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  Thilo Scholle   Forum Recht Home

 

Globalisierung und die Theorie des Staates   Heft 4/2006
Transnational Concerns:
Facetten der Globalisierung
Seite 120-121
Einige Gedanken zum 70. Geburtstag von Nicos Poulantzas  
 


Das Ende des Staates?

Über das Ende des Staates "wie wir ihn kennen" ist in den vergangenen Jahren oft spekuliert worden. Der Nationalstaat klassischer Prägung sei tot, neue Formen von Staatlichkeit auf internationaler Ebene bislang nicht in Sicht und Pack-Enden für eine politische Gestaltung der Globalisierung damit aktuell nicht zu finden.
Zu kritisieren ist an solchen Sichtweisen vor allem, dass sie mehrere Schritte vor dem ersten tun.
Zu Fragen ist zunächst, was denn "Staat" eigentlich ist. Sich dabei auf eine oberflächliche Beschreibung der Institutionen des europäischen "Nationalstaats" zu beschränken, greift dabei deutlich zu kurz. Verkannt wird, dass sich Staatlichkeit historisch stets unterschiedlich ausgeprägt hat, und dass in andere Weltregionen eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Ausprägungen von Staatlichkeit existieren.
Auch wenn man die in der Rechtswissenschaft gängige Formel von Staatlichkeit als der Verbindung von Staatsterritorium, Staatsvolk und Staatsgewalt zum Indiz nimmt, so zeigt sich, dass die einzelnen Merkmale sehr unterschiedlich ausgeprägt sein können. Zu einer tieferen Definition dessen, was Staatlichkeit nun im Kern ausmacht, kann diese Formel nicht beitragen.
Zu berücksichtigen ist zudem, dass meist je nach politischem Standpunkt des Betrachters bestimmte Anforderungen an den Staat in die Analyse dessen einfließen, was denn Staat eigentlich ist. Je nach politischer Richtung kann das Ende der Staatlichkeit demnach mit dem (vermeintlichen) Verlust der Fähigkeit, regulierend in die Ökonomie einzugreifen erreicht sein, während für eine (neo-)liberale Betrachtung hier vielleicht erst der eigentliche Kern von Staatlichkeit beginnt.
Grundsätzlich scheint nach wie vor eine materialistische Grundlage die beste Ausgangsbasis für eine Analyse von Staatlichkeit zu sein. Mit Karl Marx gesprochen hieße dies: "Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen."1
In diesem Sinne ist zuvorderst die Rolle des Staates im Zusammenhang mit den Produktionsverhältnissen und dem Stand kapitalistischer Vergesellschaftung zu analysieren. Die in diesem Zusammenhang wohl am meisten zitierte Textstelle ist die folgende: "In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt."2
An anderer Stelle spricht Marx davon, dass der Staat die Form ist, in welcher die Individuen einer herrschenden Klasse ihre gemeinsamen Interessen geltend machten und die ganze bürgerliche Gesellschaft einer Epoche sich zusammenfasse. Daraus folge, dass alle gemeinsamen Institutionen durch den Staat vermittelt werden, gewissermaßen eine politische Form erhalten.3
Auch aktuelle Veränderungen von Staatlichkeit können also nicht losgelöst von einer Betrachtung des aktuellen Kapitalismus diskutiert werden.
Im folgenden soll ein Versuch unternommen werden, im Anschluss an Nicos Poulantzas einige Felder für eine weiterzuführende Diskussion um Staatlichkeit in Zeiten von Globalisierung abzustecken. Dabei sollen zentrale Überlegungen Poulantzas' skizziert, und anschließend auf ihre Tauglichkeit für die Analyse heutiger Veränderungsprozesse überprüft werden.

