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[S. auch die ergänzenden Informationen:
- Freie Radios im Rundfunkrecht
- Freie Radios und Repression]
"Das Zeitalter der elektronischen Massenkommunikation träumt den Traum
vom globalen Dorf: Ausgestattet mit den richtigen Medien kann sich jede(r)
jederzeit die weite Welt - so wie sie ist - in die eigenen vier Wände
projizieren lassen. Weltweite Vernetzung raffinierter Technik vermittelt
das Wissen, aus dem man sich ein Bild davon machen kann, warum was wo
passiert. Der Mensch hat die Vogelperspektive gewonnen und kann grenzenlose
Objektivität atmen. Wenn nichts dazwischenkommt. Es kommt etwas dazwischen.
Es tritt jemand ins Bild, hält sich ein Mikrofon vor den Mund und kommentiert
- erklärt - die Bilder. Wir wollen diese Person weghaben, sie verstellt
die freie Sicht, verschwindet jedoch nicht. Wir beginnen zu begreifen:
Sie ist untrennbar mit dem Blick, den wir in die Weite werfen können,
verbunden. Ohne sie bleibt der Bildschirm leer. Der Blick, den sie uns
dabei vermittelt, ist zwangsläufig ideologisch: Sie ordnet die Welt für
uns nach eigenen Prämissen. Die Möglichkeit, das Gezeigte und Gesagte
zu verifizieren, gibt es nicht."1
Um so wichtiger ist es, "öffentliche Wahrnehmung" nicht ohne die Medien
zu denken, durch die sie erst möglich wird. Mediale Vermittlung bedeutet
immer Reduktion von Komplexität, also Konzentration auf das Wesentliche.
Was Medien für "wesentlich" halten ist, bestimmt ihr Standpunkt, erst
von diesem aus wird unser "öffentliches" Bild der Realität konstruiert.
Auf den Blick der kommerziellen und staatlichen Massenmedien wirkt dabei
eine Reihe unterschiedlicher Filter, am Ende führen sie jedoch zu einer
bedeutenden Gemeinsamkeit: Meinungsmacht entsteht erst im Einvernehmen
mit gesellschaftlich mächtigen Gruppen.
Die Grundaufstellung: Meinung und Macht
Im privaten, werbefinanzierten Rundfunk wollen AnzeigenkundInnen bedient
werden, am Ende sind sie es schließlich, die die Gehälter bezahlen. Damit
sind auch sie die eigentliche Zielgruppe, deren Wünsche von den Medienmachenden
erfüllt werden müssen. Das Publikum ist lediglich das Produkt, das den
zahlungskräftigen KundInnen als "Marktanteil" zum Kauf angeboten wird.
Staatlicher Anstalts-Rundfunk ist hingegen weniger zur Massenunterhaltung
gezwungen, da die Regierenden, die dort über ihre IntendantInnen die Gehälter
bezahlen, noch an anderem interessiert sind als an hohen Marktanteilen
- zum Beispiel an der Schaffung eines bestimmten gesellschaftlichen Klimas,
wofür Kulturelles und "Bildung" eine Rolle spielen. Paradoxer Weise erhält
gerade der Staatsrundfunk deshalb von kritischen Geistern ein mildes Urteil.
Die Filter, die hier auf die Realitäts-Konstruktion wirken, sind dabei
nicht weniger gewaltig.
Denn die langfristige Gunst der Regierenden ist entscheidend für die Ausstattung
der Sender mit Staatsgeldern, aber auch für die journalistische Arbeit
selbst. Politische Leitplanken für die Berichterstattung setzen sich dabei
durch besonders wirksame, weil "unsichtbare" Mechanismen über die politisch
eingesetzten IntendantInnen bis hinab in die einzelnen Redaktionen fort:
Neben der Kontrolle durch Vorgesetzte über Veröffentlichung und Nichtveröffentlichung
ist es oft die Furcht vor Karriere-Einbußen, die die "Schere im Kopf"
von JournalistInnen ganz von alleine nachschleift.
