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Rückwirkende Abschottung   Heft 2/2006
Zwischen Wir und Ich:
Europäische Idee und nationale Interessen
Seite 56-59
Widerruf der Flüchtlingsanerkennung wider das Völkerrecht  
 

Frau Asmarou ist im Jahr 2001 aus dem Irak nach Deutschland geflohen. Als Christin lebte sie in Bagdad und war dort massiven Verfolgungen ausgesetzt. Im November 2001 wurde sie als Flüchtling gemäß § 51 Abs. 1 Ausländergesetz (AuslG) anerkannt. Im September 2004 hat das Bundesamt den Flüchtlingsstatus von Frau Asmarou widerrufen. Das Bundesamt stützt den Widerruf darauf, dass sich die politische Situation im Irak durch den Sturz des Saddam Hussein-Regimes grundsätzlich verändert habe. Von dem Regime Saddam Husseins könne keine Verfolgung mehr ausgehen. Von der Übergangsregierung im Irak würde ebenso wenig eine politische Verfolgung ausgehen. Dass Frau Asmarou als Christin massiven Gefahren im Irak ausgesetzt ist, lässt das Bundesamt nicht gelten. Zwar zitiert der Bescheid u.a. sogar Berichte, wonach es im August 2004 zu Anschlagsserien auf christliche Kirchen in Bagdad und Mossul kam. Jedoch wird sodann lapidar festgestellt, dass aus diesen Vorfällen noch nicht auf generelle Übergriffe auf religiöse Minderheiten zu schließen sei.
Das Schicksal von Frau Asmarou ist kein Einzelfall. So wie ihr erging es in den vergangenen Jahren zahlreichen Flüchtlingen, die die berechtigte Hoffnung hegten, in Deutschland eine sichere Zuflucht gefunden zu haben. In europaweit einmaligen Massenverfahren widerruft das Bundesamt seit einiger Zeit die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft gegenüber ganzen Personengruppen, die vormals als verfolgt galten.
Der Widerruf des Flüchtlingsstatus kann gravierende Auswirkungen auf das Aufenthaltsrecht haben. Ist der Flüchtlingsstatus erst einmal widerrufen, ist auch der Aufenthaltstitel in Gefahr. Zwar verliert der Betroffene sein Aufenthaltsrecht nicht automatisch, jedoch folgt dem flüchtlingsrechtlichen Widerruf häufig der Widerruf des Aufenthaltsrechts durch die hierfür zuständige Ausländerbehörde. Konsequenz hieraus ist der prekäre Status der Duldung und die drohende Abschiebung in den Herkunftsstaat.
Die Ausweitung der Widerrufsverfahren kann nicht isoliert betrachtet werden, sondern reiht sich ein in eine insgesamt restriktiver werdende Flüchtlingspolitik. Diese hat sich bislang vor allem in drei Aspekten geäußert. Erstens ist der tatsächliche Zugang zum Territorium Deutschlands als Aufnahmestaat durch den technischen Ausbau der europäischen Grenzkontrollen einerseits und die auf fast alle Herkunftsstaaten ausgedehnte Visapflicht andererseits immer schwieriger geworden. Zweitens haben zahlreiche verfahrens- und materiellrechtliche Verschärfungen die Chance, als schutzbedürftig anerkannt zu werden, stetig verringert. Drittens sind die Lebensbedingungen für Asylsuchende während des Asylverfahrens sowie nach dessen erfolglosem Ende zunehmend schlechter geworden - zermürbend wirken insbesondere die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften fernab jeder Urbanität, die Versorgung durch Sachleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz sowie Arbeitsverbote, die die Betroffenen zur Untätigkeit und wirtschaftlichen Unselbständigkeit verurteilen.
Durch die zunehmende Anwendung des Widerrufs werden die beschriebenen Mechanismen um einen neuen Bestandteil ergänzt. Selbst Flüchtlinge, die es unter den restriktiveren gesetzlichen Bedingungen geschafft haben, als schutzbedürftig anerkannt zu werden, werden darauf hin überprüft, ob sie in ihren Herkunftsstaat zurückgeschickt werden können. Der Widerrufspraxis kommt damit die Funktion der rückwirkenden Abschottung zu. Daneben wird auch der Status des Flüchtlings als solcher entwertet, weil er keinen dauerhaften Schutz verheißt, sondern das Damoklesschwert des Widerrufs über ihm schwebt.
Aus Sicht des internationalen Flüchtlingsrechts ist die deutsche Widerrufspraxis scharf zu kritisieren. Bereits die Masse von über 30.000 Widerrufen in den letzten drei Jahren erweckt Misstrauen. Dass dieses Misstrauen gerechtfertigt ist, wird offenbar, wenn man die Kriterien der Genfer Flüchtlingskonvention zugrunde legt. Denn die Mehrzahl der Verfahren ist völkerrechtswidrig. Dies wird im folgenden begründet.