Der Ansatz von Nicos Poulantzas (1936-1979)

Nicos Poulantzas, 1936 in Athen geboren, ging Anfang der 1960er Jahre nach Frankreich, wo er bis zu seinem Freitod 1979 lebte und forschte. Ein Arbeitsschwerpunkt war dabei die Theorie des kapitalistischen Staates.
Ausgangspunkt der staattheoretischen Überlegungen Poulantzas' ist dabei zunächst, dass sich "Staatlichkeit" nicht auf politische Herrschaft reduzieren lässt.
Der "Staat" ist demnach nicht etwas den kapitalistischen Produktionsverhältnissen - also der gesellschaftlichen Organisation des Arbeitsprozesses - äußeres, sondern ist bereits in ihnen selbst präsent. Dabei machen sich die aus den Produktionsverhältnissen entspringenden Verteilungen von Macht und die Entstehung von Klassen auch im Staat selbst geltend. Entscheidend für den Einfluss von gesellschaftlichen Klassen im Staat ist ihre über die Produktionsverhältnisse vermittelte Möglichkeit, die Produktionsmittel in Gang zu setzen und den Arbeitsprozess zu beherrschen.4
Durch die Stellung des Staates bereits in den Produktionsverhältnissen selbst bedingt sich, dass die dort vorhandenen Auseinandersetzungen zwischen den Klassen auch im Staat selbst präsent sind. Im Anschluss an Antonio Gramsci geht Poulantzas davon aus, dass sich staatliche Tätigkeit dabei nicht in Repression erschöpft, sondern die Ideologie eine wichtige Rolle der Absicherung von Herrschaft spielt. "Die Ideologie besteht nicht nur aus einem System von Ideen oder Vorstellungen: sie betrifft auch eine Reihe von Praktiken, Bräuchen, Sitten, Lebensstil und vermischt sich so wie Zement mit der Gesamtheit der gesellschaftlichen Praktiken inkl. der politischen und ökonomischen Praktiken. Die ideologischen Beziehungen spielen in der Konstitution der Beziehungen des ökonomischen Eigentums und des Besitzes, in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung der Arbeit innerhalb der Produktionsverhältnisse eine wesentliche Rolle."5
Im Kern ist "Staat" für Poulantzas eine "materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnis zwischen Klassen und Klassenfraktionen, dass sich im Staat immer in spezifischer Form ausdrückt."6
Greifbaren Ausdruck findet Staatlichkeit in den Staatsapparaten. Diese sind aber selbst von den gesellschaftlichen Machtbeziehungen durchsetzt.7 Entscheidende Funktion von Staat wird damit die Organisation des im Anschluss an Gramsci so bezeichneten "Blocks an der Macht", also der herrschenden Kapitalfraktionen,8 und deren Absicherung gegen die beherrschten Klassen. Dabei müssen sich die Interessen der verschiedenen Kapitalfraktionen nicht stets decken. Widersprüche und Auseinandersetzungen sind normal.
Es entsteht somit ein differenziertes Modell von Staatlichkeit, dass unterschiedliche Ausprägungen besitzen kann. Entscheidend ist, dass es "den" Staat als Hort aller gesellschaftlichen Macht nicht gibt. Damit setzt sich Poulantzas von dem Teil marxistischer Theoretiker ab, die den Staat auf ein "Instrument der herrschenden Klasse" reduzieren wollten. Ein schlichter Austausch der herrschenden Klasse reicht eben nicht aus.
Auseinandersetzungen um gesellschaftliche Herrschaft spielen sich vielmehr in den unterschiedlichen Staatsapparaten ab. Politische Kämpfe werden daher auch erfolglos bleiben, wenn sie darauf gerichtet sind, einmal "die" Macht über "den" Staat zu erlangen.

