Konstantin Görlich |
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Blogbildung | Heft
1/2006 Medien und Meinungsmacht Seite 15-17 |
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Virtuelle Tagebücher verändern die Welt |
Als das Fachblatt "der journalist" im Sommer 2005 titelte "Die Laien kommen!" so spiegelte sich in dieser Überschrift eines Themenheftes zu neuen Bürgermedien nicht nur das Bewußtsein um die Existenz dieser Bewegung in der virtuellen Welt wieder, sondern auch eine ganz reale Angst um die eigene, herkömmliche Arbeitsweise. Eine nicht ganz unberechtigte Angst in einer Welt, in der man sich fragen muß, warum die Leute den Kundenrezensionen bei amazon stärker vertrauen, als den von professionellen Redakteuren und Redakteurinnen erstellten Kritiken in ihrer Tages- oder Wochenzeitung. Vom Usenet zum Blog Wie kam es dazu? Alles begann im Jahr 1979, als mit Erfindung des Usenet der Grundstein für alle späteren Entwicklungen gelegt wurde. Diskussionen auf elektronischem Wege waren damit erstmals möglich geworden. Die immer rasanter voranschreitende Ausbreitung und Dezentralisierung der Netze brachte schließlich eine unbekannt große Anzahl von Newsservern hervor, zu denen ungleich mehr Personen Zugang bekamen. Die Entwicklung hin zu Internet und World Wide Web brachte schließlich das uns bekannte Forum hervor. Internetforen zeichnen sich prinzipiell dadurch aus, dass eigene Beiträge eingestellt werden können, wobei diese Beiträge z.B. thematisch und auch in mehreren Ebenen organisiert werden. Die Nutzer und Nutzerinnen können an bereits bestehende Diskussionen eigene Antworten anhängen oder sie können neue Diskussionen (sog. Threads) mit einem ersten Beitrag beginnen. Das wirklich Revolutionäre aber brachte die weite Verbreitung von Foren und vor allem die noch um ein Vielfaches weitere Verbreitung des Forenzugangs über jeden Computer mit Internetzugang. Schon bald hatte jeder fünftklassige Kegelverein, der etwas auf sich hielt, ein Forum auf der eigenen Homepage, und auch die auf Jugendliche zielende Medienmaschinerie startete im Laufe der neunziger Jahre eine Reihe von bunten Community-Projekten und erschloss sich so neue Werbewege. Allen voran ist hier das von einem eigenen Fernsehprogramm begleitete NBC GIGA zu nennen, dessen bis heute bei Teenagern überaus beliebte Community giga.de im Wesentlichen auf Foren (und Chats) basiert. Aus dieser künstlich geschaffenen Community heraus begann der dort als Cheops bekannte Berliner Ronald Schubert um die Jahrtausendwende auf seiner Homepage cheopsnet.de (in ihrer heutigen Form seit Juli 2002) eine damals noch relativ unbekannte Form der Internetkommunikation aktiv zu betreiben. Was war zuerst: Blog oder Blogger? Mittlerweile finden sich die Beiträge von Cheops zwar auch unter cheopstexte.blog.de in einem waschechten Blog, aber das war nicht immer so. Die ursprüngliche Infrastruktur von cheopsnet.de wurde eigens für Cheops von einem befreundeten Programmierer entwickelt. Was zeichnet ein Blog also aus? Betrachtet man den Begriff, der von der ursprünglichen Bezeichnung "weblog" abgeleitet wurde, so erkennt man, dass es sich wohl um ein log im web, also ein Internettagebuch, handeln dürfte. Eine Person (oder ein kleiner Personenkreis) hat hier die Möglichkeit, eigene Texte, kurz oder lang, mit oder ohne Multimediaelemente, zu publizieren. Nichts anderes als das gute alte Forum? Oh doch! Das Blog stellt den Blogger in den Mittelpunkt und baut alles weitere um ihn bzw. sie herum auf, wohingegen das Forum themenorientiert strukturiert ist. Sein Fokus liegt auf dem aktuellen Stand der jeweiligen Diskussion, der neuesten Antwort in einem Thread. Die Leserkommentare zu einem Blogartikel werden hingegen zumeist erst nach einem weiteren Mausklick sichtbar und sind in erster Linie ein Feedbackkanal von Lesern und Leserinnen zu Autoren und Autorinnen und weniger als Diskussionsmedium konzipiert. Oft wird ein Blogeintrag viele hundert oder tausend mal gelesen, bevor der erste Kommentar gefunden werden kann. Ein Thread in einem Forum wäre zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Seiten