Widerrufe im Massenverfahren

Gemäß § 73 Abs. 1 S. 1 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dahinter steht die Idee, dass der Aufnahmestaat einem Flüchtling aus einem anderen Staat nur solange Schutz vor Verfolgung bieten muss, wie er diesen Schutz im Herkunftsstaat nicht erlangen kann.
In der Vergangenheit wurde die Vorschrift verhältnismäßig selten angewandt. Ein Widerruf erging insbesondere dann, wenn ein Einbürgerungsantrag gestellt wurde oder aber wenn die Familie aus dem Ausland nachgeholt werden sollte. Die zuständigen Einbürgerungs- oder Ausländerbehörden haben das Bundesamt benachrichtigt und aufgefordert, das Fortbestehen des Flüchtlingsstatus zu überprüfen. Diese Anlässe haben mit der Frage des Widerrufs im Grunde nichts zu tun. Sie sind vielmehr Ausdruck einer abwehrenden Haltung, die die Integrationsbereitschaft von Flüchtlingen mit der Einleitung eines Widerrufsverfahrens bestraft.
Erst seit wenigen Jahren spielen Widerrufe als Massenphänomen in der deutschen Asylpraxis eine Rolle. Die Zahl der Widerrufe ist in den letzten Jahren drastisch gestiegen. Während 1998 gegenüber 577 Flüchtlingen ein Widerruf ergangen ist, waren es im Jahr 2003 bereits über 8.000. Im Jahr 2004 hat sich die Zahl beinahe verdoppelt: Fast 15.000 Flüchtlingen haben ihren Flüchtlingsstatus verloren. Zählt man die Widerrufe gegenüber Personen hinzu, bei denen vorher das Vorliegen eines Abschiebehindernisses nach § 53 AuslG festgestellt worden war, waren es sogar fast 17.000. Im Jahr 2005 waren die Zahlen wieder leicht rückläufig - ca. 11.000 Personen haben ihren Schutzstatus verloren.
Die Massenverfahren werden bislang vor allem gegenüber Flüchtlingen aus dem Kosovo und dem Irak durchgeführt. Im Jahr 2004 wurde für beide Gruppen ca. 7.000 Mal der Flüchtlingsstatus widerrufen. Bei den Kosovo-Flüchtlingen kamen rund 1.300 Widerrufe des Abschiebungsschutzes nach § 53 AuslG hinzu. Im Jahr 2005 hat sich dieser Trend für irakische Flüchtlinge mit ca. 7.000 Widerrufen ungebrochen fortgesetzt. Deutlich zurück gingen die Widerrufe gegenüber kosovarischen Flüchtlingen mit knapp über 1.000 im Jahr 2005. Flüchtlinge aus der Türkei sind mit über 500 Widerrufen im Jahr 2005 die drittgrößte Betroffenengruppe. Afghanischen Flüchtlingen wurde im selben Zeitraum 270 Mal der Schutzstatus entzogen.
Ist der Flüchtlingsstatus entzogen, droht auch der Verlust des Aufenthaltsrechtes und die Abschiebung. Während Flüchtlingen aus dem Kosovo, aus Afghanistan oder der Türkei die Abschiebung schon heute droht, ist das Schicksal der irakischen Flüchtlinge noch ungewiss. Noch gilt grundsätzlich ein Abschiebestopp. Die Innenminister der Länder drängen jedoch immer mehr darauf, auch in den Irak abzuschieben.

