Heft 4 / 1999:
Verfassungspotentiale?
50 Jahre Grundgesetz
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Positionspapier
Positionspapier zur Reform der JuristInnenausbildung in Reaktion auf den Beschluß der JustizministerInnenkonferenz vom 5. November 1998
 

Der Beschluß der Justizministerkonferenz vom 5. November 1998 zur Reform der juristischen Ausbildung enthält begrüßenswerte Ansätze. Er geht über die meisten Reformvorschläge seit der Abschaffung der Experimentierklausel zur Einphasigen Ausbildung im Jahre 1984 erheblich hinaus. Denn er beschränkt sich nicht darauf, kleinere Veränderungen innerhalb der Universitätsausbildung oder innerhalb des Referendariats vorzuschlagen. Vielmehr versucht er, grundsätzliche Mängel der tradierten deutschen JuristInnenausbildung mit ihrer überholten Trennung von Theorie- und Praxisausbildung zu beheben. Vieles bleibt jedoch hinter eingängigen Begriffen (Kleingruppenarbeit, Credit-Point-System, berufspraktische Probezeit etc.) noch undeutlich.
Die sich bietenden Reformchancen sollten nicht in der kurzsichtigen Absicht genutzt werden, nur die Kosten der Referendarausbildung einzusparen oder die Zahl der AbsolventInnen zu verringern. Die Diskussion um eine Reform der JuristInnenausbildung eignet sich auch nicht als Teil einer "Standort"-Debatte. Die Mehrzahl der AbsolventInnen der deutschen JuristInnenausbildung befindet sich auf dem Arbeitsmarkt weder gegenwärtig noch in absehbarer Zukunft in direktem Wettbewerb mit ihren europäischen KollegInnen. Mehr oder weniger kurzfristige "Standort"-Interessen eignen sich zudem nicht als Kriterium für die Ausbildung von verantwortlich handelnden JuristInnen. Die gegenwärtige Reformdebatte darf sich daher nicht auf die Aspekte einer Verkürzung, Verdichtung und Kostenentlastung um jeden Preis beschränken. Vielmehr müssen sich die Reformüberlegungen an der Qualität der Ausbildung orientieren und die durch sie frei werdenden Mittel sowohl in die Qualität der Ausbildung als auch in die Studienfinanzierung reinvestiert werden. Um die Ausbildung allen sozialen Schichten zu eröffnen, muß die Finanzierung der StudentInnen im Rahmen einer umfassenden Reform der Bildungsfinanzierung für alle Studiengänge sichergestellt werden. Solange nicht alle in der Ausbildung befindlichen Menschen eine ausreichende soziale Grundsicherung zugute kommt, müssen die Praxisphasen entsprechend dem derzeitigen Referendariat vergütet werden.
Zu den einzelnen Aspekten der Reform nehmen wir wie folgt Stellung:

Für die Ausbildung gesellschaftlich verantwortlich handelnder JuristInnen

Der Beschluß der Justizministerkonferenz nimmt keine Stellung zu der Frage, mit welchem Leitbild JuristInnen zukünftig ausgebildet werden sollen. Wir meinen, daß die Reform der Ausbildung dem folgenden Leitbild folgen muß: Sie muß in erster Linie dem Umstand Rechnung tragen, daß JuristInnen in verschiedenen Berufsfeldern eine besondere Verantwortung für die Gegenwart und Zukunft des gesellschaftlichen Zusammenlebens von Menschen tragen. Deshalb müssen JuristInnen während der Ausbildung nicht nur in juristischer Denkweise und Methodik wissenschaftlich geschult und mit den Kernbereichen des Rechts vertraut gemacht werden. Sie müssen durch die Einbeziehung von Erkenntnissen und Methoden anderer Disziplinen, insbesondere der Sozialwissenschaften, auch in die Lage versetzt werden, gesellschaftliche Zusammenhänge im nationalen und internationalen Rahmen zu durchdringen und die Funktionen von Recht und Rechtsanwendung in der sozialen Wirklichkeit sowie ihre eigene Rolle darin selbständig zu hinterfragen. Gerade die Erfahrungen der deutschen Geschichte lehren, daß die Vermittlung bloßer Subsumtionstechnik nicht ausreicht, um fundamentale Kategorien wie Demokratie und Menschenrechte zu erfassen.

