Dem staunenden Beobachter muss es so scheinen, also ob derzeit ein Gespenst Europas Hochschulen heimsuchen würde, das ähnlich einem Poltergeist zwar bisher von kaum jemandem gesichtet wurde, aber für all das verantwortlich gemacht wird, was an den einzelnen Hochschulen schief läuft: Der Bologna-Prozess; wahlweise als Heilsbringer im internationalen Wettbewerb um Reputation, Geld und manchmal auch Studierende herbeigesehnt oder als Zerstörer des "zweckfreien" Studiums im akademischen Elfenbeinturm verdammt. So unterschiedlich die Bewertungen des Bologna-Prozesses auch sein mögen, GegnerInnen und BefürworterInnen eint die Vorstellung eines großen Plans, auf europäischer Ebene festgelegt und eins zu eins umzusetzen bis in die entlegenste Fachhochschule. Das vielbeschworene "europäische Modell" bleibt aber auch auf Nachfrage zumeist merkwürdig diffus. Gleich einem amorphen Schatten wabern vollkommen unterschiedliche und sich großteils ausschließende Vorstellungen durch die hochschulpolitische Öffentlichkeit. Die These einer Konvergenz der europäischen Studiensysteme in Richtung auf ein "von oben" verordnetes und durch die Akkreditierung durchgesetztes Leitmodell mit den Abschlüssen Bachelor und Master, einem einheitlichen Leistungspunktesystem und einer verbindlichen Modulstruktur wird allerdings kaum ernsthaft in Frage gestellt. Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage förmlich auf, ob die in den Köpfen vieler Beteiligter omnipräsente Idee einer Blaupause als in der Realität zu beobachtendes Modell auftritt, auf das sich die anderen europäischen Systeme hin orientieren, oder ob nicht die Anpassung der Studienstrukturen eher die unterschiedlichen politischen Interessenlagen der politischen AkteurInnen im europäischen Mehrebenensystem abbildet. Die Reformanstrengungen der einzelnen Länder würden dann keinem objektiven Modell, sondern der faktischen Macht des Normativen folgen. Gestufte Studiengänge in der BRD - eine alte Idee Bei näherem Hinschauen stellt sich die Situation keinesfalls als einfach dar. Der Bologna-Prozess ist nämlich keine Kopfgeburt freischwebender europäischer BildungsministerInnen, sondern hat sowohl in Deutschland als auch auf der europäischen Ebene eine lange Vorgeschichte: Die Diskussion um die Einführung gestufter Studiengänge an (west-)deutschen Hochschulen reicht bis in die 1960er Jahre zurück. Begründet wurden die Vorschläge allerdings nicht mit dem Ziel der Europäisierung, das zum damaligen Zeitpunkt in der bildungspolitischen Diskussion noch überhaupt keine Rolle spielte, sondern mit dem Ziel der Studienzeitverkürzung zur Entlastung der Universitäten von stark steigenden Studierendenzahlen. Als Reaktion auf die "Vermassung" der Universitäten im Gefolge der Bildungsexpansion und zur Lösung der hochschulpolitischen Evergreens einer zu langen Studiendauer und einer zu großen Praxisferne des Studiums machte der Wissenschaftsrat im Jahr 1966 einen Vorschlag zur Neuorganisation des Studiums, in dem er eine Stufung des Studiums in ein zunächst vierjähriges berufsqualifizierendes Studium und ein zweijähriges wissenschaftlich orientiertes Aufbaustudium für besonders befähigte Studierende empfahl. Nach vier Jahren Studium und einer dreimonatigen Prüfungszeit sollte automatisch die Exmatrikulation erfolgen. Im Jahre 1978 modifizierte der Wissenschaftsrat das Stufenmodell und schlug erstmals vor, die "Planstudienzeit" auf drei Jahre festzusetzen. Die Auswirkungen der Vorschläge waren allerdings gering, denn niemand machte den ernsthaften Versuch, die Empfehlungen gegenüber