Zuwanderungsgesetz: Widerruf institutionalisiert

War die neue Widerrufspraxis bislang rechtliches Experimentierfeld, wurde durch das Zuwanderungsgesetz die Rechtsgrundlage für eine stärkere Institutionalisierung des Widerrufs geschaffen. Der Gesetzgeber hat Fragen des Aufenthalts und des Widerrufs nun eng mit einander verzahnt. Das neue Recht sieht für Asylberechtigte und Konventionsflüchtlinge zunächst eine befristete Aufenthaltserlaubnis vor. Erst drei Jahre nach der Anerkennung sollen sie eine unbefristete Niederlassungserlaubnis erhalten. Damit allerdings dieser Daueraufenthalt erlaubt werden kann, muss zuvor das Bundesamt mitgeteilt haben, dass das Schutzbedürfnis des Flüchtlings fortbesteht und die Voraussetzungen für einen Widerruf nicht vorliegen. Die Beteiligung des Bundesamtes an aufenthaltsrechtlichen Verfahren wurde also gesetzlich institutionalisiert.
Es ist zu befürchten, dass diese neuen gesetzlichen Vorgaben stärker noch als bisher zu einer routinemäßigen und schematischen Anwendung der Widerrufsverfahren führen werden. Der Flüchtlingsschutz in Deutschland entwickelt sich immer mehr zu einem Schutzkonzept nur noch auf Zeit.

Völkerrechtliche Grundlagen

Der Widerruf der Flüchtlingsanerkennung findet sich nicht nur im deutschen Recht, sondern hat seine Wurzeln im Völkerrecht. Die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), bei der es sich um den zentralen Vertrag im Flüchtlingsvölkerrecht handelt, erkennt die Möglichkeit an, dass eine Person ihre Flüchtlingseigenschaft verliert, weil sich die Verhältnisse in ihrem Herkunftsstaat geändert haben.
Indem nun das Bundesamt und viele Gerichte sich bei der Prüfung der Widerrufsvoraussetzungen damit begnügen, erneut wie beim Asylerstverfahren zu prüfen, ob eine "politische Verfolgung" gegeben ist, lassen sie unberücksichtigt, dass § 73 Abs. 1 AsylVfG im Lichte des Art. 1 C Abs. 5 GFK auszulegen ist. Denn die Bundesrepublik ist als Vertragsstaat der GFK verpflichtet, deren Bestimmungen im Rahmen der innerstaatlichen Rechtssetzung und -anwendung umzusetzen.
Nach Art. 1 C Abs. 5 GFK kann sich eine Person nicht mehr auf den Schutz nach der GFK berufen, "wenn sie nach Wegfall der Umstände, auf Grund derer sie als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt" (Wegfall-der-Umstände-Klausel).
Deutschland muss als Vertragsstaat der GFK deren rechtliche Maßstäbe für die Beendigung des Flüchtlingsstatus beachten. Dass in der deutschen Praxis die GFK häufig nur ungenügend berücksichtigt wird, soll für die Praxis des Bundesamtes anhand des eingangs zitierten Bescheides an Frau Asmarou verdeutlicht werden. Was also sind die völkerrechtlichen Anforderungen, die im Bescheid an Frau Asmarou zu beachten gewesen wären?
Zunächst besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass Absatz 5 äußerst restriktiv zu handhaben ist. Denn der Wegfall der Flüchtlingseigenschaft führt unter anderem dazu, dass das Verbot der Ausweisung und Zurückweisung, das sog. Gebot des non-refoulment, entfällt. Führt man sich vor Augen, welche Gefahren einem Flüchtling bei verfrühter Rückkehr drohen können, so muss nicht nur dem rechtlichen Ansatz einer restriktiven Interpretation gefolgt werden. Vielmehr muss auch auf Ebene der Tatsachenwürdigung im Zweifel gegen die Anwendung der Wegfall-der-Umstände-Klausel entschieden werden.
Für deren Prüfung hat der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) drei Tatbestandsmerkmale entwickelt, die in der Literatur einhellige Anerkennung gefunden haben: Es muss erstens zu einer grundlegenden Veränderung im Herkunftsstaat gekommen sein. Zweitens muss diese dauerhaft und stabil sein. Drittens muss für den Flüchtling die Wiederherstellung effektiven Schutzes durch den Herkunftsstaat gewährleistet sein.

