Die meisten Menschen absolvieren im Laufe ihres Lebens diverse Prüfungen.
Die subjektive Belastung bei der Vorbereitung und Bewältigung unterscheidet
sich dabei erheblich. Meine Abiturprüfung habe ich beispielsweise als
anspruchsvoll aber machbar empfunden, die Führerscheinprüfung eher als
schrecklich. Aber verglichen mit dem ersten juristischen Staatsexamen
waren die bisherigen Prüfungen ein Kinderspiel. Prüfungsangst war für
mich bis dahin nicht wirklich relevant. Im ersten juristischen Staatsexamen
habe ich sie das erste Mal und in erheblichem Ausmaß erlebt. Hört man
sich bei JuristInnen um, dann wird schnell deutlich, dass Prüfungsangst
im ersten Staatsexamen häufig vorkommt. Gleichwohl wird das Thema Prüfungsangst
kaum thematisiert - geschweige denn in Examensvorbereitungskursen Strategien
vermittelt, wie ihr begegnet werden kann. Meist wird angenommen, dass
Prüfungsangst vor allem von der individuellen Disposition des Prüflings
abhängig ist. Weil es sich also um ein individuelles Problem handele,
bestehe kein Anlass, strukturell am Prüfungswesen etwas zu verändern.
Hinzu kommt, dass Prüfungsangst als normal und sogar für die Prüfung förderlich
eingestuft wird, da ohne einen gewissen Angstpegel die Motivation nicht
groß genug sei, Maximalleistungen zu bringen. Mit diesen Binsenweisheiten
soll im Folgenden aufgeräumt und die wirklichen Gründe dafür ergründet
werden, warum es bislang keine nennenswerten Reformansätze der JuristInnenausbildung
mit dem Ziel gegeben hat, Prüfungsangst, Leistungsdruck und Konkurrenz
abzubauen. Ursachen von Prüfungsangst Das Ausmaß, in dem Prüfungsangst entsteht und die zuvor genannten Symptome
auftauchen, ist keineswegs ausschließlich abhängig von der persönlichen
Disposition. Zwar sind Persönlichkeitsstruktur und Sozialisationsgeschichte
wichtige Determinanten der Prüfungsangst. Daneben spielen jedoch Faktoren,
die sich auf die Art und Ausgestaltung der Prüfung sowie das Prüfungsumfeld
beziehen, eine wesentliche Rolle. Das Ausmaß der Prüfungsangst hängt beispielsweise
ab von der Komplexität, Schwierigkeit und Lösbarkeit der Aufgabe, von
der Bedeutung der jeweiligen Prüfung, ihrer Form und Art, der Wiederholbarkeit,
von der Öffentlichkeit und Transparenz, von der Häufigkeit der Prüfung,
von vorherigen Instruktionen durch den Aufgabensteller, von der Benutzbarkeit
etwaiger Hilfsmittel, vom Prüferverhalten, von der Konkurrenzsituation
der Prüflinge, von den Erwartungen Außenstehender.3 Vergegenwärtigt man
sich jetzt die Umstände, unter denen das erste juristische Staatsexamen
abgelegt wird, dann ist es nicht verwunderlich, dass Prüfungsangst so
häufig und in so starker Ausprägung vorkommt. Hohe Durchfallquote und negatives Feedback Die Angst entsteht zunächst durch die konkrete Gefahr, beim Examen durchzufallen.
Im Jahr 2004 lag die Quote nicht bestandener Prüfungen für das erste juristische
Staatsexamen - im Schnitt der in den Bundesländern ermittelten Zahlen
- bei 25,6 %.4 Ein Viertel aller ExamenskandidatInnen besteht die Prüfung
demnach nicht. Bei einer Lerngruppe von vier Personen ist statistisch
betrachtet eineR dabei, der/die nicht durchkommt. Methodisch fragwürdig Dabei spricht insbesondere die Art der Prüfung dem Hohn, was sie nachweisen
soll. Prüfungen sollen Lernabschnitte beenden und feststellen, wieweit
die KandidatInnen den jeweiligen Lernstoff beherrschen und ob sie eine
hinreichende Kompetenz für bestimmte Aufgabengebiete besitzen. Methodisch
gesehen ist die Prüfung der Versuch, aus einem Fundus an Kenntnissen eine
mehr oder minder große Stichprobe zu ziehen und aus den Befunden über
diese Stichprobe Rückschlüsse auf den gesamten Fundus anzustellen. Die
Aussagekraft des Versuchs erste juristische Staatsprüfung ist mehr als
dürftig zu bewerten. Denn der zu prüfende Wissensfundus auf Seiten der
ExamenskandidatInnen ist sehr groß, er umfasst die wesentlichen Studieninhalte.
