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Frau Asmarou ist im Jahr 2001 aus dem Irak nach Deutschland geflohen.
Als Christin lebte sie in Bagdad und war dort massiven Verfolgungen ausgesetzt.
Im November 2001 wurde sie als Flüchtling gemäß § 51 Abs. 1 Ausländergesetz
(AuslG) anerkannt. Im September 2004 hat das Bundesamt den Flüchtlingsstatus
von Frau Asmarou widerrufen. Das Bundesamt stützt den Widerruf darauf,
dass sich die politische Situation im Irak durch den Sturz des Saddam
Hussein-Regimes grundsätzlich verändert habe. Von dem Regime Saddam Husseins
könne keine Verfolgung mehr ausgehen. Von der Übergangsregierung im Irak
würde ebenso wenig eine politische Verfolgung ausgehen. Dass Frau Asmarou
als Christin massiven Gefahren im Irak ausgesetzt ist, lässt das Bundesamt
nicht gelten. Zwar zitiert der Bescheid u.a. sogar Berichte, wonach es
im August 2004 zu Anschlagsserien auf christliche Kirchen in Bagdad und
Mossul kam. Jedoch wird sodann lapidar festgestellt, dass aus diesen Vorfällen
noch nicht auf generelle Übergriffe auf religiöse Minderheiten zu schließen
sei.
Das Schicksal von Frau Asmarou ist kein Einzelfall. So wie ihr erging
es in den vergangenen Jahren zahlreichen Flüchtlingen, die die berechtigte
Hoffnung hegten, in Deutschland eine sichere Zuflucht gefunden zu haben.
In europaweit einmaligen Massenverfahren widerruft das Bundesamt seit
einiger Zeit die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft gegenüber ganzen
Personengruppen, die vormals als verfolgt galten.
Der Widerruf des Flüchtlingsstatus kann gravierende Auswirkungen auf das
Aufenthaltsrecht haben. Ist der Flüchtlingsstatus erst einmal widerrufen,
ist auch der Aufenthaltstitel in Gefahr. Zwar verliert der Betroffene
sein Aufenthaltsrecht nicht automatisch, jedoch folgt dem flüchtlingsrechtlichen
Widerruf häufig der Widerruf des Aufenthaltsrechts durch die hierfür zuständige
Ausländerbehörde. Konsequenz hieraus ist der prekäre Status der Duldung
und die drohende Abschiebung in den Herkunftsstaat.
Die Ausweitung der Widerrufsverfahren kann nicht isoliert betrachtet werden,
sondern reiht sich ein in eine insgesamt restriktiver werdende Flüchtlingspolitik.
Diese hat sich bislang vor allem in drei Aspekten geäußert. Erstens ist
der tatsächliche Zugang zum Territorium Deutschlands als Aufnahmestaat
durch den technischen Ausbau der europäischen Grenzkontrollen einerseits
und die auf fast alle Herkunftsstaaten ausgedehnte Visapflicht andererseits
immer schwieriger geworden. Zweitens haben zahlreiche verfahrens- und
materiellrechtliche Verschärfungen die Chance, als schutzbedürftig anerkannt
zu werden, stetig verringert. Drittens sind die Lebensbedingungen für
Asylsuchende während des Asylverfahrens sowie nach dessen erfolglosem
Ende zunehmend schlechter geworden - zermürbend wirken insbesondere die
Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften fernab jeder Urbanität, die
Versorgung durch Sachleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz sowie
Arbeitsverbote, die die Betroffenen zur Untätigkeit und wirtschaftlichen
Unselbständigkeit verurteilen.
Durch die zunehmende Anwendung des Widerrufs werden die beschriebenen
Mechanismen um einen neuen Bestandteil ergänzt. Selbst Flüchtlinge, die
es unter den restriktiveren gesetzlichen Bedingungen geschafft haben,
als schutzbedürftig anerkannt zu werden, werden darauf hin überprüft,
ob sie in ihren Herkunftsstaat zurückgeschickt werden können. Der Widerrufspraxis
kommt damit die Funktion der rückwirkenden Abschottung zu. Daneben wird
auch der Status des Flüchtlings als solcher entwertet, weil er keinen
dauerhaften Schutz verheißt, sondern das Damoklesschwert des Widerrufs
über ihm schwebt.
