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"Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren." So
lautet der erste Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
von 1948. Menschenrechte gelten also für Männer wie Frauen geschlechtsunabhängig
und in gleichem Maße. Das Merkmal der universalen und gleichen Geltung
ist integraler Bestandteil des Menschenrechtskonzepts. Umstritten ist
jedoch, ob die formelle Menschenrechtsgleichheit auch tatsächliche Gleichheit
zwischen den Geschlechtern zu erzeugen vermag, nach welchen Maßstäben
sich diese Gleichheit bemißt und ob sie - auf dem Hintergrund der feministischen
Debatte um Gleichheit und Differenz - überhaupt wünschenswert ist. Feministinnen
haben die These aufgestellt, daß die modernen Menschenrechte Allgemeinheit
zwar beanspruchen, diesen Anspruch jedoch nicht im Sinne der Herstellung
tatsächlicher, materialer Gleichheit und noch weniger im Sinne einer Gleichheit
in der Bedürfniserfüllung einzulösen imstande sind. Dabei geht es einerseits
um die Kritik der herrschenden Menschenrechtskonzeption als patriarchal
voreingenommener, andererseits jedoch - mit der Kritik an Gleichheit und
Rechtsdenken - um die Kritik der Kategorien selbst, die das Menschenrechtsdenken
prägen.
Menschen- und Frauenrechte in der Französischen Revolution
Die "Déclaration des droits de l'homme et du citoyen" von 1789, eines
der ersten zentralen menschenrechtlichen Dokumente, normiert in ihrem
ersten Artikel die Rechtsgleichheit aller Bürger - im Vergleich zur absolutistischen
Ständegesellschaft zweifellos ein progressives Element. Wer aber ist mit
dieser Gleichheit gemeint? Der französische Titel deutet mit dem Bezug
auf "l'homme", was Mann und Mensch bedeutet, und "citoyen", also Bürger,
bereits an, daß die Erklärung mit Bezug auf Männer gedacht wurde. Noch
deutlicher kommt dies in dem Menschenrechtskatalog der französischen Verfassung
von 1795 1 zum Ausdruck, deren Art.
4 lautet: "Keiner ist guter Bürger, wenn er nicht guter Sohn, guter Vater,
guter Bruder, guter Freund, guter Gatte ist." Frauen waren weiterhin vom
Wahlrecht ausgeschlossen. 2
Die proklamierte Rechtsgleichheit war offensichtlich problemlos mit dem
Ausschluß von Frauen kompatibel. Olympe de Gouges formulierte 1791 als
Antwort auf dieses Problem die "Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin".
3 Ihre Erklärung lehnt sich im Aufbau eng an die Erklärung
von 1789 an, weicht jedoch inhaltlich in wichtigen Punkten von ihr ab.
So hat de Gouges Formulierungen gewählt, die ausdrücklich Frauen und Männer
einbeziehen. Offensichtlich war nur dadurch zu gewährleisten, daß Frauen
als eigenständige Rechtssubjekte wahrgenommen wurden. Ein weiterer Unterschied:
Laut Art. 4 der Menschen- und Bürgerrechtserklärung besteht Freiheit darin
"alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet." Dies ist einen
negativer Freiheitsbegriff - andere werden als potentielle Bedrohung der
eigenen Freiheit gesehen, die davor durch Gesetze geschützt wird; Freiheit
ist ein dem Individuum zukommender "Raum", innerhalb dessen es für sich
selbst sorgen kann. Olympe de Gouges formuliert dagegen in Art. 4 ihrer
Erklärung: "Freiheit und Gerechtigkeit besteht (sic) darin, den anderen
zurückzugeben, was ihnen zusteht. So wird die Frau an der Ausübung ihrer
natürlichen Rechte nur durch die fortdauernde Tyrannei, die der Mann ihr
entgegensetzt, gehindert." Freiheit bedarf, um wirklich eine solche zu
sein, der tatsächlichen Mittel zu ihrer Verwirklichung; Freiheit realisiert
sich in der Beziehung zu anderen Menschen; Freiheit allein führt nicht
zwangsweise auch zu Gerechtigkeit und ist für Frauen in einer Welt patriarchaler
Unterdrückung nicht denkbar. Mit dieser Kritik am herrschenden Freiheitsbegriff
bezieht sich de Gouges auf ein der zentralen Kategorien des Menschenrechtsdenkens.
