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Die europäische Integration befindet sich zurzeit in einem merkwürdigen
Schwebezustand: Die politischen Eliten haben das wahrscheinliche Scheitern
der Verfassung noch nicht recht akzeptiert. Gleichwohl scheint das "Raumschiff
Brüssel", die Eurokratie, auch nach der Erweiterung erstaunlich reibungslos
zu funktionieren. Manch eine/r vermisst nun aber zu Recht die das Verfassungsprojekt
befeuernden Diskussionen darüber, ob es noch mehr als das Schmiermittel
Geld gebe, das die Union gleichsam "philosophisch" zusammenhalte. Auch
Europa lebt schließlich nicht vom Brot allein.
Aufschlussreich für die Frage, ob so etwas wie eine Idee Europas existiere,
ist eine Grundaussage des Maastricht-Urteils des deutschen Bundesverfassungsgerichts
(BVerfG).1 Im Kern ist das Gericht der Ansicht, ein europäisches Volk
(Demos) sei nicht zu erkennen, weshalb es notwendig auch keine Demo-kratie
auf europäischer Ebene geben könne. Zwar definiert der Senat den Begriff
"europäisches Volk" nicht ethnisch, also blutsmäßig, wie es in der deutschen
Geschichte zu oft vorgekommen ist. Er verlangt jedoch für das Vorliegen
eines Demos das Gefühl sozialer Kohäsion, ein gemeinsames Schicksal und
eine kollektive Identität, die für ein unentbehrliches Mindestmaß an Loyalität
zum Gemeinwesen erforderlich seien. Aus der Tatsache, dass diese Kriterien
nicht erfüllt sind, wird geschlussfolgert, dass das Europäische Parlament,
weniger der Ministerrat das eigentlich despotische Organ des Brüsseler
Systems ist, und das nicht allein wegen der fehlenden Wahlrechtsgleichheit,
sondern weil eine Legitimationskette hin zu einem europäischen Souverän
mangels eines solchen nicht konstruiert werden kann.
Im Folgenden soll jedoch gezeigt werden, dass die vom BVerfG entwickelte
so genannte Kein-Demos-These nicht mit dem Kerngehalt einer humanistisch
konzipierten europäischen Idee vereinbar ist.
Sein und Sollen der EuropäerInnen
Zu diesem Zweck soll zunächst erörtert werden, ob es eine politische
Philosophie Europas gibt. Politische Philosophie ist knapp und prägnant
definiert als Anthropologie (Lehre von Wesen und Natur des Menschen) plus
Ethik2. Wir müssen uns also fragen, ob es ein europäisches Menschenbild
und europäische Werte gibt. Wenn beide Fragen bejaht werden können, haben
wir eine politische Idee Europas entdeckt.
In der Geistesgeschichte Europas sind die klassisch-antike und die christlich-monotheistische
Tradition die Säulen, die zusammen die Aufklärung stützen. Es erscheint
nicht zu verwegen, jenen beiden Strängen zwei gegensätzliche Bilder vom
Menschen zuzuordnen.
Auf der einen Seite steht der selbstbestimmte, starke, eigenverantwortliche
Bürger; auf der anderen der fremdbestimmte, schwache, schutzbedürftige
Untertan Gottes.
Um das Menschenbild streitet sich die Politik, streiten sich Rechte und
Linke immer neu. Gemeinsam aber legen sie den "Menschen in der Idee" zugrunde,
eine aufklärerisch motivierte Abstraktion vom Einzelnen, die unsere Rechtsidee
überhaupt erst konstituiert, indem sie Rechtsgleichheit von tatsächlicher
Identität trennt. In der Tat ist dieses europäische Erbe ein Universalismus,
dem die Tendenz innewohnt, stets ein- und niemals auszuschließen, denn
er hat es mit allen Menschen als Menschen zu tun. Grenzen sind seine Sache
nicht. Sie sind vielmehr die Domäne der "Identität", sie müssen konstruiert
werden. Dem Dilemma, dass die Rechtsgemeinschaft Europa sich notwendig
mit einem Schleier des Nichtwissens verhüllen muss, um die Menschen nicht
als Individuen, sondern als Gleiche, eben als Rechtspersonen, zu behandeln,
andererseits aber, ganz "realpolitisch", auch nach Selbstdefinition, mithin
Selbstbehauptung, strebt, versuchen europäische Politiker mit einem Identitätsdiskurs
zu begegnen. Nach diesem Kalkül ist der vordergründig immer vor allem
ausgrenzende Identitätsbegriff ein Erfolg versprechendes Mittel zur Bewältigung
der eigenen Selbstzweifel.