Aus Sicht des internationalen Flüchtlingsrechts ist die deutsche Widerrufspraxis
scharf zu kritisieren. Bereits die Masse von über 30.000 Widerrufen in
den letzten drei Jahren erweckt Misstrauen. Dass dieses Misstrauen gerechtfertigt
ist, wird offenbar, wenn man die Kriterien der Genfer Flüchtlingskonvention
zugrunde legt. Denn die Mehrzahl der Verfahren ist völkerrechtswidrig.
Dies wird im folgenden begründet.
Widerrufe im Massenverfahren
Gemäß § 73 Abs. 1 S. 1 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) sind die Anerkennung
als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des
§ 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) vorliegen, unverzüglich zu widerrufen,
wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dahinter steht
die Idee, dass der Aufnahmestaat einem Flüchtling aus einem anderen Staat
nur solange Schutz vor Verfolgung bieten muss, wie er diesen Schutz im
Herkunftsstaat nicht erlangen kann.
In der Vergangenheit wurde die Vorschrift verhältnismäßig selten angewandt.
Ein Widerruf erging insbesondere dann, wenn ein Einbürgerungsantrag gestellt
wurde oder aber wenn die Familie aus dem Ausland nachgeholt werden sollte.
Die zuständigen Einbürgerungs- oder Ausländerbehörden haben das Bundesamt
benachrichtigt und aufgefordert, das Fortbestehen des Flüchtlingsstatus
zu überprüfen. Diese Anlässe haben mit der Frage des Widerrufs im Grunde
nichts zu tun. Sie sind vielmehr Ausdruck einer abwehrenden Haltung, die
die Integrationsbereitschaft von Flüchtlingen mit der Einleitung eines
Widerrufsverfahrens bestraft.
Erst seit wenigen Jahren spielen Widerrufe als Massenphänomen in der deutschen
Asylpraxis eine Rolle. Die Zahl der Widerrufe ist in den letzten Jahren
drastisch gestiegen. Während 1998 gegenüber 577 Flüchtlingen ein Widerruf
ergangen ist, waren es im Jahr 2003 bereits über 8.000. Im Jahr 2004 hat
sich die Zahl beinahe verdoppelt: Fast 15.000 Flüchtlingen haben ihren
Flüchtlingsstatus verloren. Zählt man die Widerrufe gegenüber Personen
hinzu, bei denen vorher das Vorliegen eines Abschiebehindernisses nach
§ 53 AuslG festgestellt worden war, waren es sogar fast 17.000. Im Jahr
2005 waren die Zahlen wieder leicht rückläufig - ca. 11.000 Personen haben
ihren Schutzstatus verloren.
Die Massenverfahren werden bislang vor allem gegenüber Flüchtlingen aus
dem Kosovo und dem Irak durchgeführt. Im Jahr 2004 wurde für beide Gruppen
ca. 7.000 Mal der Flüchtlingsstatus widerrufen. Bei den Kosovo-Flüchtlingen
kamen rund 1.300 Widerrufe des Abschiebungsschutzes nach § 53 AuslG hinzu.
Im Jahr 2005 hat sich dieser Trend für irakische Flüchtlinge mit ca. 7.000
Widerrufen ungebrochen fortgesetzt. Deutlich zurück gingen die Widerrufe
gegenüber kosovarischen Flüchtlingen mit knapp über 1.000 im Jahr 2005.
Flüchtlinge aus der Türkei sind mit über 500 Widerrufen im Jahr 2005 die
drittgrößte Betroffenengruppe. Afghanischen Flüchtlingen wurde im selben
Zeitraum 270 Mal der Schutzstatus entzogen.
Ist der Flüchtlingsstatus entzogen, droht auch der Verlust des Aufenthaltsrechtes
und die Abschiebung. Während Flüchtlingen aus dem Kosovo, aus Afghanistan
oder der Türkei die Abschiebung schon heute droht, ist das Schicksal der
irakischen Flüchtlinge noch ungewiss. Noch gilt grundsätzlich ein Abschiebestopp.
Die Innenminister der Länder drängen jedoch immer mehr darauf, auch in
den Irak abzuschieben.
