Heft 4 / 2002: Aus dem Westen was Neues Interessenpolitik durch Rechtsexport |
Simon Paulenz | |
Rechtsexport in schlechte Verhältnisse | |
Die Entwicklung der Sanktionspraxis in Benin und die Krise des rechtsstaatlichen Universalismus |
"...Falls Sie bestohlen werden: Verhindern Sie die Inhaftierung des Diebes, denn im Gefängnis gehen die Banditen in die Lehre. (...) Und wenn es eines Tages so weit ist, daß wir einen Marsch auf die Gefängnisse unternehmen müssen, um die Diebe zu befreien und sie alle zu verbrennen, werden wir bereit sein. Noch einmal danke ich ihnen und bitte sie, mit mir der Größe unseres Willens, mit der Gaunerei Schluß zu machen, Ausdruck zu verleihen, indem wir das Lied unserer großen Vorfahren Metogbé, Houinous, Sokégbé (...) anstimmen (Ovationen, Bravo-Rufe)".1 Diese Rede des selbsternannten Rächers Beniner Diebstahlsopfer, ‚Commandant
Dévi', vor einem vollbesetzten Fußballstadion am 3. Oktober 1999 im Süden
Benins ist Ausdruck der Entwicklung der Sanktionspraxis in Benin. Mit
den 1990er Jahren hat in dem Staat an der westafrikanischen Küste eine
Serie von Gruppen-Selbstjustiz bei Eigentumsdelikten eingesetzt, die regelmäßig
in die Verbrennung der mutmaßlichen Täter und Täterinnen mündet und die
zur häufigsten Mordursache geworden ist. Aber auch weitere selbstjustizielle
Bestrafungen, insbesondere Hexer- und Hexenverfolgung und Duelle bei Ehebruch,
enden mitunter tödlich. Im Herbst 1999 formierte sich in Südbenin unter
Führung des oben genannten eine Art Bürgerwehr von etwa 1000 Personen,
die die selbstjustizielle Verfolgung von mutmaßlichen Dieben und Diebinnen
nochmals forcierte.2 ‚Good-Governance'-Programme für Rechtsstaatlichkeit Die Politik(beratungs)wissenschaft meint seit langem, die Ursache des unordentlichen Umgangs mit Recht in Afrika zu kennen: Schlechtes Regieren ist schuld. Die daraus gewonnene Therapie für die Besserung der Rechtsstaatspatienten ist bekannt: ‚Good-Governance'-Nachhilfe muß intensiviert werden. In einigen Büros der tristen Beniner Verwaltung sitzen dementsprechend Rechtsberater und -beraterinnen diverser Länder des Nordens, aus Deutschland v. a. von der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit. Sie können mitunter beobachten, wie Bedienstete Aktenberge in Schubkarren zwischen Abteilungen, Ministerien und sonstigen Institutionen verschieben. Die Staatsdiener und -dienerinnen demonstrieren damit, daß in Benin einiges existiert, was das Herz des ‚freiheitlich demokratischen Grundordners' höher schlagen läßt: ausdifferenziertes staatliches Recht französisch-kolonialer Provenienz, ein großer Stab an Staatsbediensteten und die entsprechende Bürokratie sowie rechtsstaatliche Institutionen, beispielsweise ein Verfassungsgericht. Demzufolge gilt Benin als Musterknabe afrikanischer Bemühungen um Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.5 Zwar wird dieser institutionenfixierte Blick der Verwaltungsfachleute mehr und mehr erweitert. Auch unter den juristischen Nachhilfelehrern und -lehrerinnen macht sich dergestalt die Erkenntnis breit, daß ihnen ihre Arbeitsgrundlage erhalten geblieben ist, daß nämlich hier die Institutionen existieren und dort die Masse der Bevölkerung, die das französische Recht und seine Institutionen nicht annimmt. Nichtsdestotrotz scheuen sie davor zurück, die Konzentration auf den Staat und seine Institutionen und damit das Konzept ‚good governance' fundamental in Frage zu stellen. Rechtsstaat und bürgerliche Gesellschaft Daß das Ziel Rechtsstaatlichkeit selbst das Problem sein könnte, wird
von den Vertretern und Vertreterinnen der Rechtsstaatlichkeit - bewußt