Problematisch am Identitätsbegriff ist sein häufig versteckt normativer
Gebrauch, der typischerweise die beiden verschiedenen Bedeutungsstränge
des Wortes ungebührlich vermengt: Einerseits bezeichnet Identität Einheit
oder Gleichheit ("idem"-derselbe), andererseits im Anschluss an Freud
innere Einstellungen des Sich-Bekennens, gleichsam der inneren Einheit
oder Authentizität. Kollektive Identität ist immer fingiert, niemals notwendig;
ganz im Gegensatz zu ihrem Freudianischen Gegenpart, der freilich nicht
minder auf die Auseinandersetzung mit dem Anderen bezogen ist, insofern
er die Grundfragen des Lebens stellt: "Wer bin ich?" und "Wie soll ich
handeln?".3 Identität kann nicht nur in Abgrenzung vom Anderen konstruiert
werden. Die Bildung von Identität ist nicht definitive Selbstbeherrschung,
sondern die Etablierung einer offenen Kommunikationsbeziehung zwischen
der Person und "ihrer" Welt.4 Sie ist als eine Verschränkung von Dialog
und Selbstbegrenzung zu verstehen.
Wenn wir uns dieses teilweise ausschließenden, repressiven Charakters
der Identitätsbildung aber bewusst werden, bedeutet das zugleich eine
Chance, das als ausgegrenzt Erkannte als das "Andere" gleichwohl zu tolerieren.
Anders in diesem Sinne ist nicht nur der andere Mensch, die fremde Kultur,
sondern ebenso das innere Ausland der Triebe und Impulse. Wenn wir zu
reflektieren beginnen, dass im Entwurf des Eigenen immer schon eine Vorstellung
vom Fremden verborgen liegt, birgt dieser Lernprozess ein großes Humanisierungspotential.
Kommunikation und der mit ihr einhergehende Versuch, das Eigene im Angesicht
des Fremden zu läutern, kennt indes keine notwendigen Grenzen, ist also
universalisierbar. Ist das ein Problem? Solange Europa nur "Europa" sein
möchte, keine Keimzelle einer - wohl nur gegliedert denkbaren - Weltföderation,
ist es ein Problem. Denn in der Tat vertritt Europa heute das Säkularisat
einer ungemein attraktiven prophetischen Moral: Ihr BürgerInnen Polens,
der Ukraine, der Türkei, eine Orientierung nach "Westen", zur EU verlangt
euch einen "Rationalisierungsschock" (Übernahme des gesamten Rechtsbestandes
der EU) ab, doch diese scheinbare Missachtung eurer Partikularität währt
nicht zu lang; denn die Anerkennung der Differenz liegt doch gerade im
Herzen des Integrationsgedankens! Die Menschenrechte und noch einiges
mehr müsst ihr anerkennen, eure Folklore aber dürft ihr behalten.
Das "Volk" der EuropäerInnen
Was hält "uns" aber dann zusammen, jenseits eines universalistischen
ethischen Diskurses, in dem wir wohl unsere gegenseitige Andersheit akzeptieren,
den wir indes mit den AmerikanerInnen nicht anders führen als auf unserem
Kontinent? Die überkommenen Nationen jedenfalls bleiben erhalten. Sie
erfüllen die zutiefst menschlichen Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und
Originalität. Sie bieten Schutz gegen die Angst vor existentiellem Alleinsein.
Diese Nationen kennen zwar weiter drei Grenzen, die jedoch signifikant
weniger für Missbrauch anfällig sind: die äußere Staatsgrenze, Sinnbild
der Gefahr äußerer Aggression, die Grenze zwischen Nation und Staat, verbunden
mit der in Deutschland besonders traditionsreichen Verkennung des Staats
als Selbstzweck, und eine sozialpsychologische innere Grenze, die der/die
Einzelne gegen den/die Andere/n als Unterlegene/n errichtet. Europa ist
in dieser Perspektive eine sanfte Dompteurin, die dem nationalen Tiger
die Zähne zieht. Weiler als Verfechter dieser äußerst sympathischen Position
zitiert in diesem Zusammenhang Hermann Cohen5: Erst im Fremden entdeckte
der Mensch die Idee der Humanität. Man wird hinzufügen müssen: Das genügt
zwar als Voraussetzung einer Rechtsgemeinschaft, deren Prinzip nicht mehr
als das reziproke Anerkennen von Freiheitsansprüchen gleicher Rechtspersonen
ist und sein kann. Aber ist die Entdeckung und Anerkennung des Fremden
schon hinreichend für einen Humanismus, der seinen Namen verdient, der
Basis einer zutiefst teilnehmenden - im Gegensatz zur indifferenten -
Gemeinschaft sein kann? Eine politisch gerechte Zivilisation kennzeichnet
eine vorgängige Akzeptanz der Andersheit, nicht des von mir Abweichenden,
betrachtet von einem egozentrischen Standpunkt, sondern das Bewusstsein
einer schlechthinnigen Asymmetrie: Dort ist ein Anderer, ich bin für ihn
da. Diesem Humanismus geht es sehr wohl um Menschenrechte, die aber nicht
als Freiheitsrechte, sondern als Reflex von Anteilnahme begriffen werden.
