Heft 4 / 2002:
Aus dem Westen was Neues
Interessenpolitik durch Rechtsexport
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Politische Justiz
 

Revolutionäre aus den Zellen

Als letzter der fünf Angeklagten im Berliner RZ-Prozess ist Harald Glöde aus seiner über 28 Monate dauernden Untersuchungshaft entlassen worden. Gegen die Angeklagten wird seit über einem Jahr vor dem Ersten Strafsenat des Berliner Kammergerichts wegen Mitgliedschaft in den Revolutionären Zellen (RZ) und der Beteiligung an mehreren RZ-Aktionen Ende der achtziger Jahre verhandelt. In den vergangenen Monaten waren bereits Rudolf Schindler, Sabine Eckle und Axel Haug entlassen wurden, nach dem sie Aussagen vor Gericht gemacht hatten. Matthias Borgmann wurde wegen eines Unglücksfall unter Angehörigen gegen eine hohe Kaution entlassen
Obgleich das Gericht die Haftverschonung Glödes ähnlich mit einem schweren Krankheitsfall in dessen Familie begründete, dürfte der eigentliche Grund in einer Entscheidung des Bundesgerichthofes (BGH) zu finden sein. Die Strafprozessordnung sieht in der Regel eine Untersuchungshaftdauer von höchstens sechs Monate vor. Die Verteidigung hatte dies bereits in mehreren Haftbeschwerden bemängelt. Nach einer weiteren Beschwerde vor dem BGH stellte dieser nun für eine weitere Verlängerung der U-Haft die Bedingung, dass das Berliner Gericht endlich auch ein absehbares Ende des Hauptverfahrens benennen müsse.
Gerade das gestaltet sich für das Kammergericht als außerordentlich schwierig, wenn es weiterhin gewillt ist, die Angeklagten zu verurteilen. Das hatte es zumindest in den vergangenen Prozesstagen durch den Umgang mit dem Kronzeugen der Bundesanwaltschaft, dem Karatelehrer Tarek Mousli, mehr als deutlich gemacht. Obgleich dessen Aussagen sich durch bereits ausführliche Befragungen der Verteidigung und durch nicht zuletzt durch die vergebliche Suche nach einem von Mousli beschriebenen Sprengstoffdepot in Berliner Mehringhof als handfeste Räuberpistolen erwiesen, wurde an dem Zeugen und dem Verfahren festgehalten. Daran änderten auch die innerhalb der Linken umstrittenen Einlassungen der Betroffenen nichts. Obgleich sie deutlich machten, dass Mousli kein Mitläufer, sondern ein Haupttäter der RZ-Aktionen gewesen war.

Revolutionärin für die Zellen

Somit scheinen das Berliner Kammergericht und die Vertreter der Bundesanwaltschaft hinreichend über die Märchengeschichten des Lügenbarons Tarek Mousli informiert zu sein. Entsprechend unbeeindruckt nahmen sie auch die Aussagen einer Zeugin zur Kenntnis, die sich zu den 1986 abgegebenen Knieschüssen auf den damaligen Leiter der Berliner Ausländerbehörde, Harald Hollenberg, bekannte. Die unmenschliche Flüchtlingspolitik, für die Hollenberg verantwortlich gewesen ist, hätte sie seinerzeit für die Aktion motiviert. Mit Überwindung entschied sich die heute 63-Jährige nun für die Selbstbezichtigung: "Ich kann es nicht ertragen, dass jemand anders für etwas beschuldigt wird, das ich getan habe." Damit ergänzte sie die Einlassungen, die drei der Angeklagten bereits vor dem Gericht gegeben hatten, und widerlegte ebenfalls die Aussagen des Kronzeugen Mousli. Dieser hatte behauptet, dass seinerzeit Schindler in Begleitung der Mitangeklagten Eckle geschossen hätte. Mousli selbst trat aber laut Angaben der Zeugin nach der Aktion auf sie zu und habe sie "umarmt und beglückwünscht".
An dem Prozess wird wie selbstverständlich auch nach dieser Aussage festgehalten. Dass mittlerweile unberührt drei Aussagen der Angeklagten, die Aussage der Zeugin sowie inhaltlich übereinstimmende Erkenntnisse der Polizei den Erkenntnissen des Tarek Mousli gegenüberstehen, bleibt die Eigenart der freien Beweiswürdigung eines der "letzten, großen Terroristenprozesse".
Die Zeugin hätte im übrigen für die Schüsse strafrechtlich nichts zu befürchten, nach fast 16 Jahren gelten sie als verjährt. Also wurde nun offenbar auch gegen sie ein Verfahren wegen Mitgliedschaft in einer "terroristischen Vereinigung", der "Roten Zora", eingeleitet.