Zuwanderungsgesetz: Widerruf institutionalisiert
War die neue Widerrufspraxis bislang rechtliches Experimentierfeld, wurde
durch das Zuwanderungsgesetz die Rechtsgrundlage für eine stärkere Institutionalisierung
des Widerrufs geschaffen. Der Gesetzgeber hat Fragen des Aufenthalts und
des Widerrufs nun eng mit einander verzahnt. Das neue Recht sieht für
Asylberechtigte und Konventionsflüchtlinge zunächst eine befristete Aufenthaltserlaubnis
vor. Erst drei Jahre nach der Anerkennung sollen sie eine unbefristete
Niederlassungserlaubnis erhalten. Damit allerdings dieser Daueraufenthalt
erlaubt werden kann, muss zuvor das Bundesamt mitgeteilt haben, dass das
Schutzbedürfnis des Flüchtlings fortbesteht und die Voraussetzungen für
einen Widerruf nicht vorliegen. Die Beteiligung des Bundesamtes an aufenthaltsrechtlichen
Verfahren wurde also gesetzlich institutionalisiert.
Es ist zu befürchten, dass diese neuen gesetzlichen Vorgaben stärker noch
als bisher zu einer routinemäßigen und schematischen Anwendung der Widerrufsverfahren
führen werden. Der Flüchtlingsschutz in Deutschland entwickelt sich immer
mehr zu einem Schutzkonzept nur noch auf Zeit.
Völkerrechtliche Grundlagen
Der Widerruf der Flüchtlingsanerkennung findet sich nicht nur im deutschen
Recht, sondern hat seine Wurzeln im Völkerrecht. Die Genfer Flüchtlingskonvention
(GFK), bei der es sich um den zentralen Vertrag im Flüchtlingsvölkerrecht
handelt, erkennt die Möglichkeit an, dass eine Person ihre Flüchtlingseigenschaft
verliert, weil sich die Verhältnisse in ihrem Herkunftsstaat geändert
haben.
Indem nun das Bundesamt und viele Gerichte sich bei der Prüfung der Widerrufsvoraussetzungen
damit begnügen, erneut wie beim Asylerstverfahren zu prüfen, ob eine "politische
Verfolgung" gegeben ist, lassen sie unberücksichtigt, dass § 73 Abs. 1
AsylVfG im Lichte des Art. 1 C Abs. 5 GFK auszulegen ist. Denn die Bundesrepublik
ist als Vertragsstaat der GFK verpflichtet, deren Bestimmungen im Rahmen
der innerstaatlichen Rechtssetzung und -anwendung umzusetzen.
Nach Art. 1 C Abs. 5 GFK kann sich eine Person nicht mehr auf den Schutz
nach der GFK berufen, "wenn sie nach Wegfall der Umstände, auf Grund derer
sie als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann,
den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit
sie besitzt" (Wegfall-der-Umstände-Klausel).
Deutschland muss als Vertragsstaat der GFK deren rechtliche Maßstäbe für
die Beendigung des Flüchtlingsstatus beachten. Dass in der deutschen Praxis
die GFK häufig nur ungenügend berücksichtigt wird, soll für die Praxis
des Bundesamtes anhand des eingangs zitierten Bescheides an Frau Asmarou
verdeutlicht werden. Was also sind die völkerrechtlichen Anforderungen,
die im Bescheid an Frau Asmarou zu beachten gewesen wären?
Zunächst besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass Absatz 5 äußerst
restriktiv zu handhaben ist. Denn der Wegfall der Flüchtlingseigenschaft
führt unter anderem dazu, dass das Verbot der Ausweisung und Zurückweisung,
das sog. Gebot des non-refoulment, entfällt. Führt man sich vor Augen,
welche Gefahren einem Flüchtling bei verfrühter Rückkehr drohen können,
so muss nicht nur dem rechtlichen Ansatz einer restriktiven Interpretation
gefolgt werden. Vielmehr muss auch auf Ebene der Tatsachenwürdigung im
Zweifel gegen die Anwendung der Wegfall-der-Umstände-Klausel entschieden
werden.
Für deren Prüfung hat der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen
(UNHCR) drei Tatbestandsmerkmale entwickelt, die in der Literatur einhellige
Anerkennung gefunden haben: Es muss erstens zu einer grundlegenden Veränderung
im Herkunftsstaat gekommen sein. Zweitens muss diese dauerhaft und stabil
sein. Drittens muss für den Flüchtling die Wiederherstellung effektiven
Schutzes durch den Herkunftsstaat gewährleistet sein.
