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Die Beweiserhebung im Strafprozess durch richterlichen Augenschein erfolgt
gemäß der gängigen Kommentierung über "jede sinnliche Wahrnehmung", also
durch "Sehen, Hören, Riechen, Schmecken oder Fühlen". Bisweilen geschieht
dies aber offensichtlich ohne zu denken.
So hat das Amtsgericht Tübingen im Falle des Politik- und Geschichtsstudenten
Patrick H. einen auf den Rucksack gestickten Button mit durchgestrichenem
Hakenkreuz als Verwenden eines verfassungswidrigen Kennzeichens nach §
86a Strafgesetzbuch interpretiert und den 21-Jährigen dazu verurteilt,
200 € an die Gedenkstätte Buchenwald zu zahlen. Den dicken Strich durch
das Nazi-Symbol scheint das Gericht bei der Rechtsfindung jedoch nicht
berücksichtigt zu haben. "Durchstreichen" bedeutet nämlich nicht nur umgangssprachlich,
sondern auch dem Duden nach, etwas "ungültig zu machen". So hatten zumindest
die Passanten in Tübingen, wo H. anlässlich einer Demo von der Polizei
angezeigt wurde, kein Problem, den Aussagegehalt des Buttons richtigerweise
als "eindeutig - eindeutig dagegen, gegen rechts, gegen Nazis" zu deuten.
Es ist zugunsten des Gerichts nicht zu unterstellen, dass es H. für einen
verkappten Faschisten hielt. Vielmehr hatte es sich darauf versteift,
dass es bei der Anwendung der Strafnorm nicht auf die Meinung des Trägers
ankomme, sondern lediglich wie diese auf andere wirke. Wen das Amtsgericht
Tübingen dabei im Hinterkopf hatte, ließ es ebenfalls durchblicken: "Japanische
Touristen" und "normale Menschen". Von Letzteren lieferte es eine Definition
gleich mit, das seien nämlich solche, die "sich nicht gezielt damit beschäftigt"
hätten. Ob das eine wünschenswerte Normalität ist, soll mal dahingestellt
bleiben. Zu Lasten des Gerichts ist jedoch in jedem Fall zu werten, dass
es die Zielbestimmung des § 86a nicht verstanden hat. Das Amtsgericht
folgt in seiner Entscheidung nämlich einer rein formalen Ausgrenzungslogik
in Form einer abstrakten Tabuisierung, die jedes indizierte Zeichen, also
auch das durchgestrichene, aus dem Blickfeld bannen möchte. Da der Strafparagraf
das Spannungsverhältnis zur grundgesetzlich geschützten Meinungsfreiheit
jedoch ohnehin bereits in (un-)gehörigem Maße strapaziert, hätte bei seiner
Anwendung der Äußerungs- und Handlungskontext unbedingt berücksichtigt
werden müssen. Künstlerische Kritik, Diskurs und die eine moderne Gesellschaft
prägende formale Offenheit der Kommunikation sind ansonsten nicht mehr
gewährleistet. Dies hatte der Bundesgerichtshof bereits vor über 30 Jahren
so entschieden.
So schön das Bild der Justitia mit Waage, Richtschwert und Augenbinde
bisweilen auch sein mag, so sehr hätte man sich gewünscht, dass sie in
diesem Fall doch etwas genauer hingesehen hätte.
Bilal Alkatout, Berlin
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