Globalisierung und Staatlichkeit

Welcher Gewinn lässt sich aus den Ansichten von Poulantzas für die Analyse von Globalisierung und Staatlichkeit ziehen? Besonders die Formel von Staat als der "materiellen Verdichtung von (ökonomischen und damit gesellschaftlichen) Kräfteverhältnissen" kann von Nutzen sein.
Klar ist, dass sich vormals nationalstaatliche Kräfteverhältnisse nicht ungebrochen auf globaler Ebene wieder begegnen. Zwar lassen sich einzelne "globale" Kapitalfraktionen erkennen, für viele Auseinandersetzungen bleibt der Nationalstaat aber noch zentraler Bezugspunkt.
Zugleich hat die Internationalisierung von Produktionsverhältnissen mit dem Zusammenbruch des Ostblocks eine neue Dynamik gewonnen. Weiterhin gewinnen die Finanzmärkte an Bedeutung für die Organisation der materiellen Produktion. Gerade für diese sind nationalstaatliche Rahmen und auf diesen Ebenen organisierte Regulierungen eher hinderlich.
Dabei kann es nicht darum gehen, Spuren dafür zu finden, wie sich auf globaler Ebene Apparate ähnlich des Nationalstaats europäischer Prägung entwickeln. Dies ist nach Poulantzas aber auch nicht nötig. Eine "materielle Verdichtung von Kräfteverhältnissen" muss nicht zwangsläufig auf einer (horizontalen) Ebene statt finden. Denkbar ist auch, dass bestimmte Verdichtungen die nationalstaatlichen Grenzen bereits hinter sich gelassen haben, während in anderen Bereichen der Nationalstaat weiterhin den Rahmen bietet.
Geht man damit weiterhin davon aus, dass sich diese Kräfteverhältnissen innerhalb von Staatlichkeit auch jeweils unterschiedlich auswirken können, so könnte dies einen Erklärungsansatz für aktuelle "Kohärenzprobleme" internationaler Politik sein.9 Die in jeder spezifischen Verdichtung manifestierten (Klassen-)Interessen könnten demnach Hinweise darauf geben, warum bestimmte internationale Recht-Regime durchsetzungsfähiger sind als andere. Deutlich wird dies beispielsweise an der Frage, wieso im Falle eines Konflikts einer Regelung im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) mit internationalen Vereinbarungen zum Umwelt- oder Arbeitsschutz in der Regel die WTO-Regelung obsiegt, während die ebenfalls zwischen Staaten getroffenen Vereinbarungen im sozialen und ökologischen Bereich hintenanstehen.
Eine Erkenntnis vor allem für globalisierungskritische Bewegungen könnte sein, dass es eben nicht reicht, neben internationalen Vereinbarungen im wirtschaftlichen Bereich auch Abkommen im sozialen Bereich zu schließen. Die Auseinandersetzung ist vielmehr auch innerhalb der jeweiligen internationalen Institutionen zu suchen.
Die Überlegungen von Poulantzas könnten ein Ansatzpunkt sein, aktuelle Transformationen von Staatlichkeit und beginnende Konstitutionalisierungsprozesse auf globaler Ebene zu beschreiben. Gerade die Betrachtung der Welthandelsorganisation könnte ein gutes Beispiel für eine Untersuchung darüber sein, wie Kräfteverhältnisse zum einen die international verhandelnden Nationalstaaten, aber auch und nicht immer deckungsgleich mit den nationalstaatlichen Verhandlungspositionen die internationalen Organisationen selbst durchziehen. Interessant könnte auch sein, die Entwicklung der Europäischen Union anhand dieser Theorie zu untersuchen.
Für die Analyse der Entwicklung von Staatlichkeit im globalen Kontext bedeutet dies, dass ein Blick auf die Entwicklung der Produktionsverhältnisse und die daraus folgenden Kräfteverhältnisse Indizien für die Beschreibung der aktuellen Ausprägung von Staatlichkeit bieten kann. Von einem "Ende von Staatlichkeit" zu sprechen, ist jedenfalls nicht weiterführend.

Thilo Scholle studiert Jura in Münster.

Anmerkungen:

1 Marx, Karl, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Marx-Engels-Werke (MEW) Band 8, 1973, 115.
2 Marx, Karl, Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW Band 13, 1972, 8.
3 Marx, Karl / Engels, Friedrich, Die deutsche Ideologie, in: MEW Band 3, 1969, 62.
4 Poulantzas, Nicos, Staatstheorie, 64.
5 Ebd., 57.
6 Ebd., 159.
7 Ebd., 74.
8 Ebd., 157.
9 Ulrich Brand, Gegen-Hegemonie. Perspektiven Globalisierungskritischer Strategien, Hamburg 2005, S. 53.

Literatur:

Brand, Ulrich, Gegen-Hegemonie - Perspektiven Globalisierungskritischer Strategien, 2005.
Poulantzas, Nicos, Staatstheorie, 1978.