Grundlegende Veränderung
Zur ersten Voraussetzung: Die Veränderungen, die sich im Herkunftsland
ergeben haben, müssen grundlegender Natur sein. Das erfordert eine umfassende
Analyse der politischen Situation im Heimatstaat. Die grundlegende Veränderung
erfordert einen grundlegenden Transformationsprozess, der typischerweise
in einem Regierungswechsel zum Ausdruck kommt. Besonderes Gewicht kommt
der Menschenrechtssituation im Herkunftsstaat zu. Zu berücksichtigen sind
Aspekte wie die Durchführung freier Wahlen, der Beitritt zu Menschenrechtsabkommen,
die Achtung und der Schutz von Menschenrechten durch staatliche Stellen
und die Zulassung unabhängiger nationaler oder internationaler Organisationen
zur Überwachung der Menschenrechte. Zwar wird keine vorbildliche Menschenrechtssituation
wie in gefestigten rechtsstaatlichen Demokratien gefordert. Gleichwohl
müssen Prozesse erkennbar sein, die eine deutliche Abkehr von der bisherigen
Missachtung der Menschenrechte erkennen lassen. Indizien für solche Prozesse
können Änderungen von Verfassung und Gesetzen, Amnestien, Rücknahme repressiver
Gesetze und der Abbau bestehender repressiver administrativer Apparate
wie Geheimpolizeien oder Sicherheitsdiensten sein.
Entscheidend aber ist, dass Flüchtlingsschutz Individualschutz ist. Die
beschriebenen Entwicklungen müssen daher über eine rein generalisierende
Betrachtung hinaus analysiert werden: Führen sie im konkreten Fall dazu,
dass die konkreten Umstände, die zur Verfolgung beim betroffenen Flüchtling
oder der betroffenen Flüchtlingsgruppe geführt haben, entfallen sind?
Im Falle des Irak könnte man einen grundlegenden Wechsel zwar im Sturz
Saddam Husseins, der Verabschiedung einer Verfassung und der Durchführung
erster freier Wahlen sehen. Allerdings steht dem entgegen, dass ehemalige
Herrschaftsstrukturen nicht gänzlich zerschlagen sind, in weiten Teilen
des Irak bürgerkriegsartige Zustände herrschen und angesichts der chaotischen
Zustände weder das vollständige Verschwinden alter Verfolgungsgefahren
noch die Abwesenheit neuer Verfolgungsgefahren als gesichert gelten können.
Mit all dem hat sich der eingangs zitierte Bescheid nicht auseinandergesetzt.
Ebenso wenig hat er sich mit der Frage der individuellen Situation von
Frau Asmarou als Christin auseinandergesetzt.
Stabilität und Dauerhaftigkeit der Veränderung
Zur zweiten Voraussetzung: Die beschriebenen Verhältnisse müssen sich
konsolidieren. Es darf vernünftigerweise nicht mehr mit dem Wiederaufleben
der ursprünglichen Fluchtgründe oder der Entstehung neuer Fluchtgründe
gerechnet werden können. Eine Situation, die nach wie vor in Veränderung
ist oder neue Anzeichen von Instabilität erkennen lässt, ist nicht stabil.
Daher muss insbesondere in Fällen, in denen es zu einem Regierungswechsel
gekommen ist, abgewartet werden, bis über einen formalen Wechsel hinaus
neue, stabile Machtstrukturen existieren.
Doch welcher Zeitraum ist dabei abzuwarten? Das ist abhängig von den Umständen,
unter denen die Änderungen erfolgen. Der UNHCR hat vielfach Regierungen
beraten. Dabei hat sich ein Rahmen von 12 bis 18 Monaten als Minimum herausgebildet.
Dies gilt allerdings nur, wenn sich die beschriebenen Änderungen friedlich
und im Rahmen eines verfassungsmäßigen Verfahrens vollzogen haben. Die
Lage ist anders, wenn die Veränderungen durch kriegerische Auseinandersetzungen
erfolgt sind. Hier muss angesichts der anschließend regelmäßig existierenden,
von Gewalt geprägten gesellschaftlichen Lage dem Friedensprozess Zeit
eingeräumt und der Wiederaufbau des Landes abgewartet werden. Der UNHCR
geht hier in seiner Praxis von mehreren Jahren aus.