Heutige feministische Kritik hat diesen Aspekt aufgegriffen, macht sich
daneben jedoch auch am menschenrechtlichen Gleichheitsgedanken, nach dem
alle Menschen gleich an Rechten sind, fest.
Gleichheit und ihre Folgen
Die zunächst im Völkerrecht vorherrschende Sicht von Frauen als besonders
schutzwürdiger Gruppe, die z. B. durch ein Verbot der Arbeit in Bergwerken
oder nachts 4 geschützt werden mußte,
ist dem Paradigma der Gleichbehandlung gewichen. In vielen völkerrechtlichen
Verträgen wird heute die Diskriminierung aufgrund von Geschlecht verboten.
5
Der darin enthaltene Gleichheitsgedanke ist immanenter konzeptioneller
Bestandteil der "klassischen" Menschenrechte der ersten und zweiten Generation,
also der politischen Freiheits- und Mitbestimmungsrechte und der sozialen
Rechte: Wenn bestimmte Rechte allen Menschen qua Geburt zukommen, müssen
sie allen Menschen kraft ihrer - immer gleichen - Eigenschaft des Menschseins
auch in gleichem Maße zukommen. Die Implikationen dieses Ansatzes sind
in mehrererlei Hinsicht bedenkenswert:
Auf Gleichheit vor dem Recht kann sich aufgrund der Verknüpfung von angeborener
Gleichheit und Rechtsgleichheit nämlich nur berufen, wer sich auch auf
seine wesentliche, angeborene Gleichheit beruft. Nur Gleiches wird gleich,
Ungleiches dagegen ungleich behandelt. Zwar geht ein Gleichheitsanspruch
von in irgendeiner Hinsicht existierender Ungleichheit oder Ungleichbehandlung
aus, denn ansonsten wäre er überflüssig, jedoch ist - wie Andrea Maihofer
schreibt - dieser Ungleichbehandlung individuell, nicht wesentlich.
6 Der tatsächlichen Ungleichbehandlung von Individuen,
die als wesentlich gleich gesehen werden, soll durch den Gleichheitssatz
abgeholfen werden.
Frauen sind aber möglicherweise gerade nicht "gleich", haben andere Bedürfnisse
und Erfahrungen als Männer. Nach dem Gleichheitskonzept könnten sie sich
entweder darauf berufen, "ungleich" zu sein, und folglich ungleich behandelt
werden zu wollen, was historisch eine Schlechterbehandlung bedeutet hat
und dies angesichts patriarchaler Gesellschaftsstrukturen auch heute bedeuten
würde. Oder sie können sich darauf berufen "gleich" zu sein. Gleichheit
meint jedoch immer "gleich wie ... im Bezug auf...". Der menschenrechtliche
Maßstab ist aber bereits historisch gesetzt - im Sinne patriarchaler Interessen,
die sich auch in der heute herrschenden Menschenrechtskonzeption widerspiegeln.
Die Berufung auf Gleichheit bedeutet in diesem Sinne "Angleichung an männliche
Gleichheit." Dies ist ein erster Aspekt feministischer Menschenrechtskritik.
