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Was ehemals nur gehobeneren Punkkreisen geläufig war, dem schloss sich
kürzlich auch die gehobene Gerichtsbarkeit in Gestalt des Bundesverfassungsgerichts
an. Wie ein Schuss Poesie inmitten all der rechtsfinderischen Prosa nahmen
sich die im Beschluss rezitierten Zeilen des Kultliedes der Punkband SLIME
aus: //Wo Faschisten und Multis das Land regiern/wo Leben und Umwelt keinen
interessieren/wo alle Menschen ihr Recht verliern/da kann eigentlich nur
noch eins passieren:/Deutschland muss sterben, damit wir leben können.//
Dies wird nun nicht mehr als Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole
gewertet (§ 90 a Strafgesetzbuch), sondern bewegt sich innerhalb der durch
Art. 5 Abs. 3 S. 1 Grundgesetz geschützten Kunstfreiheit. Die Berliner
Justiz hatte dies in mehrjährigen Prozessen und unter Verhängung einiger
Monate Untersuchungshaft, Bewährungsstrafen und Tausenden Mark Verfahrenskosten
nicht so gesehen. Dabei ist das Stück, das 1997 auf einer angemeldeten
Versammlung in Berlin-Kreuzberg vom Band kam, im Handel frei erhältlich.
Und dies zu Recht. Anstatt die Kunstfreiheit vorschnell dort enden zu
lassen, wo mancherorts offenbar der unumstößliche Schutzbereich des §
90 a Abs. 1 StGB anfängt, hat das Bundesverfassungsgericht bei der Abwägung
der widerstreitenden Verfassungsgüter genau hingeschaut bzw. -gehört:
Unverkennbar sei die Kritik mit satirischem Einschlag. Deutlich (...)
werden Missstände in den Bereichen Politik, Umweltverschmutzung, Kriegsgefahr
sowie der rapide Wandel durch technische Neuerungen angeprangert. Dabei
vergaß es auch nicht, dass im Sinne der Kunstfreiheit die Anwendung des
§ 90 a StGB nicht zur Immunisierung des Staates gegen Kritik und Ablehnung
führen dürfe.
Für eine dem künstlerischen Anspruch des Liedes gerecht werdende Interpretation
hat das Bundesverfassungsgericht sogar tief in der Schatzkiste gegraben
und mit Heinrich Heines Gedicht von den schlesischen Webern aus dem Jahr
1844 ein Werk hervorgezaubert, das sowohl formal als auch im Ansatz und
in der Metaphorik weitgehende Ähnlichkeit aufweist.
Der zeitgeschichtliche Bezug des Liedes beginnt jedoch fast ein Jahrhundert
später in der Hamburger Heimatstadt der Band, dauert allerdings bis heute
an: Heinrich Lerschs Gedicht Soldatenabschied war es, auf das die Nazis
zurückgriffen, als sie 1936 dem Hanseatischen Infanterieregiment ein Denkmahl
errichteten. "Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen", heißt
es noch immer in der dazugehörigen Inschrift.
Bilal Alkatout, Berlin.
Quelle:
BVerfG, 1 BvR 581/00 vom 3.11.2000, www.bverfg.de/entscheidungen/
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