den Hochschulen durchzusetzen. Hinzu kam eine fundamentale Kritik von Seiten der Studierendenvertretungen und der BundesassistentInnenkonferenz. Der Forderung nach einer stärkeren Vereinheitlichung wurde das Prinzip des "forschenden Lernens" entgegen gestellt, durch das Studierende in einem Projektstudium gemeinsam eigene forschungsorientierte Initiativen in Gruppenarbeit entwickeln sollten. Diese Forderung wird auch heute noch - und das vollkommen zu Recht - von den Studierendenvertretungen erhoben. In den 1970er und 1980er Jahren sind erneute Vorstöße des Wissenschaftsrates wegen dieser Kritik, aber gerade auch wegen des erbitterten Widerstands von Universitäten und Wissenschaftsverbänden gescheitert. Die einmal vorgeschlagenen Ziele der Trennung von Forschung und Lehre, einer Verkürzung der Studienzeiten, einer verstärkten Berufsorientierung und einer stärkeren äußeren Differenzierung des Studiums tauchten aber in allen folgenden Reformvorschlägen immer wieder auf. Anfänge der europäischen Hochschulpolitik In den 1980er Jahren wurde Hochschulpolitik auch verstärkt Thema der Europäischen Gemeinschaft (EG): Auf Richtlinien für bestimmte Berufe, die erheblichen Einfluss auf die konkrete Ausgestaltung von Studienstrukturen und -inhalten in den betroffenen Fächern hatten, folgte 1988 mit der Richtlinie 89/48 eine Regelung für alle Hochschulabschlüsse: Mit der grundsätzlichen Anerkennung von mindestens dreijährigen Abschlüssen war nunmehr ein individuelles Recht zur Berufsausübung verbunden. Diese Entwicklung ist deshalb bemerkenswert, weil die bestehenden Verträge explizit keine Kompetenz der Gemeinschaft im Bereich der allgemeinen Bildung vorsahen. Eine Art Hintertür stellte aber Artikel 126 der Römischen Verträge von 1957 dar, der den Bereich der beruflichen Bildung regelte und der Gemeinschaft unter anderem zur Erleichterung der Aufnahme einer beruflichen Bildung und zur der Förderung der Mobilität der in beruflicher Bildung befindlichen Personen eine unterstützende und ergänzende, also eine aktive Rolle zuwies. Im Fall einer französischen Kunststudentin, deren Aufenthaltsrecht in Belgien angezweifelt wurde, vertrat nämlich der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Jahr 1985 die Auffassung, dass Ausbildung oder berufliche Bildung jede Form von Bildung bedeute, die auf eine berufliche Tätigkeit vorbereite, unabhängig vom Alter und der Bildungsstufe der betroffenen Personen und unabhängig davon, ob das Bildungsangebot allgemeinbildende Anteile hat. Auf diesem Wege wird auch aus dem Studium an einer Kunstakademie eine Berufsausbildung. Mit der faktischen Zuerkennung einer bildungspolitischen Kompetenz der EG, die aus dem Grundsatz der ArbeitnehmerInnenfreizügigkeit abgeleitet wurde, erfolgte schon in den 1980er Jahren ein wichtiger Impuls zur Vereinheitlichung der Studienabschlüsse. Mobilität für zukünftige Arbeitskräfte Mit dem Argument der Förderung der Mobilität zukünftiger ArbeitnehmerInnen
wurde auch das ERASMUS-Mobilitätsprogramm begründet, das 1988 von der
EU-Kommission aufgelegt wurde und nach Auffassung der Wiener Politikwissenschaftlerin
Elsa Hackl die durch den EuGH garantierte Mobilität von Studierenden fördern,
aber auch regulieren sollte. Die Aktivitäten der EG im Bereich der Hochschulzusammenarbeit
waren von Anfang an allerdings vor allem durch wirtschaftliche Gründe
motiviert. Soziale und kulturelle Aspekte des Studierendenaustausches
spielten und spielen allenfalls eine Nebenrolle. Diese eingeschränkte
Perspektive wurde von Studierendenvertretungen immer wieder kritisiert.
