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Das Ende des Staates?
Über das Ende des Staates "wie wir ihn kennen" ist in den vergangenen
Jahren oft spekuliert worden. Der Nationalstaat klassischer Prägung sei
tot, neue Formen von Staatlichkeit auf internationaler Ebene bislang nicht
in Sicht und Pack-Enden für eine politische Gestaltung der Globalisierung
damit aktuell nicht zu finden.
Zu kritisieren ist an solchen Sichtweisen vor allem, dass sie mehrere
Schritte vor dem ersten tun.
Zu Fragen ist zunächst, was denn "Staat" eigentlich ist. Sich dabei auf
eine oberflächliche Beschreibung der Institutionen des europäischen "Nationalstaats"
zu beschränken, greift dabei deutlich zu kurz. Verkannt wird, dass sich
Staatlichkeit historisch stets unterschiedlich ausgeprägt hat, und dass
in andere Weltregionen eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Ausprägungen
von Staatlichkeit existieren.
Auch wenn man die in der Rechtswissenschaft gängige Formel von Staatlichkeit
als der Verbindung von Staatsterritorium, Staatsvolk und Staatsgewalt
zum Indiz nimmt, so zeigt sich, dass die einzelnen Merkmale sehr unterschiedlich
ausgeprägt sein können. Zu einer tieferen Definition dessen, was Staatlichkeit
nun im Kern ausmacht, kann diese Formel nicht beitragen.
Zu berücksichtigen ist zudem, dass meist je nach politischem Standpunkt
des Betrachters bestimmte Anforderungen an den Staat in die Analyse dessen
einfließen, was denn Staat eigentlich ist. Je nach politischer Richtung
kann das Ende der Staatlichkeit demnach mit dem (vermeintlichen) Verlust
der Fähigkeit, regulierend in die Ökonomie einzugreifen erreicht sein,
während für eine (neo-)liberale Betrachtung hier vielleicht erst der eigentliche
Kern von Staatlichkeit beginnt.
Grundsätzlich scheint nach wie vor eine materialistische Grundlage die
beste Ausgangsbasis für eine Analyse von Staatlichkeit zu sein. Mit Karl
Marx gesprochen hieße dies: "Die Menschen machen ihre eigene Geschichte,
aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten,
sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen."1
In diesem Sinne ist zuvorderst die Rolle des Staates im Zusammenhang mit
den Produktionsverhältnissen und dem Stand kapitalistischer Vergesellschaftung
zu analysieren. Die in diesem Zusammenhang wohl am meisten zitierte Textstelle
ist die folgende: "In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen
die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse
ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer
materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse
bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf
sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte
gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise
des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen
Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das
ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein
bestimmt."2
An anderer Stelle spricht Marx davon, dass der Staat die Form ist, in
welcher die Individuen einer herrschenden Klasse ihre gemeinsamen Interessen
geltend machten und die ganze bürgerliche Gesellschaft einer Epoche sich
zusammenfasse. Daraus folge, dass alle gemeinsamen Institutionen durch
den Staat vermittelt werden, gewissermaßen eine politische Form erhalten.3
Auch aktuelle Veränderungen von Staatlichkeit können also nicht losgelöst
von einer Betrachtung des aktuellen Kapitalismus diskutiert werden.
Im folgenden soll ein Versuch unternommen werden, im Anschluss an Nicos
Poulantzas einige Felder für eine weiterzuführende Diskussion um Staatlichkeit
in Zeiten von Globalisierung abzustecken. Dabei sollen zentrale Überlegungen
Poulantzas' skizziert, und anschließend auf ihre Tauglichkeit für die
Analyse heutiger Veränderungsprozesse überprüft werden.
Der Ansatz von Nicos Poulantzas (1936-1979)
Nicos Poulantzas, 1936 in Athen geboren, ging Anfang der 1960er Jahre
nach Frankreich, wo er bis zu seinem Freitod 1979 lebte und forschte.
Ein Arbeitsschwerpunkt war dabei die Theorie des kapitalistischen Staates.
Ausgangspunkt der staattheoretischen Überlegungen Poulantzas' ist dabei
zunächst, dass sich "Staatlichkeit" nicht auf politische Herrschaft reduzieren
lässt.