Grundlegende Veränderung

Zur ersten Voraussetzung: Die Veränderungen, die sich im Herkunftsland ergeben haben, müssen grundlegender Natur sein. Das erfordert eine umfassende Analyse der politischen Situation im Heimatstaat. Die grundlegende Veränderung erfordert einen grundlegenden Transformationsprozess, der typischerweise in einem Regierungswechsel zum Ausdruck kommt. Besonderes Gewicht kommt der Menschenrechtssituation im Herkunftsstaat zu. Zu berücksichtigen sind Aspekte wie die Durchführung freier Wahlen, der Beitritt zu Menschenrechtsabkommen, die Achtung und der Schutz von Menschenrechten durch staatliche Stellen und die Zulassung unabhängiger nationaler oder internationaler Organisationen zur Überwachung der Menschenrechte. Zwar wird keine vorbildliche Menschenrechtssituation wie in gefestigten rechtsstaatlichen Demokratien gefordert. Gleichwohl müssen Prozesse erkennbar sein, die eine deutliche Abkehr von der bisherigen Missachtung der Menschenrechte erkennen lassen. Indizien für solche Prozesse können Änderungen von Verfassung und Gesetzen, Amnestien, Rücknahme repressiver Gesetze und der Abbau bestehender repressiver administrativer Apparate wie Geheimpolizeien oder Sicherheitsdiensten sein.
Entscheidend aber ist, dass Flüchtlingsschutz Individualschutz ist. Die beschriebenen Entwicklungen müssen daher über eine rein generalisierende Betrachtung hinaus analysiert werden: Führen sie im konkreten Fall dazu, dass die konkreten Umstände, die zur Verfolgung beim betroffenen Flüchtling oder der betroffenen Flüchtlingsgruppe geführt haben, entfallen sind?
Im Falle des Irak könnte man einen grundlegenden Wechsel zwar im Sturz Saddam Husseins, der Verabschiedung einer Verfassung und der Durchführung erster freier Wahlen sehen. Allerdings steht dem entgegen, dass ehemalige Herrschaftsstrukturen nicht gänzlich zerschlagen sind, in weiten Teilen des Irak bürgerkriegsartige Zustände herrschen und angesichts der chaotischen Zustände weder das vollständige Verschwinden alter Verfolgungsgefahren noch die Abwesenheit neuer Verfolgungsgefahren als gesichert gelten können. Mit all dem hat sich der eingangs zitierte Bescheid nicht auseinandergesetzt. Ebenso wenig hat er sich mit der Frage der individuellen Situation von Frau Asmarou als Christin auseinandergesetzt.

Stabilität und Dauerhaftigkeit der Veränderung

Zur zweiten Voraussetzung: Die beschriebenen Verhältnisse müssen sich konsolidieren. Es darf vernünftigerweise nicht mehr mit dem Wiederaufleben der ursprünglichen Fluchtgründe oder der Entstehung neuer Fluchtgründe gerechnet werden können. Eine Situation, die nach wie vor in Veränderung ist oder neue Anzeichen von Instabilität erkennen lässt, ist nicht stabil. Daher muss insbesondere in Fällen, in denen es zu einem Regierungswechsel gekommen ist, abgewartet werden, bis über einen formalen Wechsel hinaus neue, stabile Machtstrukturen existieren.
Doch welcher Zeitraum ist dabei abzuwarten? Das ist abhängig von den Umständen, unter denen die Änderungen erfolgen. Der UNHCR hat vielfach Regierungen beraten. Dabei hat sich ein Rahmen von 12 bis 18 Monaten als Minimum herausgebildet. Dies gilt allerdings nur, wenn sich die beschriebenen Änderungen friedlich und im Rahmen eines verfassungsmäßigen Verfahrens vollzogen haben. Die Lage ist anders, wenn die Veränderungen durch kriegerische Auseinandersetzungen erfolgt sind. Hier muss angesichts der anschließend regelmäßig existierenden, von Gewalt geprägten gesellschaftlichen Lage dem Friedensprozess Zeit eingeräumt und der Wiederaufbau des Landes abgewartet werden. Der UNHCR geht hier in seiner Praxis von mehreren Jahren aus.
Dass auch die zweite genannte Voraussetzung für den Fall des Irak als nicht gegeben angesehen werden muss, liegt auf der Hand: Die ersten der 2004 ergangenen Bescheide folgten zeitlich unmittelbar auf den Sturz von Saddam Hussein. Im Irak finden bis zum jetzigen Zeitpunkt Gefechte zwischen Loyalisten der ehemaligen Regierung und Truppen der US-amerikanischen Armee statt. Die Verhältnisse, in die Frau Asmarou zurückgeschickt werden soll, sind mithin weit davon entfernt, stabil im oben genannten Sinne zu sein. Auch hiermit setzt sich der Bescheid nicht auseinander.