Dies ist als überfälliger Schritt heraus aus der Falle des "Rechte-Diskurses",
der Gefangenheit in der Stellung wechselseitiger Ansprüche, zu werten.
Der Gegensatz zwischen einer europäischen Identität und einem Humanismus
der Akzeptanz des Anderen entpuppt sich nach allem als fiktiv.
Zwar konstruiert das BVerfG im Maastrichturteil einen solchen Gegensatz,
indem es verlangt, Grundlage einer europäischen Demokratie sei ein europäisches
Volk, das sich durch kollektive Identität und ein Gefühl sozialen Zusammenhalts
auszeichne. Damit beschwört es jedoch eine exklusivistisch verstandene
europäische Identität, die ihren Ursprung in einer partikularen Interessenlage,
der gewollten Machtdemonstration nach außen und der Abschottung nach innen
hat und damit nicht als Fundament eines aufgeklärten europäischen Demos
taugt.
Europäisches Weltbürgertum
Der "Humanismus der Anerkennung des Anderen" ist in der Form des Kosmopolitismus
als politische Idee zu verstehen. Es ist dies eine als ursprünglich gedachte
Hospitalität, die bedingungslos sein muss. Er bedeutet in erster Linie,
gegenüber dem/der Anderen Offenheit zu zeigen, sich von ihm/ihr beeinflussen
zu lassen. Im Gegenzug darf man eine entsprechende Bereitschaft auf der
Seite des Gegenübers erwarten.
In der Betonung der grundsätzlichen äußeren Formbarkeit der personalen
Identität weicht die hier vorgestellte Konzeption vom Prinzip der bloßen
Toleranz gegenüber dem Fremden ab.
Allerdings ist damit kein Dissens im Grundsatz verbunden. Eher darf man
das Verhältnis der beiden Konzepte als eines der Radikalisierung bezeichnen.
Denn die Ablehnung des Imperativs "Komm, werde einer von uns!" als einfacherer
Integrationsstrategie eint die beiden Ansätze. Es geht gerade nicht darum,
die/den Fremde(n) ihrer/seiner Andersheit zu berauben, indem ich sie/ihn
in mich selbst verwandele. Eher sollte man einen Schritt weitergehen,
nicht die/den Fremde(n) bloß in seiner Andersheit annehmen, sondern, sich
selbst beobachtend, feststellen, dass es mehr ist, was uns beide verbindet,
denn was uns trennt. In Weilers Konzeption erscheint Europa zu sehr als
ein Konglomerat voneinander unterschiedener und gerade in ihren Spezifika
liebenswerter Regionen / Staaten und zu wenig als eine Föderation, in
der Menschen einander als fremde Individuen achten und vor allem voneinander
lernen. Gewiss ist das heutige Europa ohne seine Verfassung schon äußerst
liebenswert, weil es auf einem engen Raum so vielfältig ist wie keine
zweite Weltregion. Dieses kulturelle Spezifikum gilt es aber doch weniger
zu konservieren als durch gegenseitige Begegnung - nein, nicht zu homogenisieren,
denn jeder Staatsangehörige wird Unterschiedliches aufnehmen, Anderes
vom Fremden annehmen und lernen wollen - sondern dynamisch fortzuentwickeln.
So soll aus der EU in der Tat kein Staat wachsen. Aus der Außenperspektive
Weilers betrachtet, wäre damit die große Chance der alternativen, humaneren
und toleranteren Herrschaftsform einer supranationalen Föderation vergeben.
Indessen sollte man auf der schlichten Tatsache insistieren, dass die
überkommenen Binnengrenzen mehr und mehr an Bedeutung für die Selbstidentifikation
der StaatsbürgerInnen verlieren. Dieser Prozess führt zwangsläufig dazu,
dass sich die BürgerInnen Europas in mancher Hinsicht ähnlicher werden.
Doch werden sie gerade in der Begegnung mit dem Fremden solche Aspekte
ihrer Identität, die für sie wichtige Alleinstellungsmerkmale sind, hervorzuheben,
zu schärfen suchen. Europa wird sonach durch den Bedeutungsverlust der
alten nationalen Grenzen kulturell nicht ärmer, sondern reicher. Die Identitäten
werden sich ausdifferenzieren, wie es gesellschaftliche Subsysteme schon
länger tun, und das erfolgreich. Neue Grenzen werden sich bilden, die
auf keiner Landkarte zu erfassen sind; Machtgefälle verlieren an Bedeutung,
da sich Gruppenidentitäten spontaner bilden. Die Loyalität zur Nation
wird nur eine unter vielen sein.