Der damalige Direktor des ERASMUS-Büros, Alan Smith, formulierte dies
im Jahr 1990 folgendermaßen: Bildungspolitik als Standortfaktor Der ehemalige Präsident der Uni Oldenburg, Michael Daxner, beschreibt ein einfaches Grundmuster, das die Programmideologie in der Hochschulpolitik bestimmt habe. So sei ein Leitmotiv das Streben nach einer Sicherung der Konkurrenzfähigkeit der EG gegenüber den USA, Japan und den südostasiatischen Tigerstaaten durch verstärkte Anstrengungen in den Bereichen der Qualifikation und der technischen Innovation gewesen. Dazu sei ein Maximum an europäischer Harmonisierung nötig, das die zu erwartenden kulturellen und sozialen Friktionen durch ein ebenfalls angestrebtes Maximum nationaler Spezifikationen reduziere. Dies bedeute den Vorrang instrumenteller Bildung vor intellektuellen und kulturellen Identitäten sowie ein Verständnis von Autonomie und Freiheit der Wissenschaft, das eher im Sinne eines globalen Unternehmenskonzeptes als in der idealistischen Tradition der staatsfernen Selbstbestimmung definiert werde. Die Reduzierung des Bildungsverständnisses auf eine ausschließlich an den kurzfristigen Bedürfnissen des Arbeitsmarktes ausgerichtete und überwiegend technisch verstandenen Funktionalität schwächt die ohnehin in der Defensive befindlichen weitergehenden Ziele der Persönlichkeitsentwicklung und der wissenschaftsimmanenten Reflexivität weiter, was letztendlich zu einem massiven Substanzverlust der Wissenschaft insgesamt führen würde. Eine nachhaltige Beschäftigungsfähigkeit der AbsolventInnen als Ergebnis einer wissenschaftliche Berufsausbildung, zu der sich das Studium ohnehin gewandelt hat, braucht um erfolgreich zu sein aber eine produktiver Verbindung von individueller Entwicklung, Berufsqualifizierung, reflexibler Wissenschaft und nicht zuletzt eine gesellschaftliche Einbindung. Eine Überbetonung eines Bildungsziels stellt auch die anderen grundsätzlich in Frage. Europa und das nationalstaatliche Bildungssystem Ab Mitte der 1990er Jahre ist ein zunehmendes Interesse der Einzelstaaten
an der Umsetzung der Ziele des ERASMUS-Programms zu beobachten, was mehrere
Gründe hatte: (1.) einen dreifachen Effizienzgedanken, der den Wandel
des Studiums zu einer wissenschaftlichen Berufsausbildung im Rahmen der
Hochschulexpansion genauso umfasst wie knappere öffentliche Haushalte
und eine deutliche Zunahme der Studierendenzahlen, (2.) die Förderung
der Mobilität in einer doppelten Richtung als grenzenloser Austausch und
als Beweis der internationalen Attraktivität des "Studienstandortes",
und (3.) ein anderes Bild der Hochschule als Bildungs- oder Ausbildungsdienstleisterin,
mit dem auch neue unternehmensorientierte Steuerungsmodelle einhergingen.
Der (4.) Grund ist eine eher versteckte Dimensionen: die Legitimation
nationalstaatlicher Reformanstrengungen über die europäische Ebene, quasi
ein Spiel über Bande: Denn die deutschen Bachelor- und Masterstudiengänge
sind weder eine bloße Kopie US-amerikanischer oder britischer Beispiele
noch eine aus dem europäischen Integrationsprozess resultierende Norm,
die von der deutschen Hochschulpolitik schlicht nachvollzogen wurde, sondern
haben eigenständige Wurzeln in Deutschland, wenn auch Wechselwirkungen
mit ausländischen, insbesondere europäischen, Entwicklungen deutlich auszumachen
sind. Anne Klemperer, Marijk van der Wende und Johanna Witte kommen in
einer Studie des von der Hochschulrektorenkonferenz und der Bertelsmannstiftung