Leitsatz

In Sachsen wird es weniger Straftaten von Rechtsradikalen geben. Auch das Landgericht Leipzig lehnte es ab, den Neonazi Steffen Hupka als Mitveranstalter der Nazi-Demo vom 1. September 2001 zu bestrafen, bei der die Parole "Ruhm und Ehre der Waffen-SS" verkündet worden war. Die Ehrbekundung sei "den Leitlosungen der Waffen-SS und Hitlerjugend nicht zum Verwechseln ähnlich" und daher könne die Parole nicht unter den Tatbestand des Paragrafen 86a Strafgesetzbuch (StGB) subsumiert werden. Die Staatsanwaltschaft hatte mit einer Beschwerde gegen ein ähnlich lautendes Urteil des Amtsgericht die nächst höhere Instanz angerufen. Sie wollte endgültig geklärt haben, ob die Parole nicht doch der historischen Losung der Waffen-SS "Unsere Ehre heißt Treue" entspreche. Aber dafür fehle es an "eigenständiger Symbolik", meinten jetzt die RichterInnen.

Genua

"Im Juli 2001 ist es in Italien zu Menschenrechtsverletzungen gekommen, wie man sie in der jüngeren Geschichte Europas noch nie gesehen hat." resümierte am Ende Amnesty International nach der Auswertung verschiedener Dokumentationen und ZeugInnenaussagen zu den Vorfällen während des Protestes gegen den G 8 - Gipfels. Gleichwohl gelten auch ein Jahr nach dem brutalen Polizeieinsatz die einzelnen Vorfälle offiziell noch als ungeklärt. Mit ganzen acht Ermittlungsverfahren versucht die italienischen Staatsanwaltschaft angeblich immer noch den Todesschuss auf den Demonstranten Carlo Giuliani, den Überfall auf die Diaz-Schule und die unzähligen Gewalttätigkeiten und massiven Bedrohungen im Gefängnis der italienischen Hafenstadt aufzuklären.
Insbesondere die Ermittlungen zum Tod von Carlo Giuliani scheinen mehr auf die Verdunkelung denn auf die Aufklärung des Vorfalles zu zielen. Während der Todesschütze Placanica weiterhin behauptet, er hätte sich einer Notwehrsituation befunden, als er den Schuss abfeuerte, zeichnen diverse Foto- und Videoaufnahmen ein anderes Bild des Geschehens. So ist eine Notlage für den Carabinieri nicht zu erkennen. Vielmehr ist er es, der die Situation vor Ort aufheizt, in dem er mit seiner durchgeladene Pistole auf einzelne DemonstrantInnen zielt und ihnen droht: "Ich leg' euch alle um ihr Kommunistenschweine". Wenig später lag Giuliani erschossen am Boden. Die italienischen Behörden versucht offensichtlich, diesen deutlichen Bildern mit undurchsichtigen Ermittlungsergebnissen zu begegnen. So wird unter anderem immer noch die tödlich treffende Kugel vermisst. In den Autopsieberichten sollen außer der Schussverletzung keine weiteren Verletzungen dokumentiert sein, obgleich Giuliani mehrmals von einem schweren Militärjeep überrollt wurde. Des weiteren tauchen immer wieder Gerüchte um eine mögliche Täterschaft von Dritten auf. So wird behauptet, es seien mehr als zwei Schüsse abgegeben worden, einer davon von einem ebenfalls im Polizeiwagen befindlichen Vorgesetzten. Endgültig zur Farce werden die Ermittlungstätigkeiten der Polizei, wenn Theorien präsentiert werden, die physikalische Wunder zur Wirklichkeit werden lassen wollen: die Kugel die Carlo Giuliani tödlich traf, so ein im Juli von der Staatsanwaltschaft präsentierter Gutachter, sei von einem Stein abgefälscht worden, der von einem Demonstranten geworfen worden war.
Für 100 000 Menschen ist diese Art der Aufklärung bestenfalls blanker Hohn. Sie versammelten sich am 20. Juli in Genua, um zum Jahrestag der international organisierten Protestaktionen ihre Solidarität mit den Opfern der damaligen Polizeiübergriffe zu bekunden. Auf der Piazza Alimionda gedachten sie Carlo Giulianis, der an dieser Stelle von dem Polizisten erschossen worden war.

Deutsche Hilfsbeamte

"Ein Heer von Illegalen schlüpft durch jedes Netz." So betitelte die Deutsche Polizei, die Mitgliederzeitschrift der Gewerkschaft der Polizei (GdP), ihr Titelthema in der April-Ausgabe ihres Heftes. Das Blatt informierte seine Mitglieder durch einen profunden Kenner der inneren Sicherheit, Polizeiwesen und Innenpolitik. Der Autor Georg Bensch schreibt nämlich regelmäßig für eine weitere Mitgliederzeitung, die Deutsche Stimme, dem Parteiorgan der NPD.