Ein zweiter Aspekt der Kritik bezieht sich darauf, daß Rechtsgleichheit
immer nur Gleichheit im Recht oder vor dem Recht sein kann. Rechtsgleichheit
stellt somit ein prozedurales Element dar, garantiert aber nicht Gleichheit
der Ergebnisse außerhalb der unmittelbar rechtlichen Sphäre. Dies ist
problematisch, denn durch Gleichbehandlung ist zwar eine aus Ungleichbehandlung
resultierende Ungleichheit "einzuebnen", eine aus anderen Gründen existierende
Ungleichheit jedoch nicht aufzuheben. So verbietet z. B. der Gleichheitssatz
die Bevorzugung eines gleich qualifizierten männlichen Bewerbers bei der
Einstellung allein aufgrund seines Geschlechts; fehlt eine gleich qualifizierte
Bewerberin so liegt keine Ungleichbehandlung vor. Das Fehlen einer gleich
qualifizierten Bewerberin könnte aber darauf zurückzuführen sein, daß
in einer bestimmten Gesellschaft Frauen geringeren Zugang zu Bildungsmöglichkeiten
haben oder in einem männlich dominierten akademischen System weniger erfolgreich
sind als ihre männlichen Kollegen. Die Reichweite des Gleichheitssatzes
ist somit sehr beschränkt.
Wessen Erfahrungen, wessen Rechte?
Wo genau läßt sich feministische Kritik an der existierenden Menschenrechtskonzeption
nun aber festmachen? Die erste These dazu lautet, daß Menschenrechte die
Unrechtserfahrung von Männern widerspiegeln, die von Frauen weitestgehend
unberücksichtigt lassen.
Menschenrechte verpflichten grundsätzlich Staaten. Der menschenrechtliche
Schutz wird in erster Linie gegen von staatlichen Institutionen, d.h.
im öffentlichen Raum, begangene Menschenrechtsverletzungen gewährt. Staaten
verletzen grundsätzlich nicht ihre völkerrechtlichen Pflichten, wenn Menschenrechtsverletzungen
seitens Privater auf ihrem Territorium vorkommen. Ausnahmen gelten nur,
soweit ausdrücklich vertraglich vereinbart bzw. dann, wenn der Staat keine
Untersuchung und Strafverfolgung von Menschenrechtsverletzungen gewährleistet.
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Problematisch bei dieser Konstruktion der Menschenrechte ist, daß sie
weitgehend der Erfahrung von Männern entspricht, die - wenn sie gravierende
Unrechtserfahrungen wie z. B. Folter machen - diese oft im öffentlichen
Raum mach(t)en. Frauen machen ähnliche Erfahrungen dagegen - aufgrund
der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, bei der Frauen der private Bereich
von Heim und Familie zugewiesen ist - zusätzlich und hauptsächlich im
privaten Bereich oder durch Private z.B. in Form häuslicher oder sexueller
Gewalt.
Der private Bereich wird im herrschenden Menschenrechtskonzept aber als
einer gesehen, in den der Staat möglichst wenig eingreifen soll.
8 Für Männer, die in der westlichen Kleinfamilie in
der Regel der Herr im Hause und damit in dieser Sphäre nicht bedroht waren
und sind, war eine stärkere Verrechtlichung dieses Bereichs kein Anliegen.
9 Ein Beispiel dafür ist die Definition von Folter in
Art. 1 des Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche
oder erniedrigende Behandlung oder Strafe; danach werden als Folter nur
Handlungen definiert, die staatlichen Akteuren zugeordnet werden können.
Diese weitgehende Beschränkung der Menschenrechte auf den öffentlichen
Bereich hat eine doppelte Konsequenz: einerseits ist der private Bereich
generell wenig geregelt bzw. ausdrücklich vor staatlichen Eingriffen geschützt,
andererseits werden die Regelungen, die bei Verletzungen von Rechten der
Frau im privaten Bereich durch private Akteure greifen (wie z.B. bestimmte
strafrechtliche Sanktionen) oft weniger strikt angewandt als außerhalb
des privaten Bereichs. 10 Ein Beispiel
dafür ist, daß Vergewaltigung in der Ehe in der BRD erst 1997 unter Strafe
gestellt wurde.