Wie es der CDU-Politiker Kurt Biedenkopf formuliert, kommt den etablierten
Massenmedien die Aufgabe zu, "jeden Tag von neuem den Konsens herzustellen".
Dieser Konsens, so analysieren die Medienwissenschaftler Chomsky und Hermann,
ist in der Welt der profitorientierten und staatlichen Medien die Übereinstimmung
des Publikums mit den Medien-Autoritäten aus Wirtschaft und Regierung.2
Die Arbeit der Medien wird so zur täglichen medialen Legitimation der
bestehenden Machtverhältnisse.
Konsens-Fabrikation und Gegenöffentlichkeit
Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist es nicht anders als in den kommerziellen
Medien: Randgruppen ohne politische Repräsentanz oder Marktmacht wirken
am Entstehen der öffentlichen Wahrnehmung nicht von innen heraus mit,
sondern tauchen nur als Objekt einer - mehr oder weniger barmherzigen
- medialen Darstellung auf. Auf das, was den Meinungs-Mainstream stört,
kann dabei auch verzichtet werden.
Das Konzept "Gegenöffentlichkeit" stellt hierzu den Gegenentwurf dar.
Als Medientheorie verlangt es einen radikal unabhängigen Journalismus,
der weder staatstragend noch profitorientiert sein kann. Erste inhaltliche
Grundsätze wurden mit dem Aufkommen außerparlamentarischer Bewegungen
Ende der 1960er Jahre formuliert: Themen in die Öffentlichkeit bringen,
die die etablierten Medien unterschlagen; die Betroffenen selbst zu Wort
kommen lassen; Informationen "von unten" den Weg bahnen; den Pressebetrieb
frei von Hierarchie gestalten und - frei nach Brecht - jede/n Empfänger/in
zum/r Sender/in machen.
Damit bedeutet Gegenöffentlichkeit mehr als nur eine Ergänzung des journalistischen
Spektrums um noch eine weitere Schattierung. Es geht vielmehr ganz grundsätzlich
um die Frage, ob Meinungsmacht in die Hand der gesellschaftlich Mächtigen
gehört, wenn doch die Pressefreiheit gerade der unabhängigen Kontrolle
der Mächtigen dienen soll. Das Konzept Gegenöffentlichkeit stellt ein
leidenschaftliches "Nein" auf diese Frage dar.
Die nicht-kommerziellen, sogenannten "freien" Medien, die in den letzten
Jahrzehnten nach diesen Prinzipien gegründet wurden, haben sich sehr unterschiedlich
entwickelt. Ihre vielfältigste und vielleicht originellste Ausprägung
haben sie dabei in der Form des freien Radios gefunden. Die Widersprüche
und Grenzen des Konzeptes, aber auch Möglichkeiten und Perspektiven der
Gegenöffentlichkeit werden hier besonders deutlich.
Alle mal herhören!
Nicht-kommerzielle Radiosender schicken in Deutschland seit bald 30 Jahren
Widerspenstiges, Unformatiertes, Unerhörtes über den Äther. In vielen
Städten ergreifen marginalisierte gesellschaftliche Gruppen dort zum ersten
Mal das öffentliche Wort. Für Subkulturen, Szenen und Bewegungen spielen
die Sender vor allem als Kommunikationsplattform eine wichtige Rolle.
Mit der benutzerfreundlichen Oberfläche anderer Radiosender ist das kaum
zu verwechseln. Freies Radio wird nicht gemacht, um im Hintergrund zu
dudeln und ignoriert zu werden. Es verlangt Aufmerksamkeit - oft auch
Anstrengung - von seinen HörerInnen.