Der "Staat" ist demnach nicht etwas den kapitalistischen Produktionsverhältnissen
- also der gesellschaftlichen Organisation des Arbeitsprozesses - äußeres,
sondern ist bereits in ihnen selbst präsent. Dabei machen sich die aus
den Produktionsverhältnissen entspringenden Verteilungen von Macht und
die Entstehung von Klassen auch im Staat selbst geltend. Entscheidend
für den Einfluss von gesellschaftlichen Klassen im Staat ist ihre über
die Produktionsverhältnisse vermittelte Möglichkeit, die Produktionsmittel
in Gang zu setzen und den Arbeitsprozess zu beherrschen.4
Durch die Stellung des Staates bereits in den Produktionsverhältnissen
selbst bedingt sich, dass die dort vorhandenen Auseinandersetzungen zwischen
den Klassen auch im Staat selbst präsent sind. Im Anschluss an Antonio
Gramsci geht Poulantzas davon aus, dass sich staatliche Tätigkeit dabei
nicht in Repression erschöpft, sondern die Ideologie eine wichtige Rolle
der Absicherung von Herrschaft spielt. "Die Ideologie besteht nicht nur
aus einem System von Ideen oder Vorstellungen: sie betrifft auch eine
Reihe von Praktiken, Bräuchen, Sitten, Lebensstil und vermischt sich so
wie Zement mit der Gesamtheit der gesellschaftlichen Praktiken inkl. der
politischen und ökonomischen Praktiken. Die ideologischen Beziehungen
spielen in der Konstitution der Beziehungen des ökonomischen Eigentums
und des Besitzes, in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung der Arbeit
innerhalb der Produktionsverhältnisse eine wesentliche Rolle."5
Im Kern ist "Staat" für Poulantzas eine "materielle Verdichtung eines
Kräfteverhältnis zwischen Klassen und Klassenfraktionen, dass sich im
Staat immer in spezifischer Form ausdrückt."6
Greifbaren Ausdruck findet Staatlichkeit in den Staatsapparaten. Diese
sind aber selbst von den gesellschaftlichen Machtbeziehungen durchsetzt.7
Entscheidende Funktion von Staat wird damit die Organisation des im Anschluss
an Gramsci so bezeichneten "Blocks an der Macht", also der herrschenden
Kapitalfraktionen,8 und deren Absicherung gegen die beherrschten Klassen.
Dabei müssen sich die Interessen der verschiedenen Kapitalfraktionen nicht
stets decken. Widersprüche und Auseinandersetzungen sind normal.
Es entsteht somit ein differenziertes Modell von Staatlichkeit, dass unterschiedliche
Ausprägungen besitzen kann. Entscheidend ist, dass es "den" Staat als
Hort aller gesellschaftlichen Macht nicht gibt. Damit setzt sich Poulantzas
von dem Teil marxistischer Theoretiker ab, die den Staat auf ein "Instrument
der herrschenden Klasse" reduzieren wollten. Ein schlichter Austausch
der herrschenden Klasse reicht eben nicht aus.
Auseinandersetzungen um gesellschaftliche Herrschaft spielen sich vielmehr
in den unterschiedlichen Staatsapparaten ab. Politische Kämpfe werden
daher auch erfolglos bleiben, wenn sie darauf gerichtet sind, einmal "die"
Macht über "den" Staat zu erlangen.
Globalisierung und Staatlichkeit
Welcher Gewinn lässt sich aus den Ansichten von Poulantzas für die Analyse
von Globalisierung und Staatlichkeit ziehen? Besonders die Formel von
Staat als der "materiellen Verdichtung von (ökonomischen und damit gesellschaftlichen)
Kräfteverhältnissen" kann von Nutzen sein.
Klar ist, dass sich vormals nationalstaatliche Kräfteverhältnisse nicht
ungebrochen auf globaler Ebene wieder begegnen. Zwar lassen sich einzelne
"globale" Kapitalfraktionen erkennen, für viele Auseinandersetzungen bleibt
der Nationalstaat aber noch zentraler Bezugspunkt.