Die Akzeptanz der Vorstellung, dass Identität eine plastische Größe sei,
steht auch im Zentrum der Kopenhagener Beitrittskriterien. Eine andere
kulturelle Motivation als die Aussicht, selbst bereichert, verändert zu
werden und andere bereichern zu können, vermag die zunächst erschreckende
Einsicht, im größeren Verband stets und strukturell Minderheit zu sein,
nicht zu kompensieren. Toleranz, als Ertragen des Anderen verstanden,
genügt nicht als Kitt für Europa. Nicht Toleranz ist die europäische Idee,
sondern das Paradoxon einer kosmopolitischen, weltbürgerlichen Heimat.
Der Kosmopolitismus beginnt aber notwendig beim Individuum. Er bedeutet,
kulturelle Differenzen als freie Entscheidungen Ernst zu nehmen, die ständig
neu getroffen werden. Ständig werden Differenzen eingeebnet, aber auch
neu erfunden. Nur ein Phänomen gehört für immer der Vergangenheit an:
Homogenität. Stattdessen herrscht das Prinzip "Kontamination", Ansteckung:
die Bürger Europas bilden Teile eines Netzwerks, das sich permanent neue
Synapsen erschließt. Kosmopolitisch ist die Idee, dass menschliches Wissen
immer vorläufig bleibt, dass wir uns sogar daran gewöhnen können, Dinge
anders zu tun, weil andere es uns vormachen: Imitation und Revision, ohne
den Glauben an die Wahrheit zu verlieren, dies sind Bauprinzipien Europas
als kosmopolitischer Union.
Die "unchristliche" Türkei
Wenn die politische Gerechtigkeit, die die EU zum Maßstab ihrer Entwicklung
macht, in ihrem Wesen Inklusion verkörpert, stellt sich die Frage, wohin
sie sich entwickelt. Der Idee nach ist Europa grenzenlos: die Welt ist
Europa.
Das bedeutet aber, dass sich die EU im Hinblick auf ihre Beitrittsaspiranten
auf ein Argument nicht berufen darf: Wertediversität. Sie kann ökonomische
Notwendigkeiten ins Feld führen, eine unbefriedigende Menschenrechtslage,
die Gefahr einer strategischen Überdehnung und dergleichen mehr. Sie darf
aber der Türkei nicht vorhalten, sie sei kein christliches Land oder gehöre
traditionell nicht zu Europa. Geographische Grenzen sind ohnehin zufällig
und entfalten keinerlei normative Kraft. Die EU ist in die Zukunft gerichtet,
nicht in die Vergangenheit, etwa die letzte Belagerung Wiens durch die
Türken 1683. Die spezifische Differenz der europäischen Idee von Emanzipation
gegenüber einer universal konzipierten liegt in der Anerkenntnis der Rolle
der Nationen. Indem diese indes schleichend an Bedeutung für die Identität
des individualisierten Individuums einbüßen, wächst an der entstehenden
Leerstelle nicht etwa die Identität als Europäer nach. Die Leerstelle
bleibt vielmehr von irrationalistischen Mythen und unbegründeten Loyalitäten
unbesetzt. Werte hat der/die Einzelne nicht als EuropäerIn, als Deutsche/r
oder als BerlinerIn. Wenn es solche Werte gibt, die ein kulturelles Fundament
für die Rechtsgemeinschaft Europa bilden - und es gibt sie zweifellos
-, dann liegt das allein darin begründet, dass wir uns in einem schmerzhaften
Lernprozess, nach dem Anblick allzu vieler Kriegsleichen an sie gewöhnt
haben.
Es gibt keinen guten Grund, anzunehmen, Menschen, die wir als fremder
wahrnehmen mögen als andere, wären zu diesen Geistesleistungen nicht imstande.
Die Türkei kann europäisch werden. Werden die EuropäerInnen auch ein kleines
bisschen türkisch?
Tim Wihl studiert Jura an der HU Berlin.
Anmerkungen:
1 BVerfGE 89, 155.
2 Höffe, Otfried, Politische Gerechtigkeit, 1987.
3 von Bogdandy, Armin, Kritische Justiz, 2005, 110 ff.
4 Joas, Hans, Die Entstehung der Werte, 1999.
5 Weiler, Joseph, Der Staat "über alles", Jahrbuch des öffentlichen
Rechts 1996, 91 ff.
Literaturempfehlungen:
Weiler, Joseph, Ein christliches Europa, 2004
von Bogdandy, Armin, Europäisches Verfassungsrecht, 2003
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