Heft 2 / 2002: Wach- und Schließgesellschaft Konsequenzen der Kriminalisierungspolitik |
Anna Luczak | |
Mafiakraken | |
Die Konstruktion "organisierte Kriminalität" |
Deutschland befindet sich in den Fängen der Mafia-Kraken. Davon gehen sowohl ein jüngst erschienenes Buch 1 als auch der Bundesinnenminister aus.2 Seit Mitte der 80er Jahre gilt die organisierte Kriminalität (OK) als so große Gefahr, dass sich der Rechtsstaat ihrer mit allen erdenklichen Mitteln erwehren muss. Seinen vorläufigen Höhepunkt fand dieser Abwehrkampf 1992 in der Verabschiedung des Gesetzes zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität (OrgKG), das unterschiedlichste strafprozess- und materiellrechtliche Veränderungen mit sich brachte, denen eines jedenfalls gemein war: sie bedeuten eine Ausweitung der Eingriffsbefugnisse der Strafverfolgungsbehörden und damit Einschränkungen der persönlichen Freiheiten. Allerdings ist die Bedrohungslage durch organisierte Kriminalität, die zur Begründung solcher Maßnahmen angeführt wird, bislang weder begrifflich eindeutig dargestellt noch empirisch festgestellt worden. Eindeutig ist hingegen der Inhalt der Maßnahmen. Dieses Ungleichgewicht in der inhaltlichen Klärung hat zur Folge, dass nicht festgestellt werden kann, ob die Maßnahmen der Erreichung des unklaren Ziels, der Bekämpfung der organisierten Kriminalität tatsächlich dienen. Wenn die Bedrohungslage nicht genau bestimmt werden kann, können auch nicht das Ausmaß oder eine mögliche Verringerung des Ausmaßes aufgrund der zur Bekämpfung getroffenen Regelungen bestimmt werden. Allerdings ist eindeutig zu erkennen, dass die unklare Bedrohungslage als Begründung für die Umsetzung der Regelungen dienlich ist. Daraus ergibt sich, dass ein Zusammenhang zwischen der Bekämpfung der organisierten Kriminalität, und den getroffenen Regelungen nur hergestellt werden kann, wenn die Maßnahmen zum Ausgangspunkt der Definition genommen werden. Die Kriminalitätsform "organisierte Kriminalität" lässt sich also nur in Beziehung zu den angestrebten Veränderungen inhaltlich bestimmen: Organisierte Kriminalität ist das, was zur Begründung der Notwendigkeit bestimmter besonderer Ermittlungsmethoden und allgemein der Umgestaltung des Ermittlungsverfahren angeführt wird. Der Begriff "organisierte Kriminalität" Die begriffliche Unschärfe und der fehlende Nachweis der tatsächlichen Existenz einer Gefahr aufgrund organisierter Kriminalität zeigen sich in den politischen Konzepten ebenso wie in wissenschaftlichen Untersuchungen. So stellt der Sicherheitsbericht des Bundesinnenministeriums fest, dass "deutliche Schwierigkeiten darin bestehen, sich auf ein gemeinsames Problemverständnis zu einigen." 3 Es entziehe sich einer eindeutigen Definition, was organisierte Kriminalität "wirklich" ist. Auf europäischer Ebene wird im Rahmen einer Strategie zur transnationalen Bekämpfung von organisierter Kriminalität die Aussage getroffen, dass über deren Charakter und Umfang nichts bekannt sei. 4 In den meisten Gesetzesbegründungen fehlt ganz einfach jegliche Auseinandersetzung mit Inhalt und Ausmaß der Gefahr, aufgrund derer die gesetzliche Maßnahme ergriffen wurde - Existenz und spezifische Gefahr aufgrund organisierter Kriminalität werden stillschweigend vorausgesetzt. Zuletzt wurde beim Zeugenschutzharmonisierungsgesetz, das am 27. September 2001 vom Bundesrat verabschiedet wurde, die besondere Gefahr für Zeugen in Verfahren wegen organisierter Kriminalität ohne weiteren Beleg angenommen. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit organisierter Kriminalität findet auf empirischer oder theoretischer Ebene statt. Interessant ist zunächst, ob der Wissenschaft ein empirischer Nachweis organisierter Kriminalität gelungen ist. Unabhängige Forschung, die die Existenz des Phänomens "organisierte Kriminalität" beweist, gibt es bislang nicht. 