Dass auch die zweite genannte Voraussetzung für den Fall des Irak als
nicht gegeben angesehen werden muss, liegt auf der Hand: Die ersten der
2004 ergangenen Bescheide folgten zeitlich unmittelbar auf den Sturz von
Saddam Hussein. Im Irak finden bis zum jetzigen Zeitpunkt Gefechte zwischen
Loyalisten der ehemaligen Regierung und Truppen der US-amerikanischen
Armee statt. Die Verhältnisse, in die Frau Asmarou zurückgeschickt werden
soll, sind mithin weit davon entfernt, stabil im oben genannten Sinne
zu sein. Auch hiermit setzt sich der Bescheid nicht auseinander.
Effektive Schutzgewährung im Herkunftsstaat
Zur dritten Voraussetzung: Es reicht nicht, dass die Sicherheit des Flüchtlings
nicht bedroht ist. Es muss vielmehr gewährleistet sein, dass er den Schutz
seines Herkunftslandes tatsächlich und effektiv wieder in Anspruch nehmen
kann. Hierfür muss der Staat sowohl schutzwillig als auch schutzfähig
sein. Gerade dieser Aspekt wird in der Staatenpraxis oft vernachlässigt
wird. Innerstaatliche Behörden und Gerichte begnügen sich häufig zu früh
mit einem formalen Regierungswechsel, ohne sich mit den tatsächlichen
Folgen in der Praxis zu beschäftigen. So auch im Falle von Frau Asmarou.
In dem an sie ergangenen Bescheid finden sich auch hierzu keine Ausführungen,
obwohl weder ein funktionierendes Justizwesen noch eine Exekutive existieren,
die effektiven Schutz gewährleisten.
BVerwG und Völkerrecht: Ein klares Jein
In Reaktion auf die Widerrufspraxis des Bundesamtes sahen sich die Verwaltungsgerichte
mit zahlreichen Klagen konfrontiert. Während die Mehrheit der unterinstanzlichen
Gerichte die Widerrufsentscheidungen des Bundesamtes mittrug, hoben einige
Verwaltungsgerichte die Widerrufsbescheide, bezogen auf irakische Flüchtlinge,
auf. Mit entsprechender Spannung wurde im November 2005 ein Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) erwartet, in dem es über die Voraussetzungen
des Widerrufs entschied.
Entgegen der bis dahin vertretenen Auffassung verschiedener Gerichte stellt
das BVerwG fest, dass § 73 AsylVfG anhand der GFK auszulegen ist. Damit
bereitet es zwar den Weg, um die deutsche Praxis an völkerrechtliche Standards
anzupassen. Es orientiert sich auch an den von UNHCR geforderten Kriterien,
obwohl dies nicht direkt ausgesprochen wird. Allerdings legt es insbesondere
das Kriterium des staatlichen Schutzes sehr eng aus. Demnach solle sich
die Inanspruchnahme staatlichen Schutzes allein auf den Schutz vor erneuter
Verfolgung im Sinne von Art. 1 A Abs. 2 GFK beziehen. Verfolgung im genannten
Sinne muss den Betroffenen "wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität,
Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen
Überzeugung" drohen - wer von allgemeinen Gefahren bedroht ist, wie sie
sich aus Kriegen, Naturkatastrophen oder einer schlechten Wirtschaftslage
ergeben, ist kein Flüchtling im Sinne der GFK, weil es an der Anknüpfung
an einen der genannten Diskriminierungstatbestände fehlt.
Nach dem BVerwG ist also ein Widerruf möglich, wenn die betroffene Person
anhand der Lage im Herkunftsland zwar nicht als Flüchtling anerkannt werden
könnte, aber trotzdem wegen allgemeiner Gefahren nicht dorthin zurückkehren
kann. Das BVerwG sieht sie zwar nicht mehr als Flüchtling an, schlägt
aber vor, ihnen Schutz nach den allgemeinen Bestimmungen des Ausländerrechts,
insbesondere § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG und § 60 a Abs. 1 S. 1 AufenthG,
zu gewähren. Doch Schutz ist nicht gleich Schutz: Während einem Flüchtling
im Sinne von Art. 1 GFK bzw. der Umsetzungsnorm des § 60 Abs. 1 AufenthG
zahlreiche Rechte wie ein längerfristiger Aufenthaltsstatus oder eine
Arbeitserlaubnis einzuräumen sind, werden subsidiär Schutzberechtigte
meist auf eine prekäre Lebenssituation verwiesen. Das gilt insbesondere,
wenn sie lediglich geduldet sind und damit in kurzfristigen Zeitabständen
mit der Abschiebung rechnen müssen und ihnen der Zugang zum Arbeitsmarkt
verwehrt wird.