Andererseits wird aber nur eine winzige Stichprobe des gelernten Wissens
genommen, in Hamburg (bis 2006) beispielsweise lediglich eine Klausur
pro Rechtsgebiet (plus Examenshausarbeit und mündliche Prüfung). Der Rückschluss
von dem in der Prüfung erbrachten Wissen auf die tatsächlich vorhandene
Qualifikation ist damit höchst problematisch. Wie kann aus der Bearbeitung
lediglich einer Klausur im Zivilrecht auch nur annähernd eine treffende
Bewertung des Wissensstandes des Prüflings erfolgen, der meist mehr als
ein Jahr Zivilrecht gelernt hat? Kompensation mangelhafter Didaktik Vielfach wird behauptet, Prüfungen hätten die Funktion, zu motivieren.
Ohne sie bestünde kein Anreiz für den Einzelnen, zu lernen. Dagegen ist
einzuwenden, dass Menschen sehr wohl auch ohne Prüfungsdruck zum Lernen
motiviert werden können, nämlich indem ihre so genannte intrinsische Motivation,
ihre Neugier und ihr Wissensdurst, angeregt wird. Identitätsbildung durch Angst Eine weitere Hypothese zur Funktion von Prüfungen lautet: Prüfungen und Prüfungsangst dienen dem Prozess der Identitätsbildung und Reifung und bereiten auf die Bewältigung zukünftiger Extremsituationen vor. Richtig an dieser Hypothese ist, dass Prüfungen und Prüfungsangst die Identitätsbildung beeinflussen. Allerdings ist die positive Konnotation, die "Reifung" nahe legt, hier fehl am Platz. Prüfungsangst führt, wenn sie ein bestimmtes Maß überschreitet, zur Beeinträchtigung des Leistungsvermögens und infolge dessen zu Mißerfolgserfahrungen. Ergebnisse psychologischer Untersuchungen zum Zusammenhang von Prüfungsangst und Leistungsvermögen zeigen, dass Angst ab einer bestimmten Intensität zur Folge hat, dass die Aufmerksamkeit teilweise von der Lösung der Prüfungsaufgabe abgezogen wird und sich die von Prüfungsangst geplagte Person mit sich selbst beschäftigt, insbesondere mit Gedanken an einen möglichen Misserfolg/ein mögliches Versagen. Dadurch wird der Zugriff auf aufgabenrelevantes Wissen durch Blockaden - so genannte kognitive Interferenzen - verstellt.6 Das Bedrohungspotenzial des Scheiterns ist dabei umso größer je wichtiger das Bestehen der Prüfung für die jeweilige Person ist. Die Umstände, die dazu führen, dass die Angst das besagte Maß an Intensität erreicht, variieren von Person zu Person. Das erste juristische Staatsexamen als Abschlussprüfung des Studiums ist von erheblicher Bedeutung. In schlimmen Fällen, beispielsweise bei negativem Examensausgang, kann Prüfungsangst zu einer tief greifenden Identitätskrise führen. Insofern ist nicht ersichtlich, inwiefern das Erleiden von Prüfungsangst zu einer positiven Persönlichkeitsausbildung führen soll. Genauso schleierhaft bleibt, wie große Inszenierungen von Extremsituationen wie dem ersten juristischen Staatsexamen dazu beitragen sollen, ein Verhaltensrepertoire für die Bewältigung zukünftiger Extremsituationen aufzubauen. Es ist eher nahe liegend, dass extreme Prüfungserfahrungen traumatisieren, wenn sie nicht adäquat aufgearbeitet werden, und dann in zukünftigen Prüfungssituationen eher verunsichern als Verhaltenssicherheit bieten. Angst trotz guter Vorbereitung Prüfungsangst trifft nicht nur jene, die nicht wissen, wie sie lernen
sollen, oder die nur wenig Zeit und Energie in die Examensvorbereitung
investiert haben, sondern auch Studierende, die über effektive Studierfertigkeiten
verfügen und zentrale Fachinhalte auf angemessene Weise strukturieren
und organisieren können. Während es zur Verringerung mangelnder Studierfähigkeit
und damit der Angst, das Prüfungswissen nicht organisiert und strukturiert
zu bekommen, Hilfsangebote in Form der universitären und kommerziellen
Repetitorien gibt, sind Studierende, deren Problem nicht die fachlichen
Anforderungen sondern die Prüfungsangst erzeugenden Rahmenbedingungen
sind, auf sich selbst verwiesen. Es gibt zwar psychologische Hilfsangebote
an jeder Universität. Die Hemmschwelle, dort hinzugehen und sich Hilfe
zu holen, ist jedoch relativ hoch. Für den/die EinzelneN ist es nicht
einfach sich einzugestehen, Prüfungsangst und somit ein psychisches Problem
zu haben. Man fühlt sich als Schwächling, als VersagerIn. Es scheint so,
als würden alle anderen die schwierige Examensvorbereitung und Prüfung