Inzwischen sind im deutschsprachigen Raum über 30 freie Radios legal auf
Sendung. Die Sender vernetzen in der Regel Dutzende verschiedener Redaktionen
miteinander. Die inneren Strukturen der freien Radios sind basisdemokratisch:
Theoretisch alle Programmentscheidungen haben sich (im Konfliktfall) vor
Gremien wie der Redaktion oder dem Radioplenum zu rechtfertigen.
Die ersten freien Radios begannen in Deutschland in der zweiten Hälfte
der 1970er Jahre - zu einer Zeit, als es in Italien und Frankreich schon
Hunderte solcher Sender gab. Es waren zunächst Piratenradios, die sich
Frequenzen kapern und illegal senden mussten.
Als erstes freies Radio vernetzte ab 1977 Radio Verte Fessenheim mit verschiedenen
Sendeorten in der Region um Freiburg die deutsche und französische Anti-Atom-Bewegung.
Dabei wurden die Radiomachenden, wie vielerorts, auch selbst zum Ziel
von Polizeieinsätzen und Verhaftungen. Der Staat sicherte seine Autorität
über den Rundfunk auch strafrechtlich ab: Nach dem damaligen "Gesetz über
Fernmeldeanlagen" konnte das "Gesetzwidrige Errichten oder Betreiben einer
Fernmeldeanlage" mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden.
Als die Kohl-Regierung 1984 das staatliche Rundfunkmonopol aufbrach, wollte
sie damit sicherlich zu allerletzt den Piratensendern nachgeben. Die neu
entstehenden Landesmediengesetze machten es nun aber auch freien Radios
möglich, ihre Zulassung zu erreichen. Die Schwierigkeiten waren allerdings
mit der neuen Rechtslage nicht vorbei.
Kampf um die Frequenzen
Es gibt kaum ein freies Radio, das sich seine Sendelizenz nicht erstreiten
musste angesichts hartnäckiger Blockaden in den Landesmedienanstalten,
die zur "Aufsicht" über die Ausübung der neu gewährten Rundfunkfreiheit
eingesetzt wurden. In die Gremien der Medienanstalten beriefen die Bundesländer
VertreterInnen "gesellschaftlich relevanter Gruppen", um über die Vergabe
von Frequenzen zu entscheiden.
Wer diese "relevanten Gruppen" aus Sicht der jeweiligen Landesgesetzgeber
sind, überrascht nicht: In Bayern zum Beispiel sitzen neben ParteivertreterInnen
und Kirchenleuten auch der Bauern-, Komponisten- und Vertriebenenverband
im "Medienrat" - neben einer einzelnen Gewerkschafterin.
Als 1987 Radio Z eine Lizenz als erstes freies Radio in Bayern beantragte,
gab es für die NürnbergerInnen nur mit hauchdünner Mehrheit eine Sendegenehmigung
vom Medienrat. Anstoß nahm das Gremium vor allem an dem Vorhaben von Radio
Z, eine wöchentliche Schwulensendung ins Programm zu nehmen. Der CSU-Landtagsabgeordnete
Dr. Gerhard Merkl meinte: "Wenn wir heute sagen, die Zielgruppe Schwule
darf senden, dann kommen morgen die Lesben und übermorgen die Fixer."3
Rundfunkfreiheit für alle? Ja wo kämen wir denn da hin. Es vergingen nicht
einmal vier Monate, bis die Landesmedienanstalt den Alternativsender kurzerhand
wieder absetzte. Radio Z konnte erst nach erfolgreicher Klage vor dem
bayerischen Verfassungsgerichtshof 1988 einen regulären und legalen Sendebetrieb
aufnehmen. Die Prophezeiung des CSU-Politikers Merkl erfüllte sich übrigens
recht bald - im positiven Sinne: Nachdem das Schwulenmagazin "Fliederfunk"
in Nürnberg auf Äther gegangen war, ließ auch eine Lesbensendung nicht
lange auf sich warten.
Wirken Worte?
