|
Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden." So steht es kurz und bündig in Art. 15 des Grundgesetzes (GG), ähnliche Vorschriften finden sich in einigen Landesverfassungen. Auch die Weimarer Reichsverfassung enthielt einen vergleichbaren Artikel (Art. 156). Im politischen Diskurs unserer Tage spielt Vergesellschaftung bzw. Sozialisierung jedoch keine Rolle, vielmehr ist die staatliche Wirtschaftspolitik auf Privatisierung als das pure Gegenteil ausgerichtet. In der rechtswissenschaftlichen Literatur, auch der zur Eigentumsdogmatik, führt Art. 15 GG ein Schattendasein. Praktisch wurde Art. 15 GG bisher nicht wirksam, da der Bundesgesetzgeber von der Vorschrift nie Gebrauch gemacht hat. Einzig in Hessen unternahm man 1946 zumindest den - später gescheiterten - Versuch, einige Unternehmen in Gemeineigentum zu überführen. Im folgenden Beitrag soll untersucht werden, warum ein Artikel des Grundgesetzes, der in den Lobeshymnen zu dessen 50. Geburtstag keine Erwähnung fand, in das Grundgesetz Eingang fand, welche Bedeutung dies damals hatte und was davon für aktuelle Debatten und Probleme noch mobilisiert werden kann.
Idee und Geschichte der Sozialisierung
Grund und Boden, Rohstoffe und Produktionsmittel sind fundamentale Produktionsfaktoren. Als Sachen bzw. Sachgesamtheiten bedürfen sie der Zuordnung zu Rechtsträgern. Diese Funktion wird in jeder Rechtsordnung durch das Eigentum erfüllt. Damit ist aber noch nicht entschieden, wer überhaupt Eigentümer dieser Produktionsfaktoren und damit der Erzeugnisse der Produktion sein kann.
Im Mittelalter war dies der Feudalherr, d. h. der aristokratische Gutsherr, der gleichzeitig politische Herrschaftsfunktionen wahrnahm. Mit zunehmendem Handel und Gewerbe und zunehmender Kommerzialisierung der Landwirtschaft vollzog sich dann eine entscheidende Ausdifferenzierung: Auf der einen Seite wurden politische Funktionen immer weiter zentralisiert - der moderne Staat entstand. Demgegenüber lösten sich die lokalen Gemeinschaften auf, und es bildete sich die bürgerliche Gesellschaft heraus. Der politische Liberalismus (z. B. John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, 1690) weist nun dem Staat die Aufgabe zu, Freiheit und Eigentum der Individuen zu schützen. Der Wirtschaftsliberalismus zieht nach und meint, dieser Staat müsse sich jeden Eingriffs in diese Marktgesellschaft enthalten, da er nur deren durch die "unsichtbare Hand des Marktes" (Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen, 1776) bewirkte quasi-natürliche Harmonie störe. Für diese bürgerlich-liberale, besser: kapitalistische Eigentums- und Wirtschaftsordnung ist also klar, wem die Produktionsmittel zuzuordnen sind. Sie müssen Privaten im weitesten Sinne, also natürlichen Personen, Personenvereinigungen oder Kapitalgesellschaften zur individuellen Nutzenmaximierung, zur Gewinnerzielung überlassen werden.
Doch so einfach war es nie. Prozesse zunehmender Verelendung großer Schichten legten die in dieser bürgerlichen Marktgesellschaft angelegte strukturelle soziale Ungleichheit offen: Einer die Produktionsmittel besitzenden kleinen Minderheit steht eine arbeitssuchende Mehrheit gegenüber, die keineswegs frei ist. Bereits frühzeitliche politische Utopien (z. B. Thomas Morus, Utopia, 1516) machen deutlich, daß die individualistische Zuordnung des Eigentums selbst die Ursache ist: " [...] dort aber, wo es kein Privateigentum gibt, befassen sich alle im vollen Ernst mit dem Gemeinwohl." Historisch außerordentlich wirksam werden diese Überlegungen von Karl Marx auf den Begriff gebracht. In einer radikalen Kritik an der Idee der Menschenrechte entlarvt er das Recht auf Privateigentum als "Recht des Eigennutzes": "Keines der sogenannten Menschenrechte geht also über den egoistischen Menschen hinaus, über den Menschen, wie er [...] auf sich, auf sein Privatinteresse und seine Privatwillkür zurückgezogenes und vom Gemeinwesen abgesondertes Individuum ist." (Zur Judenfrage, 1843). 1848 hieß es dann im Kommunistischen Manifest: "In diesem Sinne können die Kommunisten ihre Theorie in dem einen Ausdruck: Aufhebung des Privateigentums, zusammenfassen".