5 Die vorhandene empirische Forschung beruht weitgehend auf polizeilichen Quellenangaben, wenn sie nicht schon polizeiliche Auftragsarbeit ist. 6 Die Richtigkeit der Ergebnisse der auf dem Polizeiverständnis von organisierter Kriminalität aufbauenden Untersuchungen, die das Vorhandensein einer spezifischen Gefahr aufgrund von organisierter Kriminalität bejahen, ist allerdings in Zweifel zu ziehen. Das zeigt sich, wenn die Ausfüllung des Begriffs in der polizeilichen Praxis betrachtet wird. Polizeiliches OK-Verständnis Die begriffliche Unschärfe ist von Seiten der Polizei nicht unerwünscht. So weigern sich beispielsweise die Bundesstrafverfolgungsorgane in den USA, das Phänomen der organisierten Kriminalität allzu genau zu beschreiben, weil die vagen Gesetze für sie von Vorteil sind. Eine genaue Definition würde die Anwendbarkeit von besonderen Methoden und Verfahren auf die dann genau definierten Fälle eingrenzen. Der organisierten Kriminalität zuzurechnen ist nach dieser Logik des Federal Bureau of Investigation jeder Fall, der mit einem besonderen, speziell für die Bekämpfung der organisierten Kriminalität entwickelten Instrumentarium, das weitgehende Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte der Beschuldigten ermöglicht (Racketeer Influenced and Corrupt Organizations Act/RICO) bekämpft werden kann. 7 In Deutschland erstellt das Bundeskriminalamt seit 1991 jährlich einen Lagebericht zur organisierten Kriminalität, in dem es die einzelnen Verfahren, die von der Polizei als "OK-relevant" eingeordnet werden, auflistet. Die Definition, die im Jahr 1990 von der AG Justiz/Polizei entwickelt wurde und die dieser polizeilichen Einschätzung zugrunde liegt, ist an Breite nicht zu überbieten: "Organisierte Kriminalität ist die von Gewinn- oder Machtstreben bestimmte planmäßige Begehung von Straftaten, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher Bedeutung sind, wenn mehr als zwei Beteiligte auf längere oder unbestimmte Dauer arbeitsteilig, (a) unter Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen oder (b) unter Anwendung von Gewalt oder anderer zur Einschüchterung geeigneter Mittel oder (c) unter Einflussnahme von Politik, Medien, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft zusammenwirken." Dadurch dass die OK-Merkmale alternativ und nicht kumulativ vorliegen müssen, kann jede MehrfachtäterInnengruppierung, die nicht nur spontane Gelegenheitstaten begeht, darunter gefasst werden. Es obliegt also hauptsächlich der Polizei, selbst zu bestimmen, was sie als organisierte Kriminalität ansieht, und demnach auch, welches Ausmaß das Problem in Deutschland annimmt. So kann eine Polizei durch restriktive Auslegung der Definition den Umfang der organisierten Kriminalität in dem entsprechenden Bundesland oder in der Stadt verringern. Andersherum kann bei Einbeziehung von Jugendbanden, die Raubüberfälle begehen, die ermittelte Deliktszahl der organisierten Kriminalität deutlich erhöht werden, da statistisch gesehen die Überzahl der MehrfachtäterInnen im Bereich der Jugendkriminalität zu finden ist. Ergebnisse empirischer Forschung, die polizeiliche Angaben zur Grundlage hat oder von der Polizei selbst unternommen wird, sind also als Beleg für die Existenz organisierter Kriminalität und einer dadurch entstehenden besonderen Gefahr für Staat und Gesellschaft ungeeignet. Theoretische Begriffsbildung Auch von der theoretischen Forschung wurde eine Begriffsklärung bisher nicht erreicht. Entweder sind die Definitionsversuche ähnlich weit, wie die oben genannte Definition der AG Justiz/Polizei, oder es konnte keine Einigung über sie erzielt werden. Jedes Merkmal, das irgendwann übereinstimmend als wichtig charakterisiert wurde, hat gleichzeitig wieder Gegenbeispiele gefunden. Das einzige, das immer wiederkehrt, ist die Bezogenheit auf "Gruppierungen", worunter alles verstanden wird, was mehrere Personen umfasst - also alles von der festen Hierarchie bis zur Arbeitsbeziehung für die Begehung einer Einzeltat. Zur Eingrenzung des Begriffsinhalts ist das Merkmal der "Gruppierung" also grundsätzlich nicht geeignet. Dasselbe gilt für den Begriff der "Organisiertheit", der deswegen leerläuft, weil zum Beispiel der Handel mit illegalen Gütern ohne Arbeitsteilung und Ablaufplanung nicht durchführbar ist, so dass sich in bestimmten Bereichen die Organisiertheit der Tatbegehung aus der Natur der Sache ergibt. Eine Theorie der organisierten Kriminalität hat geschichtlich unterschiedlichste Gestalt angenommen, die von der ursprünglichen Kennzeichnung des Chicagoer Berufsverbrechertums über die Charakterisierung als Einwandererkriminalität ("alien conspiracy theory") bis zur neueren westeuropäischen Unternehmenstheorie reicht ("entrepreneurial crime theory"), die als organisierte Kriminalität den Handel auf illegalen Märkten bezeichnet. Bis heute existiert kein eindeutiger Erklärungsansatz. Organisierte Kriminalität ist nicht mehr als ein Bild, das zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten unterschiedliche Wirklichkeiten bezeichnet. 