Effektive Schutzgewährung im Herkunftsstaat

Zur dritten Voraussetzung: Es reicht nicht, dass die Sicherheit des Flüchtlings nicht bedroht ist. Es muss vielmehr gewährleistet sein, dass er den Schutz seines Herkunftslandes tatsächlich und effektiv wieder in Anspruch nehmen kann. Hierfür muss der Staat sowohl schutzwillig als auch schutzfähig sein. Gerade dieser Aspekt wird in der Staatenpraxis oft vernachlässigt wird. Innerstaatliche Behörden und Gerichte begnügen sich häufig zu früh mit einem formalen Regierungswechsel, ohne sich mit den tatsächlichen Folgen in der Praxis zu beschäftigen. So auch im Falle von Frau Asmarou. In dem an sie ergangenen Bescheid finden sich auch hierzu keine Ausführungen, obwohl weder ein funktionierendes Justizwesen noch eine Exekutive existieren, die effektiven Schutz gewährleisten.

BVerwG und Völkerrecht: Ein klares Jein

In Reaktion auf die Widerrufspraxis des Bundesamtes sahen sich die Verwaltungsgerichte mit zahlreichen Klagen konfrontiert. Während die Mehrheit der unterinstanzlichen Gerichte die Widerrufsentscheidungen des Bundesamtes mittrug, hoben einige Verwaltungsgerichte die Widerrufsbescheide, bezogen auf irakische Flüchtlinge, auf. Mit entsprechender Spannung wurde im November 2005 ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) erwartet, in dem es über die Voraussetzungen des Widerrufs entschied.
Entgegen der bis dahin vertretenen Auffassung verschiedener Gerichte stellt das BVerwG fest, dass § 73 AsylVfG anhand der GFK auszulegen ist. Damit bereitet es zwar den Weg, um die deutsche Praxis an völkerrechtliche Standards anzupassen. Es orientiert sich auch an den von UNHCR geforderten Kriterien, obwohl dies nicht direkt ausgesprochen wird. Allerdings legt es insbesondere das Kriterium des staatlichen Schutzes sehr eng aus. Demnach solle sich die Inanspruchnahme staatlichen Schutzes allein auf den Schutz vor erneuter Verfolgung im Sinne von Art. 1 A Abs. 2 GFK beziehen. Verfolgung im genannten Sinne muss den Betroffenen "wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung" drohen - wer von allgemeinen Gefahren bedroht ist, wie sie sich aus Kriegen, Naturkatastrophen oder einer schlechten Wirtschaftslage ergeben, ist kein Flüchtling im Sinne der GFK, weil es an der Anknüpfung an einen der genannten Diskriminierungstatbestände fehlt.
Nach dem BVerwG ist also ein Widerruf möglich, wenn die betroffene Person anhand der Lage im Herkunftsland zwar nicht als Flüchtling anerkannt werden könnte, aber trotzdem wegen allgemeiner Gefahren nicht dorthin zurückkehren kann. Das BVerwG sieht sie zwar nicht mehr als Flüchtling an, schlägt aber vor, ihnen Schutz nach den allgemeinen Bestimmungen des Ausländerrechts, insbesondere § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG und § 60 a Abs. 1 S. 1 AufenthG, zu gewähren. Doch Schutz ist nicht gleich Schutz: Während einem Flüchtling im Sinne von Art. 1 GFK bzw. der Umsetzungsnorm des § 60 Abs. 1 AufenthG zahlreiche Rechte wie ein längerfristiger Aufenthaltsstatus oder eine Arbeitserlaubnis einzuräumen sind, werden subsidiär Schutzberechtigte meist auf eine prekäre Lebenssituation verwiesen. Das gilt insbesondere, wenn sie lediglich geduldet sind und damit in kurzfristigen Zeitabständen mit der Abschiebung rechnen müssen und ihnen der Zugang zum Arbeitsmarkt verwehrt wird.
Damit folgt das BVerwG der Logik eines Gastgebers, der seinen Gast auffordert, schon mal draußen im unbeheizten Flur zu warten, bis die Bahn kommt - obwohl der Bahnhof brennt. Das widerspricht dem Ziel der GFK, Flüchtlinge nicht auf eine unsichere und perspektivlose Übergangssituation in der Fremde zu verweisen, sondern ihnen bestimmte Rechte einzuräumen und ihre Integration zu befördern, wie es auch Art. 34 GFK fordert.