oder unbewußt - geleugnet; ein Hinterfragen würde auf eine Selbstkritik
hinauszulaufen, die der eigenen Existenz den rechtsstaatlichen Boden unter
den Füßen wegzuziehen droht. Aber warum sollte es auch problematisch sein,
wenn in einem funktionierenden Rechtsstaat nach juristischer und in der
Entwicklungspolitik aufgenommener Definition Freiheit und Gleichheit durch
staatliches Recht geregelt werden? Wenn zentrale Maxime die Rechte des
einzelnen, des Rechtssubjekts, sind und diese mittels des staatlichen
Gewaltmonopols und der Rechtsweggarantie durch die Staatsgewalt und gegen
sie geschützt werden, wobei das Strafrecht die ultima ratio ist?6 Die Genesis der Kategorien des Rechtsstaats Der historische Zusammenhang verweist auf einen genetischen zwischen
bürgerlicher Gesellschaft und ihrem Rechtsstaat. Der Schlüssel zum Verständnis
dieses Zusammenhangs ist die Erkenntnis der Gleichursprünglichkeit des
Kapitals und seinen Materialisierungen in der Ökonomie einerseits sowie
bürgerlicher Rechtsform und Rechtssystematik auf der anderen Seite.11 Rechtsstaat und unbewußte Vergesellschaftung Ist dieser Zusammenhang erkannt, offenbart sich die andere Realität des realen Scheins von rechtstaatlicher Freiheit und Gleichheit. Es handelt sich um die plumpe Wirklichkeit des globalen Kapitalismus. Kapitalistische Produktionsweise privater Produzierender resultiert notwendig in eine unbewußte Vergesellschaftung: Einer bewußten Gestaltung der Gesellschaft stehen die Imperative des übergreifenden Gesellschaftsverhältnisses Kapital im Weg, die die Verwertung des Werts als permanentes Ziel vorgeben und somit Gesellschaftlichkeit auf dem Weg von Konkurrenz und Warentausch zwangsweise herstellen. Die "Republik des Marktes" (Paschukanis), die rechtsstaatlich die Verhältnisse der in der Konkurrenz atomisierten Individuen garantiert, ist somit in Wirklichkeit eine entpersonalisierte Herrschaft von Staat und Kapital. Solange das der Fall ist, mutet es naiv an, auf die Fähigkeit des Rechtsstaats zu hoffen, der Vernunft durch die Hintertür Einlaß zu gewähren. Das Kind fällt immer wieder aufs neue in den Brunnen, bevor der Staat einschreiten kann. In Afrika, wo Menschen trotz ausreichender globaler Nahrungs- und Medikamentenressourcen jedes Jahr millionenfach an Hunger und heilbaren Krankheiten sterben und in zynischer Gleichzeitigkeit Kriege um Diamanten geführt werden, blamiert sich die Vorstellung von der vernünftigen Einrichtung einer unbewußten Vergesellschaftung besonders drastisch. Dem und der einzelnen nötigt das Leben im Kapitalismus die Notwendigkeit ab, sich in der Konkurrenz zu behaupten, bis hin zum Kampf ums Überleben. Dem Kapital ist es dabei gleichgültig, mit welcher Arbeit das Dasein gefristet wird; entscheidend ist, daß gearbeitet wird. Mehrwert fällt nur ab, wenn Menschen ihre Arbeitskraft verkaufen. Der Zwang zur Arbeit und zur Entäußerung von Lebenszeit als Voraussetzung des Überlebens heißt aber bekanntlich nicht, daß für alle Arbeit vorhanden ist, worauf in einem Artikel über Afrika wohl kaum hingewiesen werden muß. Resultat von Freiheit und Gleichheit: ihr Gegenteil Widersinnig ist es, gegen die globale Realität von Hunger und Krieg die
rechtsstaatlichen Ideale Freiheit und Gleichheit hochzuhalten. Freiheit
ist eben die Freiheit der voreinander geschützten Rechtssubjekte - ‚die
Freiheit des einen hört da auf, wo die des anderen anfängt' lautet das
entsprechende Credo. Der latente Krieg aller gegen alle in der Konkurrenz
hat also in der Rechtssubjektivität seinen adäquaten Ausdruck gefunden.