8 Interessantes Beiwerk derartiger begrifflicher Unschärfen ist die teilweise zu findende Subjektivierung des Ausdrucks, wobei organisierte Kriminalität in personifizierter Form als handelnde Figur angesprochen wird: "Denn das Organisierte Verbrechen paßt seine vielfältigen illegalen Aktivitäten dem Wandel der Wirtschafts- und Sozialstruktur einer Gesellschaft flexibel an und reagiert auf gesellschaftliche Kontrollmaßnahmen mit großer Beweglichkeit ausweichend." 9 Hinzu kommt, dass grundsätzlich keine Unterscheidung zwischen der organisierten Kriminalität als solcher und der durch sie verursachten Gefahr für das Gemeinwesen gemacht wird. Inwiefern und wieso die Bedrohung durch organisierte Kriminalität größer ist als die durch "normale" Kriminalität wird im Unklaren gelassen. Die von ihr ausgehende Bedrohung wird ebenso pauschal und unhinterfragt konstatiert wie die Existenz des Phänomens selbst. Jedenfalls kann sowohl für den Ausdruck "organisierte Kriminalität" als auch für die darauf zurückgeführte Bedrohung des Gemeinwesens festgestellt werden, dass weder geklärt ist, was konkret darunter zu verstehen ist, noch, ob in der Realität etwas zu beobachten ist, das nicht nur die Existenz des Begriffs, sondern auch die dagegen unternommenen rechtlichen und politischen Schritte rechtfertigt. Der Ausdruck "organisierte Kriminalität" ruft vielgestaltige Assoziationen von der klassischen italienischen "Familie" bis zu den gewalttätigen "Russenmafiosi" hervor. Über Assoziationen hinaus kann jedoch keine inhaltliche Bestimmung gelingen. Vielmehr handelt es sich bei organisierter Kriminalität um ein pragmatisches Konzept, das, der polizeilichen Verbrechensbekämpfung folgend, von der Kriminalpolitik her definiert wird. 10 "Organisierte Kriminalität" beschreibt keinen Ausschnitt der Wirklichkeit, sondern ist ein Begründungsversatzstück, das die Erforderlichkeit staatlichen Handelns beweisen soll. Zur abstrakten Begründung der Notwendigkeit staatlicher Abwehrmaßnahmen eignet sich der auch in den Medien sehr präsente Ausdruck gerade wegen der damit verbundenen ungenauen Vielzahl an Assoziationen. Diese beschwören diffuse Gefahren herauf, auf die sich bestehende Unsicherheiten in der Bevölkerung beziehen können, denen wiederum ein "starker Staat" abhelfen soll. Zur Klärung dessen, was Inhalt und Sinn des Konzepts "organisierte Kriminalität" ist, müssen also die dagegen ergriffenen Maßnahmen zum Ausgangspunkt der Analyse gemacht werden. Kampfmaßnahmen Nimmt man die zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität getroffenen Regelungen in den Blick, so ergibt sich das Bild, dass der Schwerpunkt der Änderungen eindeutig auf der Ermittlungstätigkeit liegt. Es werden zwar auch einzelne Delikte und Maßnahmen zur Prävention von Kriminalität neu geregelt, aber die Neuregelungen hängen weitgehend mit dem Ermittlungsverfahren zusammen. Die Verknüpfung mit dem Ermittlungsverfahren manifestiert sich im Bereich des materiellen Rechts in der Einführung von Straftatbeständen, die den Straftatbereich ausdehnen und damit die Einleitung von Ermittlungsverfahren erleichtern. Ein Beispiel dafür ist der mit dem OrgKG eingeführte Tatbestand der Geldwäsche, der zu einem Zeitpunkt die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ermöglicht, in dem noch kein Verdacht auf die Begehung einer bestimmten Tat vorliegt, sondern nur ein auffälliges Finanzgebaren an den Tag gelegt wird. Der Bereich der Prävention findet seinen fließenden Übergang zum Ermittlungsverfahren in den so genannten "pro-aktiven" Ermittlungen, 11 bei denen unabhängig von jeglichem Straftatverdacht ein