Heft 2 / 2002: Wach- und Schließgesellschaft Konsequenzen der Kriminalisierungspolitik |
Tanja Nitschke | |
Der Schaden, geboren zu sein | |
Der Bundesgerichtshof (BGH) befand in seinem Urteil vom 4.12.2001, dass die Eltern eines behinderten Kindes Anspruch auf Ersatz des gesamten Unterhaltsbedarfes des Kindes gegen den behandelnden Arzt haben, der bei pränatalen Untersuchungen schuldhaft nicht auf Schäden oder Mißbildungen des Kindes hingewiesen und damit dessen Abtreibung verhindert hat. Damit bestätigte der BGH seine bereits in den 80er Jahren begründete, unter dem Schlagwort "Kind als Schaden" bekannt gewordene ständige Rechtsprechung. Im konkreten Fall wurde allerdings ein Schadensersatzanspruch der Eltern verneint. Voraussetzung dafür sei nämlich die Zulässigkeit einer Abtreibung für den Fall, dass die vorgeburtlichen Schädigungen des Kindes rechtzeitig entdeckt worden wären. Eine Abtreibung sei nach der zur Zeit der Schwangerschaft geltenden Fassung des § 218 a Absatz III Strafgesetzbuch - der mittlerweile formell abgeschafften eugenischen Indikation - nicht zulässig gewesen, da hierbei eine Schädigung des gesunden eineiigen Zwillings sehr wahrscheinlich gewesen wäre. Fast zeitgleich löste ein Urteil des französischen Cour de Cassation (oberstes Zivilgericht) heftige Kritik aus, in dem einem behinderten Kind Schadensersatz für seine Geburt zugesprochen wurde. Auch hier ist die Argumentation für den Schadensersatzanspruch, dass bei ordnungsgemäßer Aufklärung durch den behandelnden Arzt das Kind abgetrieben worden wäre. Dem klagenden Kind wird so ein "Recht, nicht geboren zu werden" zugesprochen oder anders: Es bekommt Schadensersatz dafür, geboren zu sein. Aufgrund der heftigen Kritik von Behindertenverbänden und ÄrztInnen verabschiedete die französische Regierung im Januar 2002 ein Gesetz, das die Entschädigung von Behinderten für ihre Geburt ausschließt - so soll klargestellt werden, dass die Tatsache, behindert geboren zu sein, keinen Schaden darstellt. In ähnlicher Absicht stellte das Bundesverfassungsgericht bereits in einem Urteil vom Dezember 1997 unter Billigung der BGH-Rechtsprechung klar, dass nicht das behinderte Kind selbst als Schaden anzusehen sei, sondern der Unterhaltsaufwand für dieses. Diese Klarstellung ist allerdings eher nominell: Faktisch wird weiterhin Schadensersatz aus Anlaß der Geburt von für abtreibungswürdig befundenen behinderten Kindern zugesprochen - und damit das Unwerturteil, behindertes Leben stelle einen Schaden dar, aufrecht erhalten - werden. Weitere ähnlich gelagerte Fälle sind auch bereits beim BGH anhängig. Tanja Nitschke, Nürnberg. Quellen:
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