getragenen Centrums für Hochschulentwicklung, kurz CHE, zu folgender Bewertung: Die Neuauflage des Konvergenzziels Der Gedanke der externen Legitimation von Reformprozessen ist wichtig, um die "Sorbonne-Erklärung" vom Mai 1998 besser einordnen zu können, die die Grundlage für den sogenannten Bologna-Prozess bildet, denn die Erklärung wurde von vier Ländern unterzeichnet, die alle mitten in Reformprozessen standen: In Großbritannien hatte 1997 der Dearing-Report erheblichen hochschulpolitischen Reformbedarf ermittelt, der Attali-Report kam in Frankreich zum gleichen Ergebnis und in den beiden anderen Unterzeichnerstaaten, Italien und Deutschland, waren schon konkrete Gesetzgebungsverfahren angelaufen. Die "Sorbonne-Erklärung" hat das Thema der Hochschulpolitik erneut auf die europäische Agenda gebracht, aber eben auch auf die nationalstaatliche, nachdem die vorherigen Versuche dazu nicht erfolgreich gewesen waren. Erklärtes Ziel war eine "Harmonisierung" der Studiensysteme, die sich sowohl an einem als gegeben angenommenen angelsächsischen Abschlussmodell mit einem dreijährigen Bachelor und einem anschließenden zweijährigen Master als auch an einer verklärten Vorstellung der europäischen Universitäten des Mittelalters mit einer nahezu unbegrenzten Mobilität der Studierenden orientierte. Beide Annahmen entbehren bei näherem Hinsehen allerdings weitgehend der Grundlage: So existiert weder ein konsistentes anglo-amerikanisches Modell, unterscheidet sich im Gegenteil die Studienorganisation in den betreffenden Ländern teilweise sehr weitgehend, noch ist die Hochschul- und Studienstruktur des europäischen Mittelalters sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht mit der ausdifferenzierten Struktur des tertiären Bildungssektors heutiger Zeiten vergleichbar. Im Juni 1999 trafen sich schließlich in Bologna die BildungsministerInnen von 29 europäischen Staaten und vereinbarten die Bildung eines "Europäischen Hochschulraums" bis zum Jahr 2010. Dies sollte durch verschiedene Teilziele erreicht werden, zu denen neben der Schaffung eines auf zwei Zyklen basierenden Systems leicht lesbarer und vergleichbarer Abschlüsse, die Einführung eines Kreditpunktesystems, z.B. des ECTS, die Förderung der Mobilität und die Förderung der Attraktivität des europäischen Hochschulraums gehörten. Diese Teilziele des Bologna-Prozesses sind insgesamt überwiegend eine Bestätigung bestehender Ziele der europäischen Staaten und setzen insbesondere die qualitativen Ziele des ERASMUS-Programms fort. Sie finden sich aber auch schon in der Novelle des deutschen Hochschulrahmengesetzes aus dem Jahr 1998, allerdings in einer sehr spezifischen und stark durch die deutsche Reformdiskussion seit den 1960er Jahren geprägten Ausgestaltung. Vereinheitlichte Divergenz als Zwischenergebnis Mit dem Bologna-Prozess konnten die historisch weit zurückliegenden Vereinheitlichungsbestrebungen der europäischen Studiensysteme auf den ersten Blick offenbar weitgehend umgesetzt werden, da die Abschlussstruktur mit der Durchsetzung der Grade Bachelor und Master vereinheitlicht wurde. Dennoch ist es vorschnell, über die reine Struktur der Studiengänge hinaus eine Konvergenz der Studiensysteme zu konstatieren, da sich die mittlerweile 45 am Bologna-Prozess teilnehmenden Staaten in der Studienorganisation und -konzeption weiterhin genauso unterscheiden wie in der Ausgestaltung von Zu- und Übergängen zum Studium. Trotz der Übernahme der gestuften Abschlüsse ist das offene schwedische Modularisierungskonzept mit seinen vielfältigen Wahlmöglichkeiten vom stark verregelten deutschen sehr verschieden, das in den meisten Fällen stark auf Pflichtveranstaltungen setzt. Das akademische Jahr besteht auch nach der Bergen-Konferenz in Großbritannien weiterhin aus Terms, in Österreich aus Semestern und in Finnland aus Blockkursen. Auch die historisch gewachsenen Wissenschaftstraditionen beeinflussen den akademischen Alltag nach wie vor stärker als die Ziele des Bologna-Prozess. Die Orientierung am "Humboldtschen Ideal" des "zweckfreien" Forschens, Lehrens und Lernens lebt als Leitvorstellung in Deutschland genauso fort wie das stark auf funktionale Wissensvermittlung ausgerichtete Lehrkonzept in Frankreich. Unterschiede sind auch weiterhin in der Studierendenquote und bei den Übergängen zwischen Bachelor und Master zu beobachten. So liegt der Anteil von StudienanfängerInnen in Dänemark trotz des parallel bestehenden Systems einer dualen Berufsausbildung bei deutlich