lang. Die Technologie, die auf der Anwenderseite, also bei den Autoren und Autorinnen, zum Einsatz kommt ist jedoch vergleichbar: Der Text muss lediglich geschrieben und mit einem Mausklick abgeschickt werden, alles weitere passiert quasi sofort und vollautomatisch: die Einbindung in die vorhandene Struktur der jeweiligen Internetseite. Hier liegt der Unterschied zu einer (un)regelmäßig "von Hand" aktualisierten Internetseite: Jeder kann Autor seines eigenen Weblogs werden, ohne dafür auch nur ansatzweise HTML- oder andere Webdesignkenntnisse zu benötigen. Am Entstehungshintergrund von cheopsnet.de und vielen anderen technologisch inzwischen überholten Internetprojekten lässt sich also der Bedarf an einer von jedermann bedienbaren Publikationsmöglichkeit im Netz erkennen: Es gab zuerst den Blogger, dann trat das Blog seinen Siegeszug an. Mein Blog - Dein Blog Die Weblog-Technologie, also ein einfaches Contentmanagementsystem (CMS), gab es natürlich schon, als diverse Eigenentwicklungen das Licht der Webwelt erblickten. Im deutschsprachigen wie auch (und wie üblich ein wenig früher) im angloamerikanischen Internet existierte bereits die, wenn damals auch wenig bekannte, Möglichkeit, schnell, unkompliziert und überwiegend kostenlos zum eigenen Weblog zu kommen. So wurde beispielsweise blogger.com von der kleinen Firma Pyra Labs in San Francisco bereits 1999 gegründet. 2003 von Google übernommen wurde blogger.com zur Grundlage für die Google-Blogsuche und manifestierte eine neue Intensität der Vernetzung. Wie bereits angesprochen spielen die Leserkommentare bei Blogs eine untergeordnete Rolle. Bei der Vernetzung untereinander sind sie jedoch integraler Bestandteil dessen, was das Phänomen Weblog so mächtig macht: Die Rede ist von Trackbacks. Trackbacks erscheinen dort, wo auch die Kommentare zu einem Beitrag zu finden sind, jedoch handelt es sich nicht um solche, sondern um Links zu einem anderen Weblog, in dem über den ursprünglichen Weblogartikel berichtet und dieser verlinkt wird. Bei einem Trackback handelt es sich also praktisch um einen gegenseitigen Link, der aber nur, und das ist der Punkt, von einer Seite initiiert wird: Blogger B berichtet über einen Artikel von Blogger A und verlinkt diesen im B-Blog, woraufhin automatisch ein Link, der Trackback, in den Kommentaren des A-Artikels erscheint und auf den B-Artikel verweist. Auf diese Weise, so wird, wenn man einmal darüber nachdenkt oder (besser) ein paar Trackbacks in freier Wildbahn verfolgt, schnell klar, kann sich die Anzahl der Leser und Leserinnen eines Artikels genauso schlagartig wie dramatisch vervielfachen. Wer jetzt an gigantische Einnahmen aus Bannerwerbung denkt, hat die Bedeutung dennoch verkannt. Wir sprechen hier von Einträgen in Weblogs, Texte von (unabhängigen) Laien, zu allen möglichen und unmöglichen Themen, die in schwer unterbietbarer Zeit einem breiten Leserkreis fast wie von Geisterhand zugänglich gemacht werden. Trackbacks in Verbindung mit der Auffindbarkeit durch die Suchalgorithmen etwa von Google sind der Schlüssel zum Verständnis der Bedeutung, die Weblogs zum Teil bereits für unseren alltäglichen Nachrichtenkonsum gewonnen haben. Katastrophen: Die Stunde der Blogger Als am Vormittag des 7. Juli 2005 der Londoner Katastrophenschutz um Panik zu vermeiden immer noch die Nachricht verbreitete, das U-Bahnsystem habe wegen eines Stromausfalls geschlossen werden müssen, da tippten einige Londoner Blogger bereits die grausame Wahrheit mit zitternden Fingern in ihre Laptops. Der gezielten Desinformation zum Trotz verbreitete sich die Wahrheit in Windeseile um die ganze Welt, bis in die herkömmlichen Massenmedien, die noch Stunden nach den Anschlägen von einer weitaus höheren Anzahl von Bomben berichteten, als tatsächlich gezündet worden waren. Ähnliches lies sich bereits am 11. September 2001 beobachten, als neben Amateurbildern aus New York auch E-Mails von betroffenen, zum Teil im World Trade Center eingeschlossenen, Personen auf eigens eingerichteten Webseiten gesammelt wurden. Der Tsunami vom 26. Dezember 2004 schwappte in den ersten Tagen fast ausschließlich durch