Nicht nur die Beschränkung von Menschenrechten auf die öffentliche Sphäre
macht die Einseitigkeit des herrschenden Menschenrechtskonzepts deutlich,
sondern auch die Auswahl der überhaupt menschenrechtlich normierten Ansprüche.
So weist Okin darauf hin, daß die Bedürfnisse, die Frauen als für sich
wesentlich einstufen, möglicherweise ganz andere sind, als die, die in
den geltenden Menschenrechtskatalogen zum Ausdruck kommen: "Weitgehend
außer Acht gelassene Probleme stünden dann im Vordergrund, wie Vergewaltigung
(auch in der Ehe) und Gewalt in der Familie, erzwungene Schwangerschaften,
fehlende gesellschaftliche Anerkennung der Kindererziehung und der Hausarbeit
sowie die ungleichen Chancen in Erziehung, am Arbeitsplatz, beim Wohnen,
beim Kreditwesen und bei der Gesundheitsfürsorge." 11
Ein weiteres wichtiges Recht aus Frauensicht könnte ein Recht auf sexuelle
und "reproduktionelle" Selbstbestimmung sein, das ein Recht, über Abtreibung
selber zu bestimmen, umfassen würde.
What does reality look like?
Ein weiterer Aspekt feministischer Kritik bezieht sich auf die Nichtberücksichtigung/
Nichtveränderung struktureller Unterdrückung und sozialer Ungleichheit
durch Menschenrechte. Voraussetzung für den Gebrauch und gleichen Genuß
von Freiheitsrechten und politischen Teilhaberechten ist oftmals eine
bestimmte soziale Stellung, d.h. die Gewährleistung bestimmter sozialer
Rechte. 12 So mögen zwar alle das
Recht haben, sich zu versammeln und am politischen Meinungsbildungsprozeß
mitzuwirken - wie effektiv dieses Recht jedoch ausgeübt werden kann, ist
u. a. eine Frage des Bildungsstands und Medienzugangs. Zwar sind inzwischen
auch soziale Rechte als Menschenrechte anerkannt und in verschiedenen
Menschenrechtsabkommen in völkerrechtlich verbindlicher Weise kodifiziert.
13 Doch obwohl theoretisch die Unteilbarkeit und Gleichwertigkeit
der verschiedenen Menschenrechtsgenerationen postuliert werden, werden
Menschenrechte der ersten Generation tatsächlich als wichtiger betrachtet
und ihre Einhaltung wird effektiver überwacht. 14
Dies hat nachteilige Folgen vor allem für Frauen, die aufgrund ihrer durchschnittlich
schlechteren sozialen Stellung weniger stark in der Lage sind als Männer,
den ihnen durch die Menschenrechte gesicherten Freiheitsraum ohne die
Verwirklichung sozialer Rechte zu nutzen.
Auch genügt zur Beseitigung struktureller gesellschaftlicher Ungleichheit
der Gleichheitssatz möglicherweise nicht. Denn er erfaßt zwar die direkte
Diskriminierung von Frauen - z. B. ungleiche Bezahlung von Frauen und
Männern für gleiche Arbeit - nicht jedoch strukturelle Ungleichheiten
wie z. B. den höheren Frauenanteil in schlechter bezahlten Jobs.
Frauen und Menschenrechte der dritten Generation
Ein drastisches Beispiel für die Verletzung von Frauenrechten sind die
in vielen Ländern Afrikas und des arabischen Raums üblichen Genitalverstümmelungen
an Frauen. Sie werden oft als traditionell in der jeweiligen Gesellschaft
und Kultur verwurzelte Praktiken verteidigt; Kritik daran wird als Einmischung
in die kulturelle Selbstbestimmung zurückgewiesen. Das Recht auf kulturelle
Selbstbestimmung ist ein sog. Menschenrecht der dritten Generation. Als
Menschenrechte der dritten Generation werden die Rechte bezeichnet, die
Gruppen kollektiv zugesprochen werden. Sie enthalten insofern einen bedeutenden
konzeptionellen Unterschied zu den beiden ersten Menschenrechtsgenerationen,
als Träger des Rechts hier eine Gruppe von Menschen ist und zwar auch
gegenüber den einzelnen Mitgliedern der Gruppe. Problematisch aus Frauensicht
ist dabei, daß - wie am Beispiel der Genitalverstümmelungen ersichtlich
- mit der Behauptung der kulturellen Selbstbestimmung die Verletzung von
Frauenrechten als traditionell in der jeweiligen Gesellschaft verwurzelt
verteidigt werden kann. Innerhalb der Gruppe herrschend sind oftmals Männer,
die damit auch definieren können, was die jeweilige Kultur und Tradition
ist.