mit Bravour meistern, nur man selber sei dem nicht gewachsen. Geprüft wird, was nicht gelehrt wurde Geht man - ungeachtet der zweifelhaften methodischen Eignung - weiterhin
von der Annahme aus, Prüfungen sollten im Studium erworbene Qualifikationen
nachweisen, dann wird man wohl zu dem Schluss kommen, dass die strukturell
Angst erzeugenden Prüfungsbedingungen, die mangelnden intrinsischen Motivationsanreize,
sowie das Fehlen der Vermittlung von Angst- und Stressbewältigungstechniken
Fehler im System seien, da sie sich negativ auf das Leistungsvermögen
auswirken. Betrachtet man aber noch weitere Funktionen von Prüfungen,
dann wird schnell deutlich, dass diese Strukturen beabsichtigt sind. Erfolg durch extraqualifikatorische Fähigkeiten Die geschlechts- und schichtspezifische Selektion erfolgt beispielsweise
dadurch, dass in Hochschulprüfungen auch so genannte extraqualifikatorische
Fähigkeiten geprüft werden. Die Fähigkeiten werden als extraqualifikatorisch
bezeichnet, weil sie nicht im Studium gelehrt werden, gleichwohl für das
erfolgreiche Absolvieren der Prüfung maßgeblich sind. Zu diesen Qualifikationen
zählen beispielsweise Fähigkeiten wie Selbstbewusstsein, Durchsetzungsvermögen,
Standfestigkeit, Selbstständigkeit, Leistungsorientierung, Systemkonformität,
Anpassung an Autoritäten, und sprachliche Eleganz.10 Prüfungsangst dient
als Mittel, die Prüflinge in einen Zustand der Identitätsverunsicherung
zu versetzen. Dadurch wird das Stadium der bisherigen Sozialisation bloßgelegt.
Die extraqualifikatorischen Fähigkeiten werden sichtbar und sind für die
Bewältigung der Verunsicherung notwendig. Für ein erfolgreiches Bestehen
der Prüfung wird erwartet, dass die ExamenskandidatInnen selbstbewusst,
durchsetzungsfähig und wortgewandt reagieren. Schließlich bilden sie dem
Verständnis der Gesellschaft zufolge die zukünftige Elite. Sie werden
gehobene Positionen innehaben und Macht über andere Personen ausüben.
Von den zukünftigen Führungskräften wird gefordert, dass sie in der Prüfungssituation
keine Angst haben. Sie sollen sich nicht am Boden zerstört den PrüferInnen
unterwerfen, sondern ihnen demonstrieren, dass sie die Angst überwunden
haben oder jedenfalls diesen Eindruck erwecken. In diesem Sinne ist das
erste juristische Staatsexamen also eine Art Mutprobe. Am Aspekt Prüfung
als Mutprobe wird die geschlechtsspezifische Selektion sichtbar. Die Angst
verursachenden Rahmenbedingungen des Prüfungssystems begünstigen Eigenschaften,
wie z.B. Selbstbewusstsein, Durchsetzungsvermögen, Mut und Standfestigkeit,
die typischerweise Männern zugeschrieben werden. Fähigkeiten wie das selbstkritische
Hinterfragen der eigenen Fähigkeiten, Zurückhaltung und Nachdenklichkeit
wirken dagegen hinderlich, obwohl insbesondere die Fähigkeit zur Selbstkritik
für viele Berufe dringend erforderlich ist. Identifikation mit dem System Ein interessantes Phänomen ist, dass sich mit dem Erfolg im Examen häufig
auch das Bewusstsein verändert. Vor der Prüfung leidet der Prüfling unter
Prüfungsangst, zweifelt an seinen Fähigkeiten und glaubt, dass das Examensergebnis
zu einem guten Teil vom Zufall abhänge und nicht unbedingt Auskunft über
seine tatsächlichen Fähigkeiten gebe. Nach dem Bestehen entsteht die Überzeugung,
dass das Ergebnis der Prüfung durch die eigene Leistung zustande gekommen
sei. Das Erlebnis der Mutprobe verändert das Bewusstsein. Dies wird bei
den AbsolventInnen des höheren Bildungswesens besonders deutlich. Die
Bewährung in den zahlreichen Prüfungssituationen erzeugt das Bewusstsein,
dass der Zugang zur Universität und der erfolgreiche akademische Abschluss
auf individueller Leistung beruhen und deshalb die zukünftige Einnahme
einer privilegierten Position in der Gesellschaft rechtfertigt. Funktion
und Kriterien der Prüfungen werden dann nicht mehr reflektiert - der akademische
Ausbildungsgang gilt als hinreichender Qualifikationsnachweis für die
Zugehörigkeit zur Führungsschicht.11 Die Erfahrung, die bedrohliche und
Angst erregende Situation der Prüfung überstanden und in einer Bewährungsprobe
Erfolg gehabt zu haben, stärkt die eigene Identität und lässt die mit
dem Prüfungserfolg verliehenen Privilegien als gerechtfertigt erscheinen.
