Generation Reform"1, welches wiederum Harald Schmidt während
seiner einjährigen Schaffenspause und Weltumrundung las. Als Schmidt dann
die Begrifflichkeit "Unterschichtenfernsehen" als Dauerpointe in seiner
spätabendlichen Sendung in der ARD verwendete, wurde das Wort popularisiert.
Ein Meer an Artikeln und Foren tat sich auf. Nur: Was ist Unterschichtenfernsehen?
Das Klischee besagt, dass öffentlich-rechtliche Sender auf- und erklären,
Missstände aufzeigen und entsprechende Hilfestellungen geben. Die privaten
Sender hingegen werden als schwarze Schafe der Medienbranche geoutet,
bei ihnen werden live und in Farbe Busen vergrößert und Lippen aufgespritzt
oder zur Weihnachtszeit Menschen mit überschaubaren Deutschkenntnissen
nach der Anzahl der heiligen Drei Könige befragt. Im Unterschichtenfernsehen,
so die Mär weiter, dominieren Gewalt, Sex und Voyeurismus das Programm.
Die Anfänge des Fernsehens
Als im März 1935 in Berlin das erste regelmäßige Fernsehprogramm der
Welt seinen Anfang fand, war diese Diskussion noch weit entfernt. Zu aufregend
und neu war es, dass an drei Wochentagen in der Zeit von 20.30 bis 22
Uhr ein richtiges Programm gesendet wurde. Da es nur sehr wenige private
Fernsehgeräte gab, fanden sich die Menschen in "Fernsehstuben" zusammen.
Die Nazis nutzen dieses, denn das neue Medium bat ihrer Propaganda den
optimalen Nährboden. So wurde der Nürnberger Parteitag als Live-Übertragung
im Fernsehen einer breiten Masse zugänglich gemacht. Um die Möglichkeit
"Fernsehen" optimal nutzen zu können, wurde während der Funkausstellung
in Berlin 1939 der Fernseh-Volksempfänger vorgestellt, doch verhinderte
der einsetzende Krieg vorerst die Massenproduktion und 1944 wurde das
Fernsehprogramm in Deutschland vorläufig eingestellt.
Im Jahre 1952 begann der zweite Neuanfang. Zwar hatten sich bereits im
Juni 1950 die Landesrundfunkanstalten zur "Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen
Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland" (ARD) zusammengeschlossen,
doch erst ab Dezember 1952 wurde von Hamburg aus das tägliche Fernsehprogramm
gesendet: Der NDWR, der Vorgänger des Norddeutschen Rundfunks (NDR) strahlte
ab 20 Uhr mit der Tagesschau beginnend zwei Stunden Programm aus. Um die
Technik und den Betrieb finanzieren zu können, wurden 1953 Rundfunkgebühren
eingeführt.
Die damaligen Programmverantwortlichen verstanden das Fernsehen vorerst
als Bildungseinrichtung, weshalb der Unterhaltung ein geringer Stellenwert
eingeräumt wurde. Schwindendes Interesse durch stagnierende Fernsehgerät-Verkäufe
riefen Robert Lemke mit der ersten Quizsendung "Was bin ich?" auf den
Programmplan. 1957 wurden dann an die 5 Stunden Fernsehen täglich gesendet
und es war die erste Fernsehteilnahme-Million erreicht. Der Fernseher
selber war zum Prestigeobjekt geworden.
Mit dem wachsenden Interesse der Bevölkerung nahmen auch die Begehrlichkeiten
der Politik zu, weshalb der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer mit
dem Gesellschaftsvertrag der Deutschland-Fernseh-GmbH versuchte, ein privatwirtschaftlich
organisiertes Fernsehen einzurichten. Zu kritisch und links-orientiert
war der Regierung die Berichterstattung des ARD-Fernsehens. Das zweite
deutsche Fernsehen wurde unter Adenauer daher zunächst als Deutschland-Fernsehen
geplant. Es sollte sich aus Werbeeinnahmen finanzieren und viel und vornehmlich
Unterhaltung anbieten, um die Möglichkeiten zur Kritikäußerung zu minimieren.
