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Verquerte Theorien
--> Abschiebungen I. Irgendwann hört auch die jüngst so viel gerühmte
deutsche Gastfreundschaft auf. Wer nach dem Finale der Fußballweltmeisterschaft
das Gastgeberland nicht freiwillig verlassen wollte, dem wurde tatkräftig
nachgeholfen. Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl sprach von einem "gnadenlosen
Sommer der Abschiebungen". Ihr Sprecher Bernd Mesovic schilderte der Berliner
Zeitung: "Die WM war vorbei und das Telefon klingelte immerfort, Anwälte
riefen an und die Abschiebungen stapelten sich auf unserem Schreibtisch."
Menschen würden noch bedenkenloser und ohne Rücksicht auf ihren körperlichen
und psychischen Gesundheitszustand in lebensbedrohliche Krisen- und Kriegsregionen
zurückgeschickt. Hintergrund des gravierenden Anstiegs der Abschiebungen
sei die vom Bundesinnenministerium geplante Bleiberechtsregelung für länger
in Deutschland lebende Flüchtlinge. Ins Visier der Ausländerbehörden gerieten
vor allem diejenigen MigrantInnen, die von dieser Regelung profitieren
würden.
Hemdsärmelig unterstützt wird derart menschenverachtender Zynismus durch
eine nicht minder inhumane Spruchpraxis deutscher Verwaltungsgerichte.
Einen besonders perfiden Prozess der Rechtsfindung konnte man zuletzt
bei den Hamburger Verwaltungsgerichten beobachten. Seit Monaten schiebt
die Hansestadt unbeirrt Flüchtlinge aus Afghanistan in das stark umkämpfte
Bürgerkriegsgebiet zurück. Unter ihnen befinden sich oft auch Homosexuelle.
Auch dies, so die VerwaltungsrichterInnen, sei grundsätzlich nicht zu
beanstanden. Ihre Homosexualität müssten die Betroffenen ja nicht offenbaren,
ohnehin sei "die Stadt Kandahar wie San Francisco bekannt für das dort
weit verbreitete homosexuelle Verhalten".
In Afghanistan, so die sich gut informiert gebenden RichterInnen, etabliere
sich nach dem Machtverlust der Taliban wieder eine homosexuelle Szene,
die auch toleriert werde. Als Beleg zitierten sie aus einem Bericht des
britischen Institute for War and Peace Reporting (IWPR). Dort steht, dass
"die von den Taliban verbotene Praxis des Geschlechtsverkehrs zwischen
Männern und minderjährigen Jungen wieder auflebe und dass es bei ortsansässigen
Männern, insbesondere Militärkommandanten [...] durchaus üblich sei, Jungen
zu Feierlichkeiten mitzunehmen und sie zum Tanzen und manchmal zum Sex
zu veranlassen."
Dies als ein Zeugnis für aufblühende Toleranz, Gleichberechtigung und
Selbstbestimmung in Afghanistan zu nehmen, bedarf einiges an abstruser
Phantasie. Tatsächlich warnt das IWPR in seinem Bericht deutlich vor zunehmender
sexualisierter Gewalt gegen Minderjährige und betitelt seine Erkenntnisse
unvermissverständlich mit "Child Sex Abuse Alarm". In der Rechtsprechung
der Hamburger Gerichte, die auf eine Leitentscheidung der Verwaltungsrichterin
Anja Meyer-Stender zurückzuführen ist, werden systematische Vergewaltigungen
so mit Homosexualität gleichgesetzt.
Die Hamburger Behörden sind gleichwohl über die tatsächlichen Verhältnisse
in Afghanistan durch offizielle Berichte des deutschen Vertreters des
Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen informiert. Gutachten
zufolge besteht für homosexuelle Männer in Afghanistan die erhebliche
Gefahr politischer Verfolgung. Bei homosexuellen Handlungen werde dort
weiterhin die Scharia angewandt. Dies bedeute für die Betroffenen, lebendig
begraben zu werden. (str)
Fluchtreize
--> Abschiebungen II. Mit ähnlichem Gespür für absurde Gedankengänge
und hässlicher Gleichgültigkeit begegnete das Oberlandesgericht (OLG)
Frankfurt dem Schicksal des kurdischen Flüchtlings Yusuf Karaca. Dieser
sitzt in deutscher Auslieferungshaft, damit er sich der drohenden Folter
in der Türkei nicht entziehen kann, wie Pro Asyl berichtet.
Karaca konnte vor Monaten aus der Türkei fliehen, nachdem er dort in einem
rechtsstaatswidrigen Verfahren vor dem Staatssicherheitsgericht für Taten
und die angebliche Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung
zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Sein vermeintliches Geständnis,
das als Grundlage zu seiner Verurteilung diente, wurde durch Folter erpresst.
Das Verwaltungsgericht in Frankfurt erkannte ihn deshalb als politisch
Verfolgten nach der Genfer Flüchtlingskonvention an und gewährte ihm Asyl.
Die Türkei verlangte nun die Auslieferung des Kurden. Ungeachtet der vorangegangenen
Entscheidung zu seinem Asylantrag und der ihm offensichtlich weiterhin
bevorstehenden Gewaltanwendungen veranlasste das OLG Frankfurt, dass Karaca
in Auslieferungshaft genommen wurde. Schließlich böte die drohende Folter
offensichtlich einen "Anreiz zur Flucht" und damit einen Haftgrund. (str)
Verfahrensfehler
--> RZ. Der Prozess gegen vier mutmaßliche Mitglieder der "Revolutionären
Zellen" (RZ) wurde als einer der letzten großen Terroristenprozesse bezeichnet.
Und das Berliner Kammergericht machte diesem Titel alle Ehre. Besser hätte
es das Instrumentarium des "Anti-Terror-Systems" um den Paragraphen 129a
Strafgesetzbuch (StGB) nicht anwenden können, um die vier Beschuldigten
gegen so manche grundlegenden Regeln eines fairen Strafverfahrens wegen
verschiedener Anschläge und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung
zu verurteilen (vgl. zuletzt ausführlich Forum Recht 2004, 106).
Nun hat der Bundesgerichtshof (BGH) die Urteile rechtskräftig werden lassen,
indem er ihre Revisionsanträge verwarf. Dabei hat der BGH auch zugleich
ein Grundsatzurteil zu den von ihm so genannten "unwahren Protokollrügen"
gefällt, womit er die wahrheitswidrige Behauptung eines Verfahrensfehlers
unter Berufung auf ein insoweit fehlerhaftes Protokoll bezeichnet. Eine
derartige Rüge hat der BGH nun als rechtsmissbräuchlich missbilligt, wenn
der Beschwerdeführer sicher weiß, dass sich der Fehler unzweifelhaft nicht
ereignet hat. Eine solche Rüge habe auch in diesem Revisionsverfahren
vorgelegen. (Az: 3 StR 284/05)
Seit ihrer Gründung 1973 verübten die RZ mehrere Anschläge, die oft an
den Kampagnen sozialer Bewegungen anknüpften und sich später vor allem
gegen die bundesdeutsche Ausländer- und Asylpolitik richteten. (str)
(Infos: www.freilassung.de)
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