Dieses Dilemma könnte dadurch gelöst werden, daß jedenfalls der Vorrang
der Rechte des Individuums vor dem der Gruppe anerkannt wird.
15 Dabei steht es jedem Mitglied der Gruppe frei, auf
sein/ihr Recht gegenüber der Gruppe zu verzichten; gleichzeitig hat es
jedoch die Sicherheit sich auf einen individuellen Schutzraum auch gegenüber
der Gruppe berufen zu können. Problematisch dabei ist allerdings, daß
möglicherweise Frauen sie unterdrückende kulturelle und religiöse Normen
derart verinnerlicht haben, daß sie nicht auf die Idee kommen würden,
sich auf subjektive Rechte gegenüber ihrem gesellschaftlichen Umfeld zu
berufen. Okin schreibt, daß Frauen in vielen Regionen Grundrechte gar
nicht in Anspruch nähmen, "weil das sie umgebende religiöse und gesellschaftliche
Umfeld die Herausbildung einer Identität verhindert, aufgrund derer sie
sich überhaupt als ein mit Rechten ausgestattetes Individuum begreifen
könnten." 16
Dieses Thema ist allerdings höchst kontrovers, denn es wird nicht nur
heftig über Kulturrelativismus und Universalisierung im Grunde westlicher
Menschenrechte debattiert. 17 Auch
Feministinnen aus nichtwestlichen Ländern haben die Verallgemeinerung
der Unterdrückungserfahrung westlicher Frauen zu "patriarchaler Unterdrückung
schlechthin" als kolonialistisches und im Grunde rassistisches Unterfangen
gebrandmarkt. 18 Auch die innerfeministische
Debatte um Menschenrechte weist demnach ihre Brüche auf.
Grenzen feministischer Menschenrechtspolitik
Dies zeigt sich auch darin, daß, obwohl Einigkeit darüber besteht, daß
Menschenrechte zumindest insofern Männerrechte sind, als sie primär männliche
Erfahrungen widerspiegeln, keineswegs eindeutig ist, welche Konsequenzen
sich daraus ableiten.
Frauenaktivistinnen fordern teilweise, die Menschenrechte durch eine den
Bedürfnissen von Frauen besser angepaßte Ausgestaltung zu "feminisieren".