So wird die Abschaffung des Privateigentums zur politischen Forderung, die von der ArbeiterInnenbewegung aufgegriffen wird. Im Programm der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (1890 Umbenennung in Sozialdemokratische Partei Deutschlands), verabschiedet 1875 auf dem sog. Gothaer Vereinigungskongreß, heißt es: "Die Befreiung der Arbeit erfordert die Verwandlung der Arbeitsmittel in Gemeingut der Gesellschaft und die genossenschaftliche Regelung der Gesamtarbeit mit gemeinnütziger Verwendung und gerechter Verteilung des Arbeitsertrages."
Zum Begriff Gemeinwirtschaft
Wir kennen heute zwei grundlegende wirtschaftspolitische Modelle: Marktwirtschaft und Planwirtschaft. Beide geben eine Antwort auf die Frage, welche Güter wie produziert und wie verteilt werden sollen. Das erste Modell setzt auf Selbststeuerung, die sich in der schon oben erwähnten "unsichtbaren" Art und Weise durch einen Angebot und Nachfrage koordinierenden Wettbewerb vollzieht. In einer Planwirtschaft wird der Marktmechanismus durch zentrale Wirtschaftsverwaltung ersetzt. Zentrale Pläne für bestimmte Zeiträume (1 Jahr, 5 Jahre oder länger) stellen die Abdeckung des gesellschaftlichen Bedarfs sicher und steuern den Wirtschaftsprozeß.
Gemeinwirtschaft kann also nicht mit Planwirtschaft gleichgesetzt werden. Vielmehr geht es in erster Linie um den Zweck, den ein Unternehmen mit seiner wirtschaftlichen Tätigkeit - in einer Markt- oder Planwirtschaft - verfolgt. Ist das Unternehmen auf Gewinnerzielung ausgerichtet, spricht man von privatwirtschaftlicher Orientierung. Die individuelle Interessen des Eigentümers, dem der Gewinn zusteht, entscheiden. Verfolgt ein Unternehmen dagegen nichtprivate Zwecke, sondern wirtschaftet es auf der Grundlage kollektiver Interessen (sozialer, ökologischer oder anderer Natur), liegt eine gemeinwirtschaftliche Orientierung vor. Sozialistische Theoretiker präzisieren diese mit folgenden Grundsätzen: Bedürfnisbefriedigung, Demokratisierung (KonsumentInnen und Beschäftigte partizipieren am Unternehmen) und gerechte Einkommensverteilung.
Historisch ist das Marktwirtschaftsmodell mit dem privatwirtschaftlichen Prinzip zur kapitalistischen Produktionsweise verwoben: Die privatnützige Verwendung des Eigentums und seiner Erzeugnisse motivieren zur Leistungsentfaltung und gewährleisten so den marktwirtschaftlichen Selbststeuerungsmechanismus. Die in der BRD derzeit propagierte "soziale Marktwirtschaft" ist dazu keine grundlegende Alternative, da sie das Modell nicht in Frage stellt, sondern durch aktive staatliche Wirtschaftspolitik lediglich Grenzen zu setzen sucht. Dadurch ist das gemeinwirtschaftliche Prinzip - im weitesten Sinne - aber nicht ausgeschlossen. So können zum einen die öffentlichen Unternehmen von Bund und Ländern (z. B. Kreditanstalt für Wiederaufbau) sowie der Kommunen (z. B. die Sparkassen, aber auch kommunale Eigen- und Regiebetriebe) als gemeinwirtschaftlich angesehen werden, die Erfüllung öffentlicher Aufgaben ist bei diesen sogar Voraussetzung für ihre rechtliche Zulässigkeit. Mißt man diese Unternehmen jedoch an den angeführten Präzisierungen der sozialistischen Theorie, kann hier von Gemeinwirtschaft nicht gesprochen werden, da es jedenfalls an der Orientierung an Demokratisierung und gerechter Einkommensverteilung fehlt. Zudem sind diese Unternehmen in der Regel dem Wettbewerb mit anderen Unternehmen ausgesetzt. Sie stehen also unter dem Druck, sich typischen marktwirtschaftlichen Verhaltensweisen anzupassen, erwirtschaftete Verluste erzeugen Rechtfertigungszwänge.