Ausweg Europa?

Offen bleibt die weitere Entwicklung angesichts des Einflusses der sogenannten Qualifikationsrichtlinie der EU, die Deutschland bis Oktober 2006 umsetzen muss. Wird das EU-Recht die deutsche Praxis zu einer Annäherung an internationale Standards zwingen?
Die Richtlinie folgt dem Wortlaut der GFK und ergänzt ihn um die drei genannten Auslegungskriterien. Die Bundesregierung hat im Frühjahr 2006 bereits eine entsprechende Gesetzesvorlage entworfen, in der vorgesehen ist, den GFK-Wortlaut zu übernehmen.
Allerdings trifft die Richtlinie keine Aussage zur hier erörterten Frage des staatlichen Schutzes. Demnach kann die deutsche Rechtsprechung zunächst an der Auslegung des BVerwG festhalten, ohne sich in unmittelbaren Widerspruch zum Wortlaut der Richtlinie zu setzen. Was also bleibt, wenn man den Einfluss Europas auf das nationale Flüchtlingsrecht dennoch als strategische Chance nutzen möchte?
Zum einen hat die Diskussion über die genannte Gesetzesvorlage gerade erst begonnen. Demnach ist auf der politischen Forderung nach einer Klarstellung zu beharren, die die staatliche Schutzgewährung auch auf allgemeine Gefahren bezieht. Da dies jedoch politisch leider wenig realistisch ist, dürfte die langfristige Perspektive viel versprechender sein: Mit der Schaffung einer gemeinsamen europäischen Flüchtlingspolitik hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) Rechtsprechungskompetenz über den Bereich des Flüchtlingsrechts erhalten. Gem. Art. 68 Abs. 1 EG-Vertrag (EGV) sind zwar nur höchstinstanzliche Gerichte zur Vorlage nach Art. 234 EGV berechtigt. Gleichwohl wird der EuGH langfristig mit flüchtlingsrechtlichen Fragen befasst sein. Da Art. 63 EGV ebenso wie die Qualifikationsrichtlinie auf die GFK verweist, ist der EuGH zu einer völkerrechtskonformen Auslegung verpflichtet. Also bleibt die Hoffnung, dass ihm die hier diskutierte Frage vorgelegt wird und er zu einem anderen Ergebnis als das BVerwG kommt.

Tillmann Löhr ist Rechtsassessor und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Völkerrecht und Europarecht der Universität in Frankfurt am Main.
Marei Pelzer ist Rechtsassessorin und arbeitet als rechtspolitische Referentin für die Flüchtlingsorganisation PRO ASYL in Frankfurt am Main.

Literatur

Marx, Reinhard, Widerruf wider das Völkerrecht, in: InfAuslR 2005, 218 - 227.
PRO ASYL, Broschüre Flüchtlingsschutz mit Verfallsdatum? Zahlen, Fakten & Hintergründe, Rechtliche Grundlagen, Praktische Erfahrungen, siehe: "http://www.proasyl.de"