Theorie-Praxis-Verzahnung

Wir begrüßen den Vorschlag, die Theorie-Praxis-Trennung aufzuheben und Praxisphasen in die Ausbildung zu integrieren. Es reicht jedoch nicht, eine Art verkürztes Referendariat als Block in die Universitätsausbildung aufzunehmen. Vielmehr können sich Universitäts- und Praxisausbildung nur dann im Interesse einer qualitativen Verbesserung der Ausbildung gegenseitig befruchten, wenn eine stärkere Verzahnung erfolgt. Ferienpraktika können diese Funktion nicht erfüllen. Vielmehr sind bereits frühzeitig Erfahrungen einer eigenen Tätigkeit in der Praxis nötig. Die erste größere Praxisphase sollte also so früh wie möglich beginnen - sobald genügend Kenntnisse in den Grundlagenfächern und in einem dogmatischen Fach erarbeitet worden sind, um sinnvoll in der Praxis mitarbeiten zu können. Das parallele Lernen von Theorie und Praxis soll sich durch die gesamte Ausbildung ziehen. Theorie-Praxis-Verzahnung muß heißen, daß die Theoriephasen an der Universität von Praktikern mit gestaltet und die Praxisphasen wissenschaftlich begleitet werden. Die bisherigen Mittel für Referendar-Arbeitsgemeinschaften können sinnvoll für die Finanzierung von Lehraufträgen für Praktiker verwendet werden.

Für eine Einheitsausbildungmit innovativen Spezialisierungsmöglichkeiten

Wir stimmen mit der Justizministerkonferenz darin überein, daß die universitäre Ausbildung von JuristInnen auch weiterhin zum Erwerb einer einheitlichen Befähigung für alle volljuristischen, reglementierten Berufe führen sollte. Die Ausbildung muß so angelegt sein, daß die AbsolventInnen auch weiterhin die Fähigkeit erwerben, sich schnell in unbekannte Rechtsfragen und -gebiete einzuarbeiten. Die traditionelle Fixierung der Ausbildung auf die Perspektive des Richters sollte weiter abgebaut werden.
Die Vertiefungs- und Spezialisierungsmöglichkeiten sollten innerhalb dieser Einheitsjuristenausbildung gegenüber dem bisherigen Wahlfachsystem wesentlich erweitert werden. Im Anschluß an die Einführungs- und Grundlagenphase sollten die Studierenden die Möglichkeit erhalten, sich sowohl hinsichtlich der einzelnen Rechtsgebiete als auch hinsichtlich der verschiedenen Berufsfelder und themenorientierter Schwerpunktfächer (z. B. EDV; Umwelt) zu spezialisieren. Ein breites Angebot an Spezialisierungsmöglichkeiten innnerhalb der Ausbildung kann auch dem Trend zu immer mehr für die AbsolventInnen kostspieligen und damit sozial selektierenden Aufbaustudiengängen entgegenwirken.

So wenig staatliche Vorgaben wie nötig - mehr Gestaltungsfreiheit der Universitäten

Die Universitäten sollten mehr Gestaltungsspielraum für die Ausbildung erhalten. Unabdingbare Voraussetzung hierfür ist die Demokratisierung der Hochschulstrukturen, d.h. eine grundsätzlich gleichberechtigte Beteiligung aller am Wissenschaftsprozeß beteiligten Gruppen bei hochschulinternen Entscheidungen. Die Universitäten sollten viel stärker als bisher die Möglichkeit bekommen, über inhaltliche Schwerpunkte ihrer Lehre ein eigenständiges Profil zu entwickeln. Dadurch läßt sich im Interesse der Studierenden eine Vielfalt des Angebots erreichen. Die Fakultäten erhalten einen zusätzlichen Anreiz, die Qualität der Ausbildung zu verbessern. Auf diese Weise können die Universitäten neben der wissenschaftlichen Ausbildung auch dem Bedarf des Arbeitsmarktes an Fachkräften mit innovativen Ausbildungsschwerpunkten gerecht werden.