Während in den Anfangsjahren des freien Radios, in der Zeit der "neuen
sozialen Bewegungen", die Wirkung medialer Gegenöffentlichkeit greifbar
schien, ist die gesellschaftliche Resonanz auf das Programm in den letzten
Jahren zurückgegangen. Die Anziehungskraft auf neue HörerInnen-Milieus
lässt nach.
Die AutorInnen des 1998 erschienenen "Handbuchs der Kommunikationsguerilla"
erklären dies mit dem generellen Bedeutungsverlust der Linken: "Wo man
[in den 1980er Jahren] glaubte, durch Aufklärung weitergekommen zu sein,
war es vielleicht in Wirklichkeit gar nicht die schlagende Brillanz der
Argumente aus der Gegenöffentlichkeit, die bei vielen Leuten ein Interesse
für bestimmte Themen und Sichtweisen und ein Bedürfnis nach entsprechenden
Informationen hervorrief. Vielmehr war dieses Interesse Ausdruck von Veränderungen
der eigenen Lebenszusammenhänge vor dem Hintergrund jener gesellschaftlichen
Entwicklung, in deren Zuge auch die "neuen sozialen Bewegungen" ihre Bedeutung
gewannen."4 Kurz: Freie Medien hätten Anklang gefunden, weil ihre Themen
in der öffentlichen Debatte standen, nicht umgekehrt.
Die VerfasserInnen des "Handbuchs der Kommunikationsguerilla" selbst verfolgen
einen anderen Ansatz als das Konzept Gegenöffentlichkeit. Den Bruch mit
dem, was Foucault als "Ordnung des Diskurses" bezeichnet und als ein wesentliches
Element von Machtausübung identifiziert5, sucht die Kommunikationsguerilla
nicht durch Aufklärung, sondern auf künstlerischen Wegen, durch Subversion.6
So tritt sie mit Strategien wie der Erfindung falscher Tatsachen zur Schaffung
wahrer Ereignisse ("Informationsvergiftung") oder der Verfremdung von
Werbebotschaften ("Adbusting") auf den Plan.
Aber auch die AutorInnen der Kommunikationsguerilla gestehen freien Medien
zu, dass sie "nach wie vor einen Ausgangspunkt bilden können, um bestimmte
Informationen in eine (auch bürgerliche) Öffentlichkeit zu tragen und
dort Momente einer Delegitimierung der herrschenden Ordnung zu bewirken.
[...] Gemessen an alten Illusionen mag das wenig sein. Mehr als nichts
ist es allemal."
Gegenöffentlichkeit und soziale Praxis
Natürlich ist mit Information alleine nichts erreicht, wenn diese folgenlos
verhallt. Gerade in der Ermöglichung von kulturellem Dissens kommt den
freien Medien aber eine Möglichkeit zu, die über die Funktion als reines
Kommunikationsmittel weit hinaus reicht: Journalismus "von unten", der
den Betroffenen selbst das Wort gibt, holt diese aus ihrer Objektrolle
heraus. Marginalisierte Gruppen bestimmen erstmals selbst, wie über sie
gesprochen wird. Das ist nicht nur "mehr als nichts".
Ein freies Radio sollte das senden, was Medienarbeit als ein Instrument
von Emanzipation begreifbar macht. Das bedeutet, "sich von beliebiger
Musik und angepassten Gedanken, von der Vorstellung unerreichbarer Professionalität
und Berufsexpertentum, von vereinheitlichten Jargons und ausschließlich
Deutschsprachigem zu emanzipieren", wie es Dynamo 93, ein Zusammenschluss
von RadiomacherInnen im Hamburger Freies Sender Kombinat (FSK) einforderte.
Freie Radios können dabei das Kulturelle mit dem Politischen verknüpfen:
Sie können den Äther mit Musik füllen, die nicht zur Vermarktung durch
die Musikindustrie gemacht ist, sie können Sendungen mit nicht-deutscher
und nicht-westlicher Kultur ausstrahlen oder gar Sendungen selbst zu einem
künstlerischen Medium machen.