Zum anderen sind hier die Unternehmen der "freien Gemeinwirtschaft" zu nennen. Sie beruhen auf dem genossenschaftlichen Prinzip: Schicksalsgefährten schließen sich zusammen, nicht um Gewinn zu erzielen, sondern um ihre Lage zu verbessern. Beispiele sind Kreditgenossenschaften wie die Volks- und Raiffeisenbanken und die Unternehmen der sog. gemeinnützigen Wohnungswirtschaft oder auch die food coop für Produkte aus biologischem Anbau. Als gemeinwirtschaftlich im oben dargestellten Sinne können aber auch diese Unternehmen nicht bezeichnet werden, da sie nicht Interessen der Allgemeinheit verfolgen, sondern die ihrer Träger. Mit Sozialisierung im Sinne des Art. 15 GG haben sie zudem nichts zu tun, weil sie nicht durch enteignenden Hoheitsakt zustandekommen, sondern durch Vereinbarung ihrer Mitglieder.
Der Weg in das Grundgesetz
Von den 65 Abgeordneten des mit der Ausarbeitung und Verabschiedung eines westdeutschen Grundgesetzes beauftragten Parlamentarischen Rates waren je 27 Vertreter der SPD und der CDU / CSU. Somit war klar, daß in grundlegenden, die beiden großen Lager trennenden Fragen nur Kompromisse erzielt werden konnten, wobei ebenso klar war, daß politische Radikalansichten - z. B. von links: 2 KPD-Abgeordnete - keine Durchsetzungsfähigkeit hatten.
Die SPD war auch nach dem 2. Weltkrieg programmatisch auf der 1875 eingeschlagenen und auf dem Erfurter Parteitag 1890 noch präzisierten marxistischen Linie. Erst auf dem Godesberger Parteitag von 1959 verabschiedete sie sich vom marxistischen Sozialismus und auch ausdrücklich von der Forderung nach Sozialisierung. In die Beratungen des Parlamentarischen Rates ging sie also noch mit dem Ziel der Beseitigung der kapitalistischen Produktionsweise. Vor allem die Gewerkschaften formulierten ergänzend die realpolitische Variante dieses Zieles: Wirtschafts- und politische Ordnung sollten in einer sog. Wirtschaftsdemokratie, die sich durch planmäßige Wirtschaftslenkung, Mitbestimmung der ArbeitnehmerInnen in den Betrieben und eben die Sozialisierung bestimmter Unternehmen auszeichnet, auf einen Nenner gebracht werden.
Die CDU dagegen befand sich schon auf dem Kurs zur "sozialen Marktwirtschaft". Zwar hatte auch sie in ihrem Ahlener Programm von 1947 - unter dem Einfluß des christlichen Sozialismus - das "kapitalistische Gewinn- und Machtstreben" verurteilt und sich für Sozialisierungsmaßnahmen ausgesprochen. Bis zu den Beratungen im Parlamentarischen Rat setzten sich jedoch die liberaleren Kräfte (Adenauer, Erhard) durch. Da man nun im Grundgesetz nicht das eine oder andere wirtschaftspolitische Konzept festschreiben konnte, mußte die Frage offenbleiben und verschoben werden. Man war sich darin einig, daß die politischen Gremien des zukünftigen Gemeinwesens über dessen Wirtschaftsverfassung entscheiden sollten. Die SPD hätte wohl ohne die Aufnahme des Art. 15 GG (und der entsprechenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG) und der dadurch prädizierten Offenheit dem Grundgesetz gar nicht zugestimmt. Die Aufnahme eines Sozialisierungsartikels ist im übrigen den Abgeordneten auch deshalb nicht so schwer gefallen, weil gerade gegenüber dem Großunternehmertum aufgrund dessen bereitwilliger Unterstützung des nationalsozialistischen Systems erhebliches Mißtrauen bestand.
Was bedeutet Sozialisierung nach Art. 15 GG genau?