Damit ist die bürgerliche Freiheit aber gerade Voraussetzung und Teil
der Verhältnisse, die die ‚Überflüssigen' und andere Unappetitlichkeiten
in Afrika wie andernorts produzieren. Gleichheit ebnet die reale Verschiedenheit
der Menschen ein, um ihre Handhabbarkeit im Warentausch und vor dem Gesetz
zu gewährleisten, keinesfalls natürlich, um die verschiedenen Bedürfnisse
in gleicher Weise zu befriedigen. Auch die bürgerliche Gleichheit ist
also Fundament globaler Elendsordnung. Freiheit und Gleichheit im Kapitalismus
sind also paradoxerweise Schein und Realität zugleich. Das macht die rechtsstaatliche
Ideologie so überzeugend, objektiviert sie geradezu. Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Verhältnisse in Benin Die Sorgen um die Unmenschlichkeit einer bürgerlichen Weltgesellschaft
müssen sich aber die Welt im allgemeinen und Benin im speziellen augenscheinlich
noch nicht machen. Auf dem Boden einer kapitalistischen Weltordnung der
freien und gleichen Konkurrenzsubjekte stabilisieren sich große Enklaven
retraditionalisierter, also nicht-bürgerlicher Verhältnisse15,
in denen man auf unangenehme Weise daran erinnert wird, daß der Rechtsstaat
in einer entfalteten bürgerlichen Gesellschaft zu verorten ist. Sanktionspraxis in nicht-bürgerlichen Verhältnissen Allein der außerstaatliche Charakter widerspricht grundsätzlich dem rechtsstaatlichen Anspruch, erst recht gilt das aber für nicht-monopolisierte Gewalt. Rechtssubjektivität prägt also in Benin soziale Beziehungen generell und in der Sanktionspraxis im Besonderen nicht universal - es fehlt die Durchkapitalisierung der Gesellschaft. Den meisten Beninern und Beninerinnen scheinen dementsprechend die mikro-gemeinschaftlichen Verhältnisse ihrer wichtigsten sozialen Bezugspunkte wie der Dorfgemeinschaft bei weitem vertrauter als die Abstraktionen Rechtsstaat und Rechtssubjekt. Bürgerliche Rechtssubjektivität kann eben nur vermittels einer spezifischen Art von Anerkennung wirksam werden. Voraussetzung für diese Anerkennung ist die bürgerliche Denkform, in rein funktionalen Abstraktionen wie der Abstraktion Rechtssubjekt zu denken. Die Universalisierung dieser Rechtsdenkform setzt sich koinzident mit jener der Realabstraktion des Warentauschs durch.19 Das Konkretisieren des Staats gelingt den Beninerinnen und Beninern, indem er vermittels Klientelismus, also personalen hierarchischen Beziehungen gegenseitiger Abhängigkeit zwischen staatlichen Patronen und den Bürgerinnen und Bürgern als Klienten und Klientinnen, in die lokalen Strukturen integriert wird. Die Herauslösung des Staats aus der Gesellschaft wird - soweit von den Staatsdienern und -dienerinnen überhaupt vollzogen - somit sabotiert oder nach den Erfahrungen mit kolonialer und postkolonialer Militärherrschaft argwöhnisch beäugt. Weiterhin behindern diese sozialen Verhältnisse auch die Anerkennung einer rechtlichen Verfahrensrationalität, eines Rechtssystems, das der bürgerlichen Zweckrationalität zum Durchbruch verhilft. Entsprechend werden z. T. Mythen und mutmaßliche Traditionen formal-rationalen und bürgerlich-zweckrationalen Kriterien vorgezogen, um Rechtspraktiken zu legitimieren. Darauf verweist z. B. der pseudo-traditionell legetimierte ‚Commandant Dévi'. Die Selbstjustizakte sind zudem Ausdruck eines Voluntarismus ohne System, der formaler Rationalität widerspricht. Sanktionspraxis in rudimentär bürgerlichen Verhältnissen Diese nicht-bürgerlichen Elemente können aber nur auf den ersten Blick
vom Einfluß der Warenökonomie, Weltmarktintegration und entsprechenden
rudimentär bürgerlichen Verhältnissen getrennt werden. Auf dieser Basis
nehmen sie erst ihre spezifisch hybride Gestalt an. Die Rudimente bürgerlicher
Verhältnisse in Benin verlangen zwar nach Rechtssubjektivität, und tatsächlich
gelten die formalen Rechte dieses Rechtssubjekts in Benin im französischen