Internetberichte und Handyvideos vor Ort betroffener Urlauber und Urlauberinnen und Einheimischer in unsere Abendnachrichten und Wohnzimmer. Zuletzt fanden die Berichte von Bloggern aus New Orleans ein weltweites Publikum, als sie, während Hurrikan Katrina ihre Stadt und ihre Häuser zerstörte, dank Mobilfunk und Laptopakku zum Teil noch weit über die Stromausfälle hinaus direkt aus dem Zentrum der Verwüstung authentischer berichteten, als es die professionellen Reporter und Reporterinnen aus weniger stark betroffenen Randgebieten vermochten. Authentizität ist auch das Stichwort, wenn wir an mit unzensierten Fotos und Videos gespickte Berichte von Soldaten und Soldatinnen im Irak denken: "You won't see this on CNN". Alternative Bürgermedien sind also offensichtlich besonders in Extremsituationen Anlaufstelle Nummer 1 bei der Suche nach aktuellen und authentischen Informationen. Inzwischen verlangt, etwa in New Orleans, die Bevölkerung von lokalen Behörden, in solchen Fällen die wichtigsten örtlichen Blogs auf den Notfallwebseiten zu verlinken. Zeugt dies von einem Misstrauen gegenüber Informationen von offizieller Seite oder zeigt sich hier ein besonderes Vertrauen in Informationen, die buchstäblich aus den eigenen Reihen stammen? Welche Rolle spielt dieses Verhalten im Alltag? Blogger an der Macht? Kennt jemand noch Sweety, das Küken? Vor nicht allzu langer Zeit avancierte das ebenso possierliche wie nervtötende Federvieh als Hauptdarsteller in Klingeltonwerbespots der Firma Jamba zum meistgejagten Vogel im deutschsprachigen Internet, nach dem Moorhuhn, versteht sich. Aber wie kam es dazu? Eine Suche nach dem Begriff "Jamba" bei, wie sollte es anders sein, Google gibt Aufschluss: Nach der Firmenhomepage von Jamba selbst erscheint bereits auf Platz zwei der Artikel von spreeblick.de-Blogger Johnny Haeusler, mit dem alles anfing. Im Stile der Sendung mit der Maus erklärte Johnny uns am Abend des 12. Dezember 2004, dass Jamba offenbar gezielt Jugendlichen, also vermindert Geschäftsfähigen, ganze Mobiltelefonklingeltonabos (wiederkehrende Zahlungsverpflichtungen, die vermindert Geschäftsfähige gar nicht abschließen können) verkauft und sie dabei glauben lässt, es handele sich um einzelne Klingeltöne. Hierbei sei die in der Zielgruppe besonders stark verbreitete Prepaidkarte durch die fehlende Abrechnungskontrollmöglichkeit genauso hilfreich wie die die Jugendlichen gezielt fehlleitende Gestaltung der Werbespots (die damals zu allem Überfluss den gefühlten Hauptbestandteil des Programms der Musiksender darstellten). Johnny hatte eine Schockwelle losgetreten: es hagelte Trackbacks von allen Seiten. Kaum ein halbes Jahr später erläuterte der Düsseldorfer Rechtsanwalt und Betreiber von lawblog.de, Udo Vetter, bei Günter Jauch in der Sendung SternTV im Zweikampf mit einem Jamba-Sprecher die rechtlichen Hintergründe. Damit war die Kostenfalle Jamba-Abo endgültig in der breiten Öffentlichkeit bekannt geworden. Heute, kaum ein weiteres halbes Jahr später, zeichnen sich besonders erfolgreiche Werbespots für Klingeltöne durch zwei deutlich sichtbare Worte aus: "Kein Abo!", den Verantwortlichen der Abo-Abzocke hatte es gehörig die Geschäfte verhagelt. Sind Blogs also eine Möglichkeit, gezielt steuernd auf die öffentliche Meinung, die Wahrnehmung eines realen Sachverhaltes, Einfluss zu nehmen? Immerhin kam der Fall Jamba erst durch die Blogs in die herkömmlichen Medien. Pikantes Detail: einer Reihe von Kommentaren, die sich deutlich für Jamba aussprachen, konnte recht schnell nachgewiesen werden, direkt aus der Jamba-Firmenzentrale eingestellt worden zu sein. Aber wer hat Sweety wirklich gestoppt? Leser und Leserinnen an der Macht! Seine Hauptbeschäftigung als Blogger beschreibt Jörg Kantel (schockwellenreiter.de) so: "Ich bin Weblogger. Und als solcher bringe ich Fundstücke aus dem Web und kommentiere sie (mal mehr, mal weniger). Nicht mehr und nicht weniger. Alles andere überlasse ich denen, die sich berufen fühlen." Nichts anderes hatte der Schockwellenreiter auch am frühen Morgen des 14. Dezember 2004 getan: Mit einem nicht weiter kommentierten Trackback wies er