verdächtiges Milieu ausgeforscht wird. So finden in den polizeilichen Bekämpfungsstrategien vorrangig die von der Polizei als organisierte kriminelle Gruppierungen angesehenen Personenverbindungen Beachtung. Für das Ermittlungsverfahren selbst ergeben sich die weitreichendsten strukturellen Veränderungen durch die Einführung von verdeckten Ermittlungsmethoden. Dazu zählen Telefonüberwachungs- und Abhörmaßnahmen wie der Einsatz Verdeckter Ermittler und - praktisch sehr viel wichtiger - von V-Leuten. Daneben kommt es teilweise zu einer institutionellen Verschränkung mit den Geheimdiensten, wodurch die verdeckte Ermittlung als typische geheimdienstliche Arbeitsweise noch verstärkt wird. Insgesamt stellt sich diese Entwicklung als grundsätzlicher Paradigmenwechsel in der polizeilichen Strafverfolgungstätigkeit dar. Es geht nicht länger um reaktive und offene Aufklärung von begangenen Straftaten, sondern um personenbezogene verdeckte Ausforschung von polizeilich als gefährlich eingestuften gesellschaftlichen Wirklichkeitsbereichen. Potentiell besteht überall latenter OK-Verdacht. 12 Sinn der Konstruktion Der Begriff "organisierte Kriminalität" hat keine selbstverständliche, aus sich selbst heraus erklärliche Bedeutung, wie der bis heute nicht gelöste Streit um die richtige Definition zeigt. Das Konzept "organisierte Kriminalität" muss also ausgehend von den damit verbundenen Entwicklungen in der Kriminalpolitik inhaltlich bestimmt werden. Die Entwicklungen in der Kriminalpolitik haben eine klare Zielrichtung und damit die Konstruktion "organisierte Kriminalität" einen eindeutigen Sinn: es geht um eine grundsätzliche Umgestaltung des Ermittlungsverfahrens. Organisierte Kriminalität ist die Form von Kriminalität, die mit einer neuen Form von Ermittlungen bekämpft wird. Diese speziellen Ermittlungen werden bereits im Vorfeldbereich eingeleitet und haben zum Ausgangspunkt nicht konkrete Straftaten, sondern potentiell kriminelle Personenverbindungen. Außerdem zeichnen sie sich aus durch den extensiven Einsatz von besonderen, vornehmlich heimlichen Ermittlungsmethoden, die sich durch eine besonders intensive Form der Datenerhebung und -sammlung auszeichnen. Die OK-Ermittlungen gehen mit starken Eingriffen in die persönlichen Freiheiten der von einem Verfahren Betroffenen einher und bedeuten darüber hinaus für die gesamte Gesellschaft ein verändertes Kontroll- und Überwachungspotential. Daraus resultiert schließlich eine gesellschaftliche Verhaltensveränderung, die darauf zurückgeht, dass nicht mehr bestimmte vertypte Delikte die Grenze zwischen rechtmäßig und kriminell abstecken und ein abstrakter Angleich an das allgemeine Wohlverhalten an die Stelle tritt. 13 Mit Foucault kann die Auswirkung der potentiell alle betreffenden Überwachung so beschrieben werden: "Mit heimlichen Agenten und ihren umfassenden Unterwanderungsmöglichkeiten bildet die Delinquenz ein Instrument zur ständigen Überwachung der Bevölkerung: über die Kontrolle der Delinquenten lässt sich das gesamte gesellschaftliche Feld kontrollieren." 14 Das Abdanken der Konstruktion Dabei wird die Einschätzung der organisierten Kriminalität als Konstruktion zur Begründung von rechtsstaatlich bedenklichen Veränderungen des Strafverfolgungssystems noch dadurch unterstrichen, dass der Begriff zuletzt keine Verwendung mehr fand, als ein in dieselbe Richtung wirkender Gesetzentwurf als Begründungsversatzstück die Gefahr durch den internationalen Terrorismus verwendete. 15 Es ist abzusehen, dass der Konstruktion "organisierte Kriminalität" bis auf weiteres keine große Bedeutung mehr zukommt. Wie die Gefahr aufgrund von organisierter Kriminalität die besondere Gefahr durch den Linksterrorismus abgelöst hat, 16 so löst jetzt die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus die Mafiakraken ab. Anna Luczak lebt und promoviert in Freiburg. Anmerkungen: 1 Flormann, Willi/Krevert, Peter,
In den Fängen der Mafia-Kraken. Organisiertes Verbrechen in Deutschland,
Hamburg 2001. Literatur: Pütter, Norbert, Der OK-Komplex, Organisierte Kriminalität und
ihre Folgen für die Polizei in Deutschland, Münster 1998.
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