Um sich nun die juristisch-dogmatische Umsetzung einer Vergesellschaftung besser klar machen zu können, müssen das oben dargelegte gemeinwirtschaftliches Ziel und die dafür passende Rechtsform unterschieden werden. Das in Art. 15 GG vorgesehene Gemeineigentum läßt sich allerdings in juristischen Kategorien nicht leicht präzisieren. Auch die Kommentarliteratur zu Art. 15 GG weist hier Unsicherheiten auf. Jedenfalls bedarf es eines Rechtssubjektes (gesellschaftsrechtlich: eines Unternehmensträgers), dem die in Art. 15 GG genannten Güter durch den Sozialisierungsakt zugeordnet werden können. Dies kann, muß aber nicht der Staat (Bund / Land) selbst sein, es kann sich auch um eine Gemeinde oder eine andere Selbstverwaltungskörperschaft des öffentlichen Rechts handeln. Sofern durch entsprechenden staatlichen Einfluß die gemeinwirtschaftliche Zweckbestimmung gewährleistet wird, sind aber ebenso private Rechtsformen denkbar, z. B. Kapitalgesellschaften wie Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbH) oder Aktiengesellschaften (AG) mit mehrheitlicher Beteiligung der öffentlichen Hand. In Hessen wurde sogar eine zwischen öffentlich-rechtlicher und privater Rechtsform stehende "Sozialgemeinschaft" als Unternehmensträger konzipiert. Vergesellschaftung ist also nicht notwendigerweise Verstaatlichung.
An dieser Stelle soll auch einem verbreiteten Mißverständnis vorgebeugt werden. Die sachliche Begrenzung der Sozialisierungsobjekte in Art. 15 GG macht klar, daß das Privateigentum an sich nicht abgeschafft werden kann. Sonstiges privates Eigentum, insbesondere das den persönlichen Zwecken dienende, bleibt unberührt. Auch Art. 14 GG steht einer vollständigen Abschaffung entgegen.
Die Funktionsweise einer umfassend sozialisierten Wirtschaftsordnung kann man sich gut am Beispiel der ehemaligen DDR verdeutlichen. Unternehmen ("Betriebe") und Bodenschätze befanden sich in Volkseigentum, dem "sozialistischen Eigentum an Produktionsmitteln" (Art. 9 und 12 DDR-Verfassung von 1968), sie waren also verstaatlicht. Die Landwirtschaft war zum großen Teil genossenschaftliches Eigentum (sog. LPG). Private Zusammenschlüsse zu wirtschaftlichen Zwecken nach westdeutschem Zivilrecht - also z. B. als GmbH oder ähnliches, gab es dagegen nicht. Und die sich nicht in Volkseigentum befindlichen kleineren Handwerks- und Gewerbebetriebe waren an die Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse gebunden (Art. 14 DDR-Verf.).
Gescheitert: Sozialisierung in Hessen
Während Art. 15 GG zunächst nur eine Eingriffsgrundlage für eine noch durchzuführende Sozialisierung verschafft, geht Art. 41 der Hessischen Landesverfassung von 1946 einen Schritt weiter. Lapidar heißt es dort: "Mit Inkrafttreten dieser Verfassung werden 1. in Gemeineigentum überführt: der Bergbau [...], die Betriebe der Eisen- und Stahlerzeugung [...] 2. vom Staate beaufsichtigt oder verwaltet: die Großbanken und Versicherungsunternehmen [...]". Hier wurden also qua Verfassung die betroffenen Betriebe (nicht die gesamte Wirtschaft, deshalb nur Teilsozialisierung) Gemeineigentum des Landes Hessen. Da die amerikanische Militärregierung diesem Artikel skeptisch gegenüberstand, ordnete sie für ihn eine gesonderte Volksabstimmung an. Die Ergebnisse der im Dezember 1946 durchgeführten Abstimmung waren eindeutig: Neben der allgemeinen Zustimmung zur Verfassung von 76,8 % entschieden sich 71,9 % der Stimmen für den Art. 41.
Die damalige hessische Regierung (eine SPD / CDU-Koalition) stand nun vor dem Problem, erstmals eine Sozialisierung auch praktisch durchzuführen. Zu diesem Zweck wurden für die betroffenen Betriebe (z. B. 19 Braunkohlegruben, die Buderus´schen Eisenwerke, 11 energiewirtschaftliche Aktiengesellschaften) zunächst Überwachungsausschüsse und Treuhänder bestellt. Alles weitere aber ging schief.