Vor allem ihre inneren Strukturen unterscheiden freie Sender von Formen
bloßer Kommunikationskunst. Die Sender stellen einzigartige Schnittstellen
dar, auf denen die unterschiedlichsten Gruppen und Fraktionen zusammentreffen
und auf den Erfahrungen, Diskussionen, Erfolgen und Fehlern der Vergangenheit
aufbauen. Dass Streit dabei eher den Normalzustand darstellt, ist in diesem
Sinne kein schlechtes Zeichen.
Innere Struktur und Basisdemokratie
Basisdemokratische Strukturen sind eben nicht auf Harmonie angelegt,
sondern auf Auseinandersetzung. Sie sollen gerade verhindern, dass Unbefragte
als Teil eines Konsenses ausgewiesen werden können, der in Wirklichkeit
nicht existiert. Dabei überrascht es nicht, dass auch die basisdemokratischen
Strukturen selbst immer wieder Gegenstand von Auseinandersetzungen in
den Redaktionen freier Radios sind.
Denn natürlich ist eine konsistente "Senderpolitik" bei dieser Organisationsform
schwierig. Allerdings: In den weitläufigen, oft nur lose zusammenhängenden
Redaktionen freier Radios ist die basisdemokratische Legitimierung von
großer Bedeutung, damit RedakteurInnen, die sich freiwillig und mit den
unterschiedlichsten Interessen einbringen, Gruppenentscheidungen anerkennen
und sich als Teil "ihres" Senders verstehen können. Wenn dabei bestehender
Dissens ans Licht kommt, ist das gerade der Vorteil basisdemokratischer
Strukturen. Dadurch kommt es zum Austausch und zur inhaltlichen Auseinandersetzung
der Teilnehmenden untereinander. Das ist oft mühsamer als Eigenbrötelei,
für ein Gruppenradio bedeutet es dennoch die Lebensgrundlage.
Andernfalls bliebe nicht viel übrig von der Idee eines freien Radios,
das im Sinne der Gegenöffentlichkeit Position bezieht. Vielmehr entstünde
ein offener Kanal - ein Forum, in dem alle aneinander vorbei reden.
Vielfalt heißt nicht Beliebigkeit!
Entscheidend für die Funktion freier Sender als praktische Form von Gegenöffentlichkeit
ist, dass die verschiedenen Radiogruppen diese Strukturen nutzen, um sich
gegenseitig zur Kenntnis und in die Verantwortung zu nehmen. Griffig formulierte
der Vorstand vom Hamburger FSK: "Die Freiheit freien Radios besteht nicht
in der unbeschränkten Redefreiheit."
Es gehe im freien Radio "nicht darum, allen Meinungen Platz einzuräumen
und am Ende einen Querschnitt gesellschaftlicher Positionen unhierarchisch
nebeneinander stehen zu lassen." Das "'Frei' im freien Radio" bedeute
vielmehr, "ohne direkte Bindungen an bürgerliche Medien kritische Gesellschaftsanalysen
zu betreiben und sich dabei die Freiheit zu nehmen, auch die eigene Praxis
immer wieder kritisch zu hinterfragen." Freies Radio definiere sich insoweit
"gerade im Protest gegen eine mediale Öffentlichkeit, die meint, bestimmte
Dinge auch mal sagen dürfen zu müssen".7
Zu diesem Statement im Jahr 2002 kam es, nachdem im FSK heftig über antisemitische
Äußerungen in einer Sendung gestritten wurde. Ähnliche Konflikte hatte
es zuvor auch in anderen freien Sendern gegeben.8 Die Auseinandersetzung,
die bis 2005 anhielt, stellte in ihrer Grundsätzlichkeit das Selbstverständnis
des FSK als linkes Radioprojekt auf die Probe.