seine Leser und Leserinnen auf die Jamba-Geschichte hin, die er bei spreeblick.de gefunden hatte. Nichts anderes bewirkten hunderte andere Trackbacks in mehr oder weniger stark frequentierten Blogs sowie tausende Links auf Webseiten und in E-Mails. Das Schlüsselwort hier ist Metainformation, also Informationen über eine Information. Weblogs und ihr Dunstkreis bilden ein tatsächlich selbstorganisiertes Netzwerk, in dem das Lesen oder das Verlinken weder erzwungen noch verhindert werden kann. Welche Information, ob nun aus der Bloggerszene selbst erschaffen oder aus der herkömmlichen Medienwelt aufgegriffen, sich wie stark verbreitet kann praktisch nicht vorhergesagt und erst recht nicht gesteuert werden. Die Lesergemeinschaft wirkt also wie ein Filter, der Informationen umso leichter durchlässt und weiterverbreitet, desto stärker er ihnen selbst vertraut. Es muss und kann sich niemand dazu berufen fühlen, als Filter zu agieren. Man kann dies beängstigend oder beruhigend finden, es passiert einfach, es steckt im System. Gegenöffentlichkeit oder Graswurzel-Journalismus? Inwieweit haben Weblogs eine Bedeutung im Bereich des partizipativen, also aktiv von Bürgern und Bürgerinnen betriebenen Journalismus? Sein Ziel ist die Bereitstellung von den unabhängigen, verlässlichen, genauen, ausführlichen und relevanten Informationen, die eine Demokratie benötigt. Offensichtlich gemeint sind zunächst einmal bekannte Projekte wie wikipedia oder indymedia. Wir haben aber auch gesehen, dass Weblogs, genauer gesagt die Filterfunktion der Weblogszene, der sogenannten Blogospäre, ob nun gewollt oder nicht, den Zielen des partizipativen Journalismus zu dienen vermögen. Ihnen fällt dort, wo sie in ihrer Masse Informationen nur bewerten und mehr oder weniger stark weitergeben, in erster Linie eine Multiplikatorrolle zu. Seltener in der Breite, häufig aber an einigen Leuchttürmen sind auch Formen des Berichtens und Recherchierens zu finden. Zu denken ist hier zum einen an Einzelberichte wie die Geschichte um Jamba oder die Entdeckung, dass es den Slogan der aktuellen Motivationskampagne "Du bist Deutschland" in dieser Formulierung, wenn auch in anderer Schriftart und Motivation, bereits im dritten Reich gab. Zum anderen gibt es aber auch einige Projekte, die sich als Aufklärer und Aufdecker verstehen. Stellvertretend sei hier bildblog.de genannt, ein Projekt von vier Journalisten, die nach eigenen Angaben stets seriös, journalistisch sauber und professionell Fahrlässiges und Irreführendes, Artikel, die von anderen Interessen motiviert sind als denen der Leserschaft oder die schlicht falsch sind, nachzurecherchieren und so aufzudecken. Das von täglich mehr als 40.000 Menschen gelesene Blog, welches 2005 den Grimme Online Award im Bereich Information erhielt, kann gern als Watchblog ("Wohltätig ist der Presse Macht, wenn sie der Mensch bewacht!") bezeichnet werden. Es manifestiert wie kaum ein zweites die Fähigkeit von Weblogs, eine Gegenöffentlichkeit zu generieren, die durch die Massenmedien bewusst oder unbewusst verschwiegene oder verzerrte Informationen ans Tageslicht zu befördern vermag. In eine ähnliche Richtung stoßen Verbraucherportale wie ciao.com oder insbesondere die Kundenrezensionen bei amazon. Auch hier ist die selbstregulierende Filterfunktion von jedermann durch jedermann so mächtig, dass Versuche, Meinungen durch von Konzernen platzierte Werbung in getürkten Nutzerbeiträgen zu manipulieren gründlich fehlschlugen. Wohin geht die Reise? In eine neue und spannende Medienzukunft, soviel dürfte sicher sein. Möglicherweise wird diese Zukunft anders aussehen, als es Robin Sloan und Matt Thompson in ihrem Kurzfilm "EPIC 2014" (http://www.robinsloan.com/epic/) bereits durchaus vorstellbar vorgezeichnet haben. Meines Erachtens besteht zumindest die berechtigte Hoffnung, dass die Visionen sowohl der jungen Erfinder von Google und amazon und als auch der Blogger Bestand haben werden: der freie, gleiche und geheime Zugang zu Informationen ist und bleibt der Schlüssel. Konstantin Görlich studiert in Freiburg. Weitere Informationen: www.konstantin-goerlich.de/blogbildung |