Die SPD-regierten Länder klagten. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG)
beendete denn auch mit dem Ersten Rundfunkurteil2 jäh den Traum Adenauers
vom privat organisierten Fernsehen. Der Gesellschaftsvertrag der "Deutschland-Fernseh-GmbH"
wurde vom BVerfG als verfassungswidrig angesehen, da die Eigenständigkeit
des Rundfunks als Institution nicht garantiert war und der Staat sich
gewissermaßen das Medium Rundfunk aneignete. Es galt als unzulässig, dass
eine privatrechtlich organisierte Gesellschaft vollkommen vom Staat beherrscht
wird.
Das Privatfernsehen nimmt sein Programm auf
Eine Zäsur in der deutschen Fernsehlandschaft vollzog sich mit dem Dritten
Rundfunkurteil des Bundesverfassungsgerichts 19813. Das Bundesverfassungsgericht
erklärte in seinem Urteil die Zulassung privatwirtschaftlichen Rundfunks
nach Landesrecht aufgrund der Rundfunkhoheit der Länder für prinzipiell
verfassungskonform. Hatte das Gericht 20 Jahre zuvor erklärt, dass unter
bestimmten Bedingungen privates Veranstalten von Rundfunk zugelassen werden
könnte, was jedoch insbesondere am Mangel an Frequenzen scheiterte, trug
es nun der veränderten Situation Rechnung: Es wurde festgestellt, dass
keine Frequenzknappheit mehr gegeben sei, private Rundfunkangebote wurden
zugelassen.
Am 1. Januar 1984 nahmen dann die beiden Privatsender RTL und Sat1 ihr
Programm auf. Das Ludwigshafener Kabelprojekt erlaubte es den ZuschauerInnen
erstmalig, kommerzielle Fernsehsender zu empfangen. Free-TV war geboren.
1989 folgte der Sender Pro7, 1991 gab es erstmals mit dem Programmstart
des Senders Premiere sogenanntes "Bezahlfernsehen" (Pay-TV). 1993 nahmen
Vox und RTL II ihren Sendebetrieb auf. Mittlerweile können die ZuschauerInnen
aus etwa 64 Sendern wählen, Tendenz steigend.
Die Abhängigkeit von Werbeeinnahmen
Die Masse an Sendern sollte die Bandbreite der Interessen widerspiegeln,
denn Fernsehen ist ein Massenmedium. Die Privatsender sehen ihren Auftrag
in der Maximierung der Einschaltquote innerhalb der gewählten Zielgruppe.
Dieses ist auch logisch, finanzieren sie sich doch aus Werbeeinnahmen.
Werbeeinnahmen steigen, je höher der Zuschaueranteil ist. Der Zuschaueranteil
wächst, wenn die Programme einen Nerv treffen.
Ein Nerv wurde zu Beginn der neunziger Jahre mit den täglichen Talk-Shows
getroffen. Leute, die Jedermanns NachbarIn sein konnten, erzählten intime
Teile ihres Lebens. RTL fing mit Hans Meiser an, viele weitere folgten.
Nach den Talkshows kamen die Reality-Formate. "Big Brother" galt als bahnbrechend,
(Frei-)Willige ließen sich zwecks Dauerbeobachtung in einen Container
einsperren. FernsehzuschauerInnen lernten, wie es sich anguckt, normale
Leute als Unterhaltung wahrzunehmen.
Die Talkshows wurden abgelöst durch sogenannte Reality-Doku-Sendungen,
d.h. Sendungen, die keine vorgeschriebenen Geschichten erzählen, sondern
aus der Realität berichten. Die nachmittäglichen Gerichtsshows, mit echten
RichterInnen besetzt, DarstellerInnen als DeliquentenInnen, waren erneut
ein einschneidender Erfolg.
Es ist daher Fakt, dass bei allen Sendern, Sendungen, Genres auch alle
Teile der Bevölkerung wieder zu finden sind. Es ist aber Utopie, dass
die unterschiedlichen Präferenzen der ZuschauerInnen von Bildung und Gehalt
abhängen. Der Begriff "Unterschichtenfernsehen", von Harald Schmidt als
Zynismus gebraucht, ist Polemik, da er einen Zusammenhang zwischen sozialer
Zugehörigkeit und schlechtem Geschmack herstellt.
Paul Nolte verwendet den Begriff in seinem Buch allerdings wertfrei. Seine
These besagt, dass sich in den letzten Jahren eine Klassengesellschaft
entwickelt hat, in welcher weder Bildung noch Besitz gleich verteilt ist.