FSK fasst den Inhalt des Konflikts zusammen: "Zu Auseinandersetzungen
und zu Sendeverboten führten zwei Sendungen, die beide Israel mit Nazideutschland
gleichsetzten, und Israel das Existenzrecht absprachen. Einmal wurde das
ganze unterlegt mit einer völlig absurden Agitation gegen die Entschädigungszahlungen
Deutschlands an Israel. Um deren Unverhältnismäßigkeit zu demonstrieren,
multiplizierte man schlicht die Gesamtsumme mit der Einwohnerzahl Israels,
anstatt - wie es zur Ermittlung der Pro-Kopf-Verteilung richtig gewesen
wäre - zu dividieren. Das andere Mal verlangte man vom Vorsitzenden des
Zentralrats der deutschen Juden, Paul Spiegel, er solle sich vom Vorgehen
des israelischen Staates gegen die Palästinenser distanzieren - und machte
damit jüdische Deutsche zu Stellvertretern Israels."
Über Sendeverbote setzten sich die Betroffenen unter anderem mit körperlicher
Gewalt hinweg; auf Sitzungen produzierten sie sich als Opfer des "Totschlagarguments
Antisemitismus".
Indifferenz und Auseinandersetzungen
Es handelt sich keineswegs um einen Einzelfall in Medien der linken Gegenöffentlichkeit.
"Die Abwesenheit von Sexismus und Rassismus stellt eine Idealvorstellung,
sicherlich jedoch keine Beschreibung der alltäglichen Praxis der Radioprojekte
dar."9 Eine offensive Auseinandersetzung um die Sendeinhalte ist in freien
Radios aber selten geworden.
Im Alltag der oft lose organisierten Sender ist im Hinblick auf diese
Themen oftmals eher ein gegenseitiges wohlwollendes Dulden zu beobachten,
als dass deutliche Kritik geäußert und inhaltliche Auseinandersetzung
gesucht würde. Für die Möglichkeiten der Gegenöffentlichkeit ist der Zerfall
in vereinzelte desinteressierte Grüppchen heute viel bedrohlicher als
jeder Druck von außen: Es droht die Beliebigkeit eines "offenen Kanals",
und damit eben auch die Offenheit für z.B. völkische oder sexistische
Tendenzen im Programm.
Die inhaltliche Verständigung zwischen den verschiedenen Radiogruppen
innerhalb der freien Sender ist in den letzten Jahren noch schwieriger
geworden, nachdem in vielen Sendern auch unpolitische migrantische oder
musikalische Gruppen hinzugekommen sind und dadurch die innere Vielfalt
gewachsen ist.
Insofern lässt der Verlauf des Streits im FSK aufhorchen. Die offene Auseinandersetzung,
die in Hamburg geführt wurde, könnte anderen freien Radios für die Idee
eines "Gruppenradios" als Ort ernsthafter Selbstreflexion wieder Mut machen.
Keine politische Linie
Das Beispiel FSK verdeutlicht allerdings auch die Grenzen, die einer
politischen Auseinandersetzung durch die Natur des "Gruppenradios" gesetzt
sind. Die Möglichkeit, einen politischen Konsens zu erreichen, wird in
einem solchen Projekt stets eine Illusion bleiben.
Als nämlich beim FSK manche Mitglieder des Senders über den Konflikt hinaus
eine klare politische Linie formulierten und begannen, diese über Mehrheitsbeschlüsse
auch durchzusetzen, kam es zur Eskalation des Konflikts. Die Stoßrichtung
der Mehrheitsbeschlüsse erfasste nun die gesamte antiimperialistische
und internationalistische Ausrichtung der verantwortlichen Radiogruppe
und zielte letztlich über die eigentliche Auseinandersetzung hinaus darauf
ab, diese Positionen ganz aus dem Sender zu verdrängen.