Strafrecht. Hybride Rationalität außerstaatlicher Gewalt In Benin entlädt sich das Gewaltpotential insbesondere in Gestalt von Selbstjustiz und Hexenverfolgung. Die Gewalt richtet sich gegen "folk devils" (Cohen), nämlich ‚Diebe' bzw. ‚Faule' und ‚Hexen'. Hier greift also der identitäre Mechanismus der Krisenbewältigung: Gegen angstbesetzte Vereinzelung durch Marktkonkurrenz und die unverstandenen Krisen, die bis zu Hungersnöten führen können, wird Gemeinschaft durch die Stigmatisierung der "folk devils" negativ formiert, und unmittelbare Gewalt einer citoyenneté vorgezogen.21 Die Vermittlung eines solchen Gemeinschaftsgefühls in Abgrenzung zum Beniner Staat wird auch in der eingangs zitierten Rede intendiert. Selbstjustiz und Hexer- und Hexenverfolgung verschließen sich aber nicht zweckrationalen Motiven wie der ‚Regelung' des Warentauschs durch Bestrafung von Dieben und Diebinnen und der ‚Regelung' von Konkurrenz auf dem Weg der Stigmatisierung von Hexern und Hexen.22 Allerdings münden diese Praktiken zugleich in irrationale, unverhältnismäßige Bestrafungen wie aufwendige Lynchpraktiken, die zum Teil von aufgebrachten Menschenmassen gegen staatliches Handeln durchgesetzt werden.23 Auf den ersten Blick handelt es sich um eine paradoxe Kombination aus bürgerlich-rationalen und gemeinschaftlich-irrationalen Elementen. Die Paradoxie löst sich mit dem Begriff der ‚hybriden Rationalität' auf: Der bourgeois nimmt seine Interessen in einer Weise wahr, die als gemeinschaftliche Sanktionsgewalt zugleich Mittel gegen angstbesetzte und unverstandene kapitalistische Vergesellschaftung ist. Zwischenergebnis: Problem ‚good governance' und falsche Alternativen Entgegen der Institutionenorientierung der Rechtshilfeexperten und -expertinnen
bleibt also festzuhalten, daß die Erfolglosigkeit mit dem Export ihres
Rechts zuallererst auf ein Rezeptions- und damit ein Gesellschaftsproblem
verweist.24 Zwar haben die Vertreter
und Vertreterinnen in Sachen ‚good governance' nicht völlig unrecht, wenn
sie den Staat selbst als Urheber der Krise beim Aufbau von Rechtsstaatlichkeit
denunzieren. Auch die Beniner Staatsdiener und -dienerinnen tragen ihren
Teil zum Problem bei. Allerdings tun sie es nur auf der Basis der hybriden
gesellschaftlichen Verhältnisse, die einen spezifischen Staat erheischen:
Der Staat genügt zwar formal französisch-rechtsstaatlichen Standards.
Diese formale Struktur wird aber ausgefüllt durch Personalisierung der
Herrschaft im Rahmen von Klientelismus. Der Staat gebärdet sich derart
als mächtiger Unternehmer auf dem Markt. Trotz bürgerlich-rechtsstaatlicher
Rudimente ist primäres Kennzeichen des "neopatrimonialen Staats" (Eisenstadt)
in Benin wie in ganz Afrika dementsprechend die aus rechtsstaatlicher
Perspektive mangelhafte Trennung zwischen Staat und Gesellschaft.25 Traditionalismus und sein alter ego: der Rechtsstaat Das können ‚Zangbetos' in Benin, religiöse Männerbünde, die neben der
Überwachung des Dorffriedens auch die Exekution der vermeintlichen Delinquenten
übernehmen und sich durch ‚die afrikanische Tradition' legitimieren, obwohl
ihre Ursprünge nicht weiter als zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurückreichen.
Das beherrschen bekanntlich Politiker und Politikerinnen - in Afrika etwas
deutlicher als im Norden - die mit dem Verweis auf die Tradition Menschenrechte
am Fließband verletzen. Und das können diejenigen, die für die wissenschaftliche
Verbrämung zuständig sind - besonders beliebt bei antiimperialistischen
Kolonialismuskritikern und -kritikerinnen. Ihr Untersuchungsgegenstand
ist die afrikanische Identität und ihr Credo, das traditionelle Rechtsdenken
Afrikas werde durch das koloniale Recht unterdrückt, auf dem (Rück)Weg
zur eigenen Identität müsse traditionelles Recht gestärkt werden.27
In dieser Analyse wird nicht nur übersehen, daß die sogenannten traditionellen
Rechtspraktiken regelmäßig im Zuge der Ausbreitung kapitalistischer Verhältnisse
in neue, hybride Formen gemündet sind bzw. nicht in der imaginierten,
vermeintlich ursprünglichen Form wiederbelebt werden können. Ihre Protagonisten
und Protagonistinnen machen sich zudem mehr oder weniger der Komplizenschaft
mit den Vertreterinnen und Vertretern reaktionärer Rechtsformen schuldig
- bis hin zur gewaltförmigen Selbstjustiz. In dieses Fahrwasser gerät
auch völlig ungewollt ein weiterer beliebter Ansatz, der auf das Gegengewicht
der Gesellschaft gegenüber einem disfunktionalen Staat setzt: das Entwicklungskonzept
Zivilgesellschaft. Auf dem Boden eines hybriden Kapitalismus gedeiht leider
keine zivile Gesellschaft, sondern ein Kampf um Überleben und Identitäten. Simon Paulenz promoviert, hat Jura und Politologie studiert und in Benin über Selbstjustiz geforscht. Anmerkungen 1 zitiert nach Le Matinal, Cotonou
v. 6. 10. 1999, Übersetzung S. P. Rechts(staats)kritische Literatur: Agnoli, Johannes, Der Staats des Kapitals, 1995.
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