Für einen Verzicht auf Staatsprüfungen

Die Organisation der juristischen Prüfungen durch staatliche Stellen ist kontraproduktiv, sofern die Fakultäten individuelle Profile weiterhin schärfen und das Leitbild der Ausbildung sich nicht mehr auf den traditionellen Richterberuf beschränkt, sondern sich an der Vielzahl der juristischen Berufe orientiert. Auch im internationalen Vergleich ist die Organisation der juristischen Abschlußprüfungen durch staatliche Prüfungsämter ein Sonderfall. Die Universitäten können in Zukunft die Prüfungen wie in anderen Studiengängen vollständig selbst übernehmen. Die staatlichen Vorgaben sollten sich auf allgemeine Qualitätsstandards zur Sicherung vergleichbarer Abschlüsse beschränken.

Ausbildungsdauer, begleitende Prüfungen, "Abschichtung" und Credit-Point-System

Die reformierte Ausbildung sollte innerhalb von sechs Jahren eine qualifizierte Ausbildung bieten, die den Zugang zu allen juristischen Berufen eröffnet. Eine Studienzeitbegrenzung lehnen wir ab. Auch ein Teilzeitstudium muß ermöglicht werden. Möglichst große Teile des Abschlußexamens sollten bereits in der zweiten Hälfte der Ausbildung erbracht werden können. Hierfür halten wir die Nutzung eines Credit-Points-Systems für denkbar, mit dem verschiedene Studienleistungen (z. B. Praktikumsleistungen und -berichte, Seminar- und Pro-jektarbeiten) honoriert werden.
Nach wie vor muß die JuristInnenausbildung allen offenstehen. Zugangsbeschränkungen mittels numerus clausus oder Auswahl der Studierenden durch die Universitäten sind ebenso abzulehnen wie die Reduzierung von Studienplätzen durch eine einseitige Erhöhung des Curricular-Normwertes. Vielmehr müsste eine Erhöhung des Curricular-Normwertes mit einer Erhöhung der Lehrkapazitäten einhergehen, damit eine verbesserte Betreuungsrelation von Lehrenden zu Studierenden ermöglicht wird, die keine Reduzierung von Studienplätzen zur Folge hat. Eine Zwischenprüfung als "kleines Examen" würde das Reformvorhaben konterkarieren und ist deshalb abzulehnen.

Zwischenabschluß

Wir halten es für denkbar, nach dem dritten oder vierten Studienjahr auf der Basis freiwilliger Teilnahme einen berufsqualifizierenden Zwischenabschluß einzuführen, vergleichbar dem britischen Bachelor oder der französischen Licence. Ein solcher Abschluß würde denjenigen AbsolventInnen zusätzliche Perspektiven eröffnen, die keine voll-juristische Qualifikation anstreben. Er könnte zudem das Risiko mindern, bei Nichterlangen des Abschlusses eine langjährige Ausbildung ohne berufsqualifizierenden Abschluß verlassen zu müssen. Die Leistungen für den Zwischenabschluß könnten weitgehend durch Credit-Point-Leistungen erbracht werden und würden daher für die Universitäten nur begrenzt zusätzliche Belastungen mit sich bringen.