In der Folge eskalierte der Streit und legte die Arbeit im Sender in vielen
Bereichen lahm. Viele Sendende und teilweise ganze Redaktionen gaben entnervt
auf, verabschiedeten sich entweder aus dem Sender oder zogen sich ganz
auf ihre eigenen Belange zurück.
Dort, wo es Meinungsvielfalt und -verschiedenheiten in einem freien Radio
gibt und trotz politischer Auseinandersetzungen kein Konsens erzielt werden
kann, sollte man besser den Dissens stehen lassen. Mit einer starken inhaltlichen
Argumentation ist man weitaus besser vor Beliebigkeit und Indifferenz
in freien Sendern gefeit als mit dem Bemühen um eine einheitliche politische
Linie, wie dies beim FSK versucht wurde.
Perspektiven für den medialen Dissens
Ein freies Radio unterscheidet sich grundsätzlich von Gruppen- oder Zeitungsprojekten,
eine besetzte Frequenz ist nicht mit besetzten Räumen zu vergleichen:
Die ersehnte Medienwirkung wird in einer Stadt auf lange Sicht hin nur
jeweils für eine Frequenz zu erreichen sein. Selbst wenn man in bestimmten
Auseinandersetzungen keinen Konsens mehr erzielen kann, besteht daher
nicht die Möglichkeit, sich einfach aufzulösen oder aufzuspalten - wie
das üblicherweise in anderen linken Projekten der Fall ist.
Ein freies Radio kann nur unter größten gemeinsamen Anstrengungen verschiedener
Gruppen erkämpft und gehalten werden; zugleich ist es ein Medium, das
große Verbreitung im öffentlichen Raum verspricht und daher für die politische
Arbeit von vielen Gruppen von immenser Bedeutung ist. Freies Radio zeichnet
sich somit als strömungsübergreifendes Projekt aus.
Wer auf die Auseinandersetzung keine Lust hat, so formulieren es die InitiatorInnen
der neuen Radiogruppe Dynamo 93 im FSK, "wird bei linkem Sektierertum
landen, wer umgekehrt nicht die Auseinandersetzung erträgt, wird als linker
Offener Kanal enden, in dem alle nebeneinanderher senden." Es sind wohl
genau diese beiden konträren Gefahren, die schleichend das Konzept der
Gegenöffentlichkeit in seiner Medienpraxis bis zur Unkenntlichkeit zu
verzerren drohen: einerseits die Öffnung zum bloßen Sprachrohr verschiedener
Interessensgruppen, andererseits der Drang zu einer singulären politischen
Linie. Eine Perspektive hat die Gegenöffentlichkeit in der Abgrenzung
von beiden Tendenzen.
Ron Steinke war drei Jahre lang Redakteur von Radio Z in
Nürnberg. Stephen Rehmke ist Mitglied der Redaktion "Salon Rouge" im FSK.
Die Frequenzen aller freien Radios im deutschsprachigen Raum finden sich
unter www.freie-radios.de.
Anmerkungen:
1 Radio Loretta, Nationale Identitäten im Freien Radio, www.fsk-hh.org.
2 Chomsky, Noam/Hermann, Edward, Manufacturing Consent, The Political
Economy of the Mass Media, 1988.
3 IMEDANA (Institut für Medienanalyse und zur Förderung des nicht-kommerziellen
Journalismus), Wenn der Sinn nach Umsturz steht: 10 Jahre Radio Z, 1998,
138.
4 autonome a.f.r.i.k.a gruppe/Luther Blissett/Sonja Brünzels, Handbuch
der Kommunikationsguerilla, 1998.
5 Foucault, Michel, Die Ordnung des Diskurses, 1971.
6 www.contrast.org/KG
7 Sämtliche FSK-Zitate sind der Dokumentation unter www.fsk-hh.org entnommen.
8 Vgl. z.B. Initiative Sozialistisches Forum, Radioten im Dreyeckland,
KONKRET 08/91, 40.
9 IMEDANA, a.a.O., 30.
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