Die Push-Backs an der europäischen Grenze bei Melilla, einer spanischen Exklave an der nordafrikanischen Mittelmeerküste, standen aus menschen- und völkerrechtlicher Perspektive bereits häufig in Kritik. Im Fall N.D. and N.T. v. Spain [Az. 13.02.20], der zwei Schutzsuchende betraf, die 2014 versuchten, die Grenze von Marokko zu Spanien zu überwinden, wurde der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) das erste Mal mit dieser Situation beschäftigt.
Die kleine Kammer des EGMR hatte 2017 bereits eine Verletzung von Art. 13 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und Art. 4 des 4. Protokolls festgestellt. Die Große Kammer traf nun eine gegenläufige Entscheidung, die dem Recht, Rechte zu haben, neue Relevanz verschafft. Im Kern hatte der EGMR zu klären, ob die spanischen Behörden gegen das Verbot der Kollektivausweisung verstoßen haben. Die Guardia Civil hatte die Antragsteller zusammen mit zirka 75 weiteren Personen zurückgeschoben, ohne ihre individuellen Vorbringungen, wie das eines Asylgesuchs, zu berücksichtigen. Genau darin liegt das maßgebliche Kriterium einer Kollektiv-Ausweisung. Dennoch vermeidet das Gericht die Feststellung einer EMRK-Verletzung, indem es eine Ausnahme für schuldhaftes Verhalten („own conduct“) kreiert, welches bisher nur innerhalb bestehender Verfahren eine Rolle spielte und nun über den Zugang zum Recht überhaupt entscheidet. Hiernach seien für die Nichtbeachtung der menschenrechtlich verankerten Verfahrensgarantien nicht die staatlichen Behörden, sondern die Individuen verantwortlich, wenn sie irregulär einreisen und nicht an offiziellen Grenzübergängen ihr Asylgesuch stellen.
Abgesehen davon, dass Letzteres laut UNHCR faktisch unmöglich war, ist die Kategorie des „own conducts“ an sich problematisch. Verfahrensgarantien gelten gerade unabhängig vom materiellen Status und sind elementarer Bestandteil von Rechtsstaatlichkeit. Sie schützen davor, dass auch bei Gesetzesverstößen Personen nicht rechtslos gestellt werden. Wenn die Anwendung solcher Garantien nun vom individuellen Verhalten abhängt, stehen sie zur Disposition der staatlichen Gewalt, die vorgeben kann, wann bzw. wo sie gelten und indem sie Fehlverhalten überhaupt definiert. Außerdem lässt sich nicht mehr gerichtlich überprüfen, ob es wirklich eine effektive und nicht nur theoretische Alternative zur irregulären Einreise gab, wenn eine Praxis legitimiert wird, die sich per se individueller Verfahren entledigt. Die Aussage des Gerichts, dass die EMRK keine theoretischen oder illusorischen, sondern praktische und effektive Rechte gewähren soll, verkehrt sich damit in ihr Gegenteil.