Diese Entwicklung zeige sich auch im Fernsehverhalten der Menschen. Nolte
zufolge gibt es eine bestimmte Schicht von Leuten, die geistig verarmen,
sich schlecht ernähren und übermäßig viel fernsehen. Dabei werden bevorzugt
private Kanäle angewählt. Sie informieren sich eher bei "RTL aktuell"
denn bei der "Tagesschau". Es reicht aus, Menschen aus einer Zielgruppe
zu wählen und diese vor die Kamera zu setzen. Das Resultat sind Sendungen
und Formate wie "Big Brother" und andere Doku-Soaps, welche bevorzugt
auf Privatsendern gezeigt werden, denn Privatsender sind mit ihrem Programm
seit Beginn in erster Linie auf Unterhaltung ausgelegt.
Vergessen wird dabei jedoch, dass auch die öffentlich-rechtlichen Sender
Formate hervorbringen, die sich von ihren privattelevisionären Geschwistern
nicht großartig unterscheiden. ARD und ZDF halten ebenso Boulevard-Formate
bereit wie die Privatsender. Auch der Boom der sogenannten Telenovelas
ist an den Sendern in Mainz und Hamburg nicht spurlos vorbeigegangen.
Und seit wann sind Sendungen wie "Hits für Millionen" oder andere Volksmusik-Formate
Bildungsfernsehen und kein Verblödungsmedium mit entsprechender Musikuntermalung?
Gutes versus schlechtes Fernsehen?
Es findet in der Diskussion vor allem eine Unterscheidung zwischen "gutem"
und "schlechtem" Fernsehen statt. Diese Unterscheidung basiert auf der
Meinung, Fernsehen habe die Aufgabe der Aufklärung und Bildung und sei
nicht in erster Linie Unterhaltungsmedium. Doch schlechtes Fernsehen ist
auch solches Fernsehen, in welchem die Gäste und Mitwirkenden von Talkshows
und anderen Reality-Formaten sich kurze Zeit später als Opfer medialer
Omnipräsenz sehen und dieses vorher so nicht absehen konnten.4 Ein erstes
semi-prominentes Beispiel gab es in der ersten Staffel von "Big Brother",
als der Container-Insasse Zlatko, proletarischer Held des Banalen, es
nach seinem Ausstieg mit diversen Darstellungs- und Sangeskünsten versuchte
und Opfer übler Bild-Schlagzeilen wurde.
Aktuell gerät immer wieder die Sendung von und um Stefan Raab in die Schlagzeilen,
weil sich Leute, die in anderen Sendern auftreten, durch die Aufnahme
in "Raab TV" diffamiert fühlen, da auf ihre Kosten und aus dem ursprünglichen
Zusammenhang gerissen Witze gemacht werden. Klagen auf Schmerzensgeld
sind nicht unüblich, werden aber meist bereits erstinstanzlich abgewiesen.
Dabei ist der Schaden, der den so Entblößten dabei entsteht, nicht unerheblich.
Denn gerade labile Menschen wollen gerne im Rampenlicht stehen, um Aufmerksamkeit
zu erreichen und unterschätzen die Wirkung des Fernsehens, so Roland Kirbach
in seinem Artikel. Unterschichten-Fernsehen ist oftmals Voyeurismus und
die MacherInnen suchen nach denen, die Effekte erzielen. Dass die Folge
die sein kann, im eigenen Umfeld zum Dauergesprächsthema zu werden, kalkulieren
die meisten nicht ein. Und die Trennung von MedientäterIn und Medienopfer
ist, ebenso wie die vom schlechten und guten Fernsehen, oft nicht einfach.
Das eine bedingt das andere. Und dem Wort "Unterschichtenfernsehen" bleibt
nach wie vor gute Chancen, zum Unwort des Jahres 2005 zu werden.
Nina Aselmann hat Jura studiert und arbeitet in Berlin
in einer senderunabhängigen Produktionsfirma.
Anmerkungen:
1 Nolte, Paul, Generation Reform, München 2004.
2 BVerfG vom 28.02.1962, Entscheidungssammlung des BVerfG (BVerfGE) Band
12, 205 ff.
3 BVerfG vom 16.06.1981, BVerfGE 57, 295 ff.
4 Ausführlich zu diesem Thema Kirbach, Roland, Zum Abschuss freigegeben,
Die Zeit vom 09.06.2005.
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