Zugleich hat die Internationalisierung von Produktionsverhältnissen mit
dem Zusammenbruch des Ostblocks eine neue Dynamik gewonnen. Weiterhin
gewinnen die Finanzmärkte an Bedeutung für die Organisation der materiellen
Produktion. Gerade für diese sind nationalstaatliche Rahmen und auf diesen
Ebenen organisierte Regulierungen eher hinderlich.
Dabei kann es nicht darum gehen, Spuren dafür zu finden, wie sich auf
globaler Ebene Apparate ähnlich des Nationalstaats europäischer Prägung
entwickeln. Dies ist nach Poulantzas aber auch nicht nötig. Eine "materielle
Verdichtung von Kräfteverhältnissen" muss nicht zwangsläufig auf einer
(horizontalen) Ebene statt finden. Denkbar ist auch, dass bestimmte Verdichtungen
die nationalstaatlichen Grenzen bereits hinter sich gelassen haben, während
in anderen Bereichen der Nationalstaat weiterhin den Rahmen bietet.
Geht man damit weiterhin davon aus, dass sich diese Kräfteverhältnissen
innerhalb von Staatlichkeit auch jeweils unterschiedlich auswirken können,
so könnte dies einen Erklärungsansatz für aktuelle "Kohärenzprobleme"
internationaler Politik sein.9 Die in jeder spezifischen Verdichtung manifestierten
(Klassen-)Interessen könnten demnach Hinweise darauf geben, warum bestimmte
internationale Recht-Regime durchsetzungsfähiger sind als andere. Deutlich
wird dies beispielsweise an der Frage, wieso im Falle eines Konflikts
einer Regelung im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) mit internationalen
Vereinbarungen zum Umwelt- oder Arbeitsschutz in der Regel die WTO-Regelung
obsiegt, während die ebenfalls zwischen Staaten getroffenen Vereinbarungen
im sozialen und ökologischen Bereich hintenanstehen.
Eine Erkenntnis vor allem für globalisierungskritische Bewegungen könnte
sein, dass es eben nicht reicht, neben internationalen Vereinbarungen
im wirtschaftlichen Bereich auch Abkommen im sozialen Bereich zu schließen.
Die Auseinandersetzung ist vielmehr auch innerhalb der jeweiligen internationalen
Institutionen zu suchen.
Die Überlegungen von Poulantzas könnten ein Ansatzpunkt sein, aktuelle
Transformationen von Staatlichkeit und beginnende Konstitutionalisierungsprozesse
auf globaler Ebene zu beschreiben. Gerade die Betrachtung der Welthandelsorganisation
könnte ein gutes Beispiel für eine Untersuchung darüber sein, wie Kräfteverhältnisse
zum einen die international verhandelnden Nationalstaaten, aber auch und
nicht immer deckungsgleich mit den nationalstaatlichen Verhandlungspositionen
die internationalen Organisationen selbst durchziehen. Interessant könnte
auch sein, die Entwicklung der Europäischen Union anhand dieser Theorie
zu untersuchen.
Für die Analyse der Entwicklung von Staatlichkeit im globalen Kontext
bedeutet dies, dass ein Blick auf die Entwicklung der Produktionsverhältnisse
und die daraus folgenden Kräfteverhältnisse Indizien für die Beschreibung
der aktuellen Ausprägung von Staatlichkeit bieten kann. Von einem "Ende
von Staatlichkeit" zu sprechen, ist jedenfalls nicht weiterführend.
Thilo Scholle studiert Jura in Münster.
Anmerkungen:
1 Marx, Karl, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Marx-Engels-Werke
(MEW) Band 8, 1973, 115.
2 Marx, Karl, Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW Band 13, 1972,
8.
3 Marx, Karl / Engels, Friedrich, Die deutsche Ideologie, in: MEW Band
3, 1969, 62.
4 Poulantzas, Nicos, Staatstheorie, 64.
5 Ebd., 57.
6 Ebd., 159.
7 Ebd., 74.
8 Ebd., 157.
9 Ulrich Brand, Gegen-Hegemonie. Perspektiven Globalisierungskritischer
Strategien, Hamburg 2005, S. 53.
Literatur:
Brand, Ulrich, Gegen-Hegemonie - Perspektiven Globalisierungskritischer
Strategien, 2005.
Poulantzas, Nicos, Staatstheorie, 1978.
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