Wechselmöglichkeiten innerhalb von Deutschland

Ungeachtet differenzierter Ausbildungsinhalte und -methoden muß es für die Studierenden möglich sein, die Ausbildung an verschiedenen Universitäten im gesamten Bundesgebiet zu absolvieren. Dieses wird technisch dadurch gewährleistet, daß die gesamte Ausbildung bei fortwährender Theorie-Praxis-Integration eine einheitliche Grundstruktur hat, die im ersten Studienabschnitt überwiegend auf die theoretische Wissensvermittlung und im weiteren Verlauf stärker auf den Praxisbezug ausgerichtet ist. Aufgrund dieser Vorgaben ist die uneingeschränkte gegenseitige Anerkennung jedes Ausbildungsabschnitts, insbesondere auch der Ausbildungsleistungen (z.B. auf der Basis eines Credit-Point-Systems) sowohl unter den einzelnen Bundesländern als auch unter den einzelnen Universitäten gesetzlich sicherzustellen. Das gleiche gilt für die Abschlußexamen.

Für internationale Kompatibilität

Die Theorie und Praxis integrierende JuristInnenausbildung muß international orientiert sein. Selbst wenn der Arbeitsmarkt nur für einen kleinen Teil der AbsolventInnen zu einer direkten Konkurrenz mit ihren KollegInnen aus anderen Ländern führt, nehmen die europäischen und weltweiten Bezüge der juristischen Tätigkeit in allen Bereichen beständig zu. Deutsches Recht ist schon heute stark von europäischen und internationalen Vorgaben beeinflußt. Dem muß die Ausbildung von Anfang an stärker Rechnung trage.
Die Ausbildungsreform muß daher so gestaltet sein, daß sie es Studierenden an deutschen Universitäten erlaubt, eine Auslandsstudienphase sinnvoll in ihre Ausbildung zu integrieren - möglichst unter Anrechnung der im Ausland erbrachten Leistungen.
Auch muß die deutsche JuristInnenausbildung noch stärker als bisher für Gaststudierende aus anderen Ländern geöffnet werden. Die Ausbildung ist daher so zu gestalten, daß sie ausländischen Studierenden an zwei bis drei Punkten einen sinnvollen Einstieg für ein Studienjahr ermöglicht.

Für einen freien Zugang zur Anwaltschaft

Juristische Ausbildung ist und bleibt staatliche Aufgabe. Die Verantwortung für Ziele und Inhalt darf nicht an Private delegiert werden. Eine durch die Anwaltschaft regulierte Ausbildung birgt die Gefahr in sich, daß Zugangsbeschränkungen dazu genutzt werden, sich vor Konkurrenz zu schützen, wenn Ausbildungsplätze nur in begrenztem Maße zur Verfügung gestellt werden. Darüber hinaus besteht die Gefahr, daß die Auszubildenden als billige Arbeitskräfte mißbraucht werden, da sie auf diesen Teil der Ausbildung angewiesen sind. In Großbritannien, wo dieses System eingeführt worden ist, ist es inzwischen sogar üblich, daß unter der Hand Geld von den Auszubildenden an die AnwältInnen gezahlt wird.
Ein universitärer Abschluß, der nicht berufsqualifizierend ist, ist abzulehnen. Die Verbindung von Theorie und Praxis in einer integrierten Ausbildung soll gerade eine solche Zusatzausbildung, wie sie das derzeitige Referendariat darstellt, überflüssig machen. Die Umsetzung des Vorschlages der Justizministerkonferenz würde daher an diesem Punkt keine nennenswerte Verbesserung gegenüber der bestehenden Situation bedeuten. Die Ausbildung nach unserem Modell vermittelt auch ohne Zusatzausbildung die Kompetenz, jeden juristischen Beruf zu ergreifen. Wie schnell der Weg in die Selbständigkeit tatsächlich beschritten wird, bleibt jedeR selbst überlassen; eine Tätigkeit in einer Kanzlei bleibt weiterhin möglich. Auch weiterbildende Kurse für Studierende, die in ihrer Ausbildung mehr Gewicht auf die Berufsfelder der Justiz oder Verwaltung gelegt haben, sind denkbar.

Bundesarbeitskreis kritischer Juragruppen (BAKJ)

Vereinigung demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ-West)

Fachausschuß der Richter und Staatsanwälte in der ÖTV

Neue Richter Vereinigung (NRV)

BAG Demokratie und Recht von Bündnis 90 / Die Grünen