Damit folgt das BVerwG der Logik eines Gastgebers, der seinen Gast auffordert,
schon mal draußen im unbeheizten Flur zu warten, bis die Bahn kommt -
obwohl der Bahnhof brennt. Das widerspricht dem Ziel der GFK, Flüchtlinge
nicht auf eine unsichere und perspektivlose Übergangssituation in der
Fremde zu verweisen, sondern ihnen bestimmte Rechte einzuräumen und ihre
Integration zu befördern, wie es auch Art. 34 GFK fordert.
Ausweg Europa?
Offen bleibt die weitere Entwicklung angesichts des Einflusses der sogenannten
Qualifikationsrichtlinie der EU, die Deutschland bis Oktober 2006 umsetzen
muss. Wird das EU-Recht die deutsche Praxis zu einer Annäherung an internationale
Standards zwingen?
Die Richtlinie folgt dem Wortlaut der GFK und ergänzt ihn um die drei
genannten Auslegungskriterien. Die Bundesregierung hat im Frühjahr 2006
bereits eine entsprechende Gesetzesvorlage entworfen, in der vorgesehen
ist, den GFK-Wortlaut zu übernehmen.
Allerdings trifft die Richtlinie keine Aussage zur hier erörterten Frage
des staatlichen Schutzes. Demnach kann die deutsche Rechtsprechung zunächst
an der Auslegung des BVerwG festhalten, ohne sich in unmittelbaren Widerspruch
zum Wortlaut der Richtlinie zu setzen. Was also bleibt, wenn man den Einfluss
Europas auf das nationale Flüchtlingsrecht dennoch als strategische Chance
nutzen möchte?
Zum einen hat die Diskussion über die genannte Gesetzesvorlage gerade
erst begonnen. Demnach ist auf der politischen Forderung nach einer Klarstellung
zu beharren, die die staatliche Schutzgewährung auch auf allgemeine Gefahren
bezieht. Da dies jedoch politisch leider wenig realistisch ist, dürfte
die langfristige Perspektive viel versprechender sein: Mit der Schaffung
einer gemeinsamen europäischen Flüchtlingspolitik hat der Europäische
Gerichtshof (EuGH) Rechtsprechungskompetenz über den Bereich des Flüchtlingsrechts
erhalten. Gem. Art. 68 Abs. 1 EG-Vertrag (EGV) sind zwar nur höchstinstanzliche
Gerichte zur Vorlage nach Art. 234 EGV berechtigt. Gleichwohl wird der
EuGH langfristig mit flüchtlingsrechtlichen Fragen befasst sein. Da Art.
63 EGV ebenso wie die Qualifikationsrichtlinie auf die GFK verweist, ist
der EuGH zu einer völkerrechtskonformen Auslegung verpflichtet. Also bleibt
die Hoffnung, dass ihm die hier diskutierte Frage vorgelegt wird und er
zu einem anderen Ergebnis als das BVerwG kommt.
Tillmann Löhr ist Rechtsassessor und arbeitet als wissenschaftlicher
Mitarbeiter am Lehrstuhl für Völkerrecht und Europarecht der Universität
in Frankfurt am Main.
Marei Pelzer ist Rechtsassessorin und arbeitet als rechtspolitische Referentin
für die Flüchtlingsorganisation PRO ASYL in Frankfurt am Main.
Literatur
Marx, Reinhard, Widerruf wider das Völkerrecht, in: InfAuslR
2005, 218 - 227.
PRO ASYL, Broschüre Flüchtlingsschutz mit Verfallsdatum? Zahlen,
Fakten & Hintergründe, Rechtliche Grundlagen, Praktische Erfahrungen,
siehe: "http://www.proasyl.de"
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