Vorgeschlagen wird z. B. die Aufwertung der sozialen Rechte oder die Neudefinition
von Folter in einer Weise, die auch Handlungen Privater erfaßt. Der diesen
Vorschlägen gemeinsame positive Bezug auf Menschenrechte von feministischer
Seite aus wird auch damit begründet, daß die Positivierung bestimmter
Rechte oft das Resultat sozialer Kämpfe war und diese damit Ausgangspunkt
für weitergehende Forderungen sein können. Der Wert der Menschenrechte
liegt - aufgrund oftmals fehlender Durchsetzung und Durchsetzbarkeit -
tatsächlich vor allem in ihrem symbolischen Gehalt. Die Anerkennung menschlicher
Bedürfnisse in menschen- oder grundrechtlicher Form signalisiert einen
Konsens bezüglich deren Schutzwürdigkeit, der den Forderungen derer, die
sich für die tatsächliche Befriedigung dieser Bedürfnisse einsetzen, erhöhte
Legitimität verleiht. Insofern mag der Kampf um eine Umdefinierung und
Erweiterung der Menschenrechte tatsächlich ein aus feministischer Sicht
lohnenswertes Unterfangen sein. Daß ein solcher Ansatz jedoch gerade auf
dem Gebiet der Menschenrechte ein ausgesprochener Balanceakt ist, sollte
spätestens mit der Rechtfertigung sog. humanitärer Interventionen mit
Bezug auf die Menschenrechte klar geworden sein. Auch aus anderen Gründen
sind Menschenrechte meines Erachtens eine ambivalenter Bezugspunkt für
feministische Kämpfe. Dabei geht es nicht etwas darum, zu leugnen, daß
es bestimmte Unrechtserfahrungen wie z. B. Folter aus politischen Gründen
gibt, vor denen alle Menschen - Männer wie Frauen - geschützt sein sollten
- und zwar auch durch Menschenrechte. Es gilt aber, sich bewußt zu machen,
daß (Menschen)rechte möglicherweise nicht der geeignete Ansatzpunkt sind,
(patriarchale) Herrschaftsstrukturen zu verändern.
Der erste Grund dafür ist die Kluft, die zwischen niedergeschriebenen
Menschenrechten und dem Stand ihrer Verwirklichung besteht. Diese Kluft
besteht nicht zufälligerweise, sondern ist Ausdruck davon, daß der Umsetzung
der Menschenrechte Interessen wirtschaftlicher, politischer oder eben
patriarchaler Art entgegenstehen. Dann aber wäre der direkte Weg, die
mit den Menschenrechte anstrebten Ziele zu verwirklichen, diese Interessen
zu analysieren und mögliche Gegenstrategien zu entwickeln. Die Konzentration
auf einen menschenrechtlichen Ansatz mag demgegenüber sogar dazu verleiten,
die auf der symbolischen Ebene der Menschenrechte erreichten Fortschritte
schon als allein genügend zu betrachten.
Ein zweiter Grund ist die Strukturblindheit des Rechts. Insbesondere soziale
Menschenrechte werden auch deswegen nicht umgesetzt, weil - z. B. in Entwicklungländern
- dafür eine Änderung grundlegender weltwirtschaftlicher Strukturen von
Nöten wäre. Recht ist jedoch akteurszentriert - für Verstöße gegen Rechtsnormen
kann eine Struktur nicht rechtlich zu Verantwortung gezogen werden, Individuen
umgekehrt für ungerechte Strukturen nur, soweit ihre individuelle juristische
Verantwortung reicht. Eine Struktur kennzeichnet sich aber gerade dadurch,
daß sie zwar einerseits durch die Handlungen einzelner AkteurInnen reproduziert
wird, andererseits in ihrem Bestand unabhängig von jeweils individuellen
Handlungen ist. Rechtssätze bedürfen zu ihrer Umsetzung eines definierten
Adressaten; nur dann können auch Sanktionen greifen. Doch wer ist für
die Änderung einer Struktur zuständig? Auf welche Weise soll sie erreicht
werden? Die Menschenrechte schweigen dazu, sind nicht mehr als programmatische,
an eine diffuse "Staatengemeinschaft" gerichtete Zielsätze.
Die Hauptproblematik der Menschenrechte scheint mir jedoch in den angedeuteten
Implikationen des Gleichheitsansatzes und der Verortung der Menschenrechte
innerhalb eines patriarchalen Systems zu liegen. Die Frage ist, ob eine
Ausdehnung der in den Menschenrechtserklärungen proklamierten Rechte auf
Frauen und damit ihre Teilnahme an einem sozialen und politischen System,
das als strukturelles Gewaltverhältnis analysiert werden kann, tatsächlich
gefordert werden soll. Staaten als Adressaten einer solchen Forderung
spielen gerade eine entscheidende Rolle bei der Abgrenzung von öffentlicher
und privater Sphäre und bei der Konzeption von Menschenrechten als auf
den öffentlich Raum beschränkte. Menschenrechte können - als juristische
Rechte - gerade nicht anders gedacht werden denn als staatliche und dem
Gleichheitssatz verpflichtete Rechte. Hier liegen denn auch die Grenzen
für eine emanzipatorische und feministische Menschenrechtspolitik. Menschenrechte
sind demnach - aus feministischer Sicht - eine ambivalente Angelegenheit.