Diese Sichtweise wird vom Prüfungswesen noch dadurch verstärkt, dass es
eher Persönlichkeitsmerkmale prämiert, die als Erfolgstüchtigkeit im Gegensatz
zur Leistungstüchtigkeit bezeichnet werden. Leistungstüchtigkeit bezeichnet
all jene Eigenschaften und Verhaltensweisen, die sich in den sachlichen
und sozialen Leistungsanforderungen beispielsweise intellektueller Arbeit
positiv auswirken. Erfolgstüchtigkeit meint dagegen all die Eigenschaften
und Verhaltensweisen, die auf die Durchsetzung der Leistung und zuletzt
der eigenen Persönlichkeit gerichtet sind. Erfolgreiche ExamenskandidatInnen
zeichnen sich also unter anderem durch starke Erfolgshoffnung, geringe
Misserfolgsfurcht, Ausdauer, konfliktarme Sozialisation, Anpassungsbereitschaft
und Vertrauen aus. Die solchermaßen charakterisierten erfolgreichen ExamenskandidatInnen
identifizieren sich leicht mit den Privilegien und Machtbefugnissen der
von ihnen nach der Prüfung einzunehmenden Positionen. Sie identifizieren
sich aber auch mit den Quellen des Erfolges: mit dem Examens- und Bildungssystem.
Denn wenn das Examens- und Bildungswesen grundlegend verändert würde,
könnten sie nicht mehr legitimerweise auf ihre Privilegien pochen. Der
Erfolg im Examen macht die KandidatInnen so zu VerfechterInnen des bestehenden
Prüfungswesens. Viele erfolgreiche JuristInnen glorifizieren so im Nachhinein
ihre Examenszeit nach dem Motto: "Erst im Examen habe ich richtig arbeiten
gelernt". Prüfung als Initiationsritus Prüfung als Mutprobe und die mit ihr bezweckte Identifikation mit dem
System definieren das eigentliche Wesen von Prüfungen als Initiationsritual. Lasst euch nicht klein kriegen Zwar ist die Bewältigung des Examens schwierig, aber man kann es schaffen. Es ist möglich, sich wichtige extraqualifikatorische Kompetenzen wie z.B. Strategien zur Angstbewältigung anzueignen, wenn man die Eigenschaften der "Erfolgstüchtigen" in seiner bisherigen Sozialisation nicht mitbekommen hat. Die psychologischen Beratungsstellen an den Universitäten sind im Umgang mit Prüfungsangst geschult. Außerdem ist es möglich, die Angst - wenn sie übermächtig wird - im Rahmen einer Therapie abzubauen. Die Beschäftigung mit Prüfungsangst sollte aber nicht nur darin bestehen, sich individuell auf die Anforderungen des Prüfungs- und Gesellschaftssystems einzustellen, denn damit perpetuieren sich die Strukturen auf ewig und das Individuum lebt weiterhin in dem Gefühl, der Fehler liege bei ihm/ihr und nicht im System. Um diese Sichtweise zu verändern ist es absolut wichtig, die gesellschaftliche Dimension von Prüfungsangst zu sehen. Sie ist kein ausschließlich individuelles Problem. Sie ist strukturell bedingt und gewollt. Sie steht im Dienste bestimmter Ziele und ist im Hinblick auf diese funktional. Um zu verhindern, dass Generation um Generation von Prüflingen durch das Prüfungswesen auf Kurs gebracht wird, ist es notwendig darüber nachzudenken, wie die Strukturen des Prüfungssystems verändert werden können. Das schließt ein Nachdenken über die Veränderung der Rahmenbedingungen des Bildungswesens, die Rolle von AkademikerInnen in unserer Gesellschaft und den Modus der Vergabe von Privilegien mit ein. Lena Dammann arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Hamburg. Anmerkungen: 1 Vgl. z.B. Bickel / Fabricius / Lippmann u.a., 2004. Literatur Berge, Achim / Rath, Christian / Wapler, Friederike, Examen ohne
Repetitor, 2001. |