mehr als 50% eines Altersjahrgangs. Ähnliche Zahlen sind für Finnland, Schweden, Großbritannien und die Schweiz zu verzeichnen. Und während in Deutschland aktuell eine Übergangsquote zum Mastergrad von 30 bis 50% der BachelorabsolventInnen diskutiert wird, ist der Übergang in Ländern, die traditionell ein gestuftes Studiensystem haben, deutlich offener ausgestaltet. Nach Angaben der OECD verfügen in den USA 29% der 35-Jährigen über einen Masterabschluss. In Kanada sind es 22%, in Australien 21% und in Großbritannien immerhin noch 19% dieser Altersgruppe. Im Vergleich dazu verfügen in Deutschland derzeit nur 15% der Menschen im Alter von 35 Jahren über ein vergleichbares Abschlussniveau, in der Regel also über ein Diplom, ein Staatsexamen oder den Magistergrad. Diese ohnehin geringe Quote würde bei der Umsetzung der anvisierten Zugangshürden zum Master weiter sinken. Dies würde nicht nur die individuelle Chancengleichheit, sondern auch gesamtgesellschaftliche Entwicklungspotenziale gefährden. Der Bologna-Prozess als Diskussions-Katalysator Auch vor dem Beginn des Bologna-Prozesses gab es sowohl in Deutschland als auch auf europäischer Ebene intensive Bemühungen, die Konvergenz der Studiensysteme zu befördern. Mit der Anerkennungsrichtlinie und dem ERASMUS-Programm ergriff die EG dazu auch früh konkrete politische Maßnahmen. Die EG-Staaten speisten dabei bildungspolitische Zielvorstellungen auf der europäischen Ebene in den politischen Prozess ein und erhöhten damit den Handlungsdruck auf die eigenen Hochschulen. So konnten die Regierungen mit einer Sachzwangargumentation und dem Verweis auf die europäische Ebene weitgehende Reformprozesse anstoßen und die Entscheidungskompetenz scheinbar auf eine Ebene verlagern, auf der nationalstaatliche AkteurInnen keinen Einfluss besitzen, während die Entscheidungen selbst für verbindlich erklärt wurden - allerdings in einer jeweils länderspezifischen Interpretation. Die lange folgenlos gebliebene Studienreformdiskussion in Deutschland zeigt aber die Blockademöglichkeiten der Hochschulen gegenüber "von außen" gesetzten politischen Zielen. Viele AkteurInnen vor Ort wollten das traditionelle Hochschul- und Studiensystem mit allen Stärken und Schwächen bewahren - in vielen Fällen in einem fragwürdigen Bündnis zwischen konservativen Ordinarien und "linken" Studierenden gegen eine Ökonomisierung der Hochschulen, die so zwar längere Zeit aufgehalten werden konnte, was aber teuer erkauft werden musste: Mit der Aufgabe der progressiven Vision einer qualitativen Studienreform. Mit dem "europäischen" Sachzwangargument wurden zwar die konservativen Träume von einer reanimierten Ordinarienuniversität alten Zuschnitts erschüttert, aber auch progressive Innovationen mussten vielfach einer ökonomisch motivierten und technokratisch verkürzten Studienstrukturdebatte Platz machen. Insgesamt wird deutlich, dass der Bologna-Prozess eine beschleunigte Fortsetzung lange andauernder Reformversuche der Studien- und vor allem der Abschlussstruktur darstellt und unterhalb der Ebene der Abschlüsse große Unterschiede zwischen den Studiensystemen der beteiligten Staaten fortbestehen. Die These von der Blaupause wird so zur funktionalen Fiktion, denn es besteht kein europäisches Leitmodell des Hochschulstudiums. Im Gegenteil wird das Argument der Vereinheitlichung geschickt genutzt, um altbekannte Interessen bestimmter Gruppen gegen Widerstände durchzusetzen. Ulf Banscherus ist Politikwissenschaftler und promoviert zu einem bildungssoziologischen Thema. Er ist Mitglied des Akkreditierungsrates und lebt in Berlin. Anmerkungen: 1 Smith, Alan (1990): Die europäische Hochschulzusammenarbeit im Rahmen
der Öffnung Europas. In: Eisenmann, Peter; Schmirber, Gisela (Hrsg.):
Deutsche Hochschulen und Europa. Regensburg, S. 156-169, hier: S. 161. weiterführende Literatur: * Bultmann, Torsten; Weitkamp, Rolf (1999): Hochschule in der
Ökonomie. Zwischen Humboldt und Standort Deutschland. 2. Auflage. Marburg. |