Aus dem Auge

Zehn Jahre brauchte bekanntlich das Schweriner Landgericht, um drei Männer wegen der brandstiftenden Beteiligung an den Ausschreitungen gegen das Asylbewerberheim in Rostock-Lichtenhagen zu verurteilen. Nun sind auch die Ermittlungen gegen die Schweriner Staatsanwälte wegen Strafvereitelung im Amt eingestellt. Es sei nicht festzustellen gewesen, dass das Verfahren mit zehnjähriger Verzögerung begonnen worden sei, um Beschuldigte vor Strafe zu schützen. Der seinerzeit zuständigen Staatsanwaltschaft sei neben anderen wichtigen Verfahren "dieses Verfahren vorübergehend aus dem Blick geraten".

Angelo nero nicht gut verhandelt

Dabei wird man obigen Prozess wohl noch als beschleunigtes Verfahren betrachten müssen. Bei deutschen Makroverbrechen mahlen die Mühlen der Justiz deutlich langsamer. Über 50 Jahre benötigte die Hamburger Staatsanwaltschaft, um den ehemaligen SS-Obersturmbannführer Friedrich Engel wegen seiner Verbrechen im italienischen Genua vor Gericht zu bringen. Dabei hatte der einen düsteren Eindruck in seiner ehemaligen Wirkungsstätte hinterlassen. Noch heute sprechen die Menschen wahlweise von den "il boia di Genova", den Henker von Genua, oder "Angelo nero", den schwarzen Engel.
Bis vor der Jahren lebte der heute 93-jährige Mann als Holzkaufmann und Rentner weitgehend unbehelligt in Hamburg, obgleich er sich einmal selbst angezeigt hatte und in mehreren Prozesse gegen alte Kameraden aus der SS als Zeuge geladen war. Ein gegen ihn geführtes Ermittlungsverfahren wurde 1969 eingestellt und auch Hinweise der Ludwigsburger Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in den achtziger Jahren verliefen sich im Sande. Erst als 1999 ein Turiner Militärgericht den ehemaligen Chef des Sicherheitsdienstes (SD) der SS in Ligurien wegen der Ermordung von 246 italienischen Geiseln in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt worden war, sah sich die Staatsanwaltschaft der Hansestadt genötigt, den nunmehr verurteilten Kriegsverbrecher lieber selbst vor Gericht zu stellen.
Die eingereichte Anklageschrift beschränkte sich dann allerdings auf einen Vorfall vom 19. Mai 1944. An jenem Tag wurden als Vergeltung für einen Anschlag auf das deutsche Soldatenkino Odeon, bei dem fünf Soldaten getötet und 16 verletzt worden waren, 59 italienische Gefangene auf besonders grausame Weise exekutiert. Die Opfer wurden aus dem SD-Gefängnis Marassi ausgewählt und auf den Turchino Pass verbracht. Dort mussten sie in Sechsergruppen auf Bretter treten, die sich über einer zuvor von jüdischen Häftlingen ausgegrabenen Grube befanden. Ein aus Marinesoldaten zusammengestelltes Exekutionskommando schoss dann die Italiener in das nach und nach mit Leichen und Verletzten gefüllte Erdloch regelrecht "hinein".
Die Gosse Strafkammer 21 des Hamburger Landgerichts sah es nach mehreren Verhandlungstagen schließlich als erwiesen an, dass Engel die Verantwortung für dieses Massakers innehabe. Mehrere übereinstimmenden Zeugenaussagen von entkommenen Opfern aber auch von ehemaligen SS-Angehörigen bestätigten, dass die "Planung, Vorbereitung und Durchführung" in den Händen von Engel lag. Dieser ist sich indessen keiner Schuld bewusst und verweist wie so viele Naziverbrecher auf Befehlsnotstand und Kriegsrecht. Tatsächlich seien die Massenerschießungen von damaligen Gewohnheitsrecht umfasst gewesen, bestätigte das Gericht, dabei hätte allerdings die "Humanitätsschranke gewahrt" bleiben müssen. Das Landgericht wertete die von Engels euphemistisch als "Sühnemaßnahme" betitelte Racheaktion somit als gemeinschaftlich begangenen Mord und verurteilte den SS-Offizier zu sieben Jahren Haft.
Engel reagierte auf das Urteil "Mit Haltung. Das habe ich mein Leben lang gelernt". Tatsächlich heulte er auf die seinesgleichen typischen Art. Er fände, dass er "nicht gut behandelt worden" sei "vom kleinsten Deutschland, was wir je hatten [...] Ich kann es nicht lieben." Wenige Tage später legte der Greis Revision ein. (Aktenzeichen: 621 Ks 5/02)