Jede Diskussion und Politik, die sich auf Menschenrechte bezieht, muß
demnach deren Grenzen mit reflektieren.
Christiane Gerstetter studiert Jura in Bremen.
Anmerkungen:
1 Abgedruckt in Hartung, 59ff.
2 Gerhard, 1987, 130.
3 Abgedruckt bei Gerhard, 1987, 145ff.
4 ILO-Convention Concerning the Employment
of Women on Underground Work in Mines of All Kind (1935); ILO-Convention
Concerning Night Work of Women Employed in Industry (1945).
5 Vgl. z. B. Präambel der Charta der
Vereinten Nationen von 1948; Art. 1, 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte;
Art. 2, 3 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und
kulturelle Rechte.
6 Maihofer, 1990, 356.
7 Sullivan, 1995, 129.
8 Vgl. z. B. Art. 6 GG.
9 Vgl. Bunch, 1995, 13f.
10 Vgl. Mlinar, 1997, 26
11 Okin, 1998, 318
12 Vgl. Koukoulas, FoR 2000, 137ff.
13 So z.B. im Pakt über wirtschaftliche,
soziale und kulturelle Rechte vom 19. 12. 1966
14 Vgl. Sullivan, 1995, 126
15 Vgl. Mlinar, 1997, 26ff.
16 Okin, 1998, 338
17 Vgl. Shue, 1998
18 Vgl. Weedon, 2000
Literatur:
Bunch, Charlotte: Transforming Human Rights from a Feminist Perspective.
In: Peters/Wolper, 1995, S. 11ff.
Gerhardt, Ute: Menschenrechte auch für Frauen - Der Entwurf der
Olympe de Gouges, Kritische Justiz 20/1987, S. 127ff.
Gerhardt, Ute u.a. (Hrsg.): Differenz und Gleichheit - Menschenrechte
haben (k)ein Geschlecht, Frankfurt/Main 1990.
Gosepath, Stefan/Lohmann, Georg: Philosophie der Menschenrechte,
Suhrkamp, Frankfurt 1998.
Hartung, Fritz (u.a.): Die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte
von 1776 bis zur Gegenwart, 5. Aufl., Göttingen 1985.
Hoffmann, Monika: Double-b(l)ind - Die Konzeption der Menschenrechte
aus feministischer Perspektive, Blätter des Informationszentrum Dritte
Welt 232/Oktober 1998.
Koucoulas, Greco: Gerechtigkeit durch gleichgestelltes Töten bei
der Bundeswehr, FoR 4/2000, S.137ff.
Maihofer, Andrea: Gleichheit nur für Gleiche? In: Gerhard, Ute
u.a., 1990, S. 351ff.
Mlinar, Angelika: Frauenrechte als Menschenrechte, Diss., Salzburg
1997.
Moller Okin, Susan: Konflikte zwischen Frauenrechte und die Probleme
religiöser und kultureller Unterschiede. In: Gosepath, Lohmann 1998, S.
310ff.
Peters, Julie/Wolper, Andrea: Women's Rights - Human rights - International
Feminist Perspectives, New York 1995.
Shue, Henry: Menschenrechte und kulturelle Differenz. In: Gosepath/Lohmann,
1998, S. 343ff.
Sullivan, Donna: The Public/Private Distinction in International
Human Rights Law. In: Peters/Wolper, 1995, S. 126ff.
Weedon, Chris: Menschenrechte aus postmoderner Sicht, Das Argument
234/2000, S. 25ff.
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