So bedurfte die Durchführung des Sozialisierungsprozesses in erheblichem Maße der gesetzlichen Präzisierung, um den durch das Inkrafttreten der Verfassung geschaffenen Schwebezustand zu beenden. Z. B. mußte geklärt werden, welche Rechtsträger die Betriebe übernehmen sollten, wie die Betriebe geleitet, kontrolliert und koordiniert oder wie die Erträge verwendet werden sollten. Der hessische Landtag nahm ein entsprechendes Ausführungsgesetz in Angriff, zu dessen Verabschiedung es jedoch nie kam. Die CDU gab, auch aufgrund durchaus berechtigter Bedenken über die Machbarkeit des Projektes - angesichts eines sich marktwirtschaftlich strukturierenden Umfeldes - ihre zustimmende Haltung bald auf. Außerdem wollten die Gemeinden, die durch die Sozialisierung einer Vielzahl von kommunalen Betrieben betroffen waren, diese Betriebe als wichtige Einnahmequelle für sich behalten. Langwierige Verhandlungen wurden in Gang gesetzt. Bei der entscheidenden Abstimmung im hessischen Landtag 1950 scheiterte das Gesetz dann knapp. Der genaue Status der von der Sozialisierung umfaßten Unternehmen blieb damit bis zu deren späterer Reprivatisierung ungeklärt.
Eine weitere Hürde war das intervenierende Verhalten der amerikanischen Besatzungsmacht. Zwar versuchte sie nicht unmittelbar der Sozialisierungspolitik entgegenzuwirken. Im Zuge ihrer Entflechtungspolitik (Kartellbekämpfung) beschlagnahmte sie aber 1948 fast alle Kohlebergbauunternehmen und die gesamte hessische Eisen- und Stahlindustrie, die dann im Laufe der Zeit in privatwirtschaftliche neue Gesellschaften eingebracht wurden. Die Zahl der unter die Gemeinwirtschaft fallenden Betriebe wurde so stark reduziert. Da somit die politischen Chancen des Projektes zunehmend geschrumpft waren, verwundert es nicht, daß nun auch juristische Mittel mobilisiert wurden. Im Jahr 1950 stellte die FDP-Fraktion des Landtages einen Normenkontrollantrag beim hessischen Staatsgerichtshof. Sie wollte klären lassen, ob Art. 41 überhaupt wirksam ist (Bedenken bestanden wegen eines Verfahrensfehlers und wegen der Vereinbarkeit mit Art. 15 GG, insb. wegen Entschädigungsfragen) und ob es sich nicht um einen bloßen Programmsatz handele, d. h. Art. 41 gar keine unmittelbare Wirkung hätte. Der Entscheidung des Staatsgerichtshofs gingen über 20 Rechtsgutachten voraus, und dies war wohl die erste umfassende Anpassungsleistung deutscher Juristen nach dem Dritten Reich: Nur 5 kamen zum Ergebnis, daß eine wirksame Sofortsozialisierung vorlag. Der Staatsgerichtshof ließ sich jedoch nicht beirren und bejahte grundsätzlich die Gültigkeit und unmittelbare Wirkung des Art. 41. Allerdings nahm er die Gemeindebetriebe und Klein- und Mittelbetriebe von der Sozialisierungswirkung aus. Somit verringerte sich der Bestand der vergesellschafteten Betriebe weiter. Die wenigen verbliebenen Betriebe (u. a. 9 Kleinbahnen, mittlerweile als Holding-GmbH geführt) wurden letztendlich entweder später eingestellt oder wieder privatisiert.
Renaissance: Verstaatlichung der Banken
Ungeahnte Bedeutung erlangte Art. 15 GG in der Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre geführten Debatte darüber, ob das Kreditwesen "verstaatlicht" werden sollte. Die "Macht der Banken" (v. a. der privaten Großbanken) wurde angesichts der personellen und anteilsmäßigen Verflechtungen von Banken und gewerblicher Wirtschaft insbesondere von den Jungsozialisten kritisiert. Dabei griff man auf Vorbilder in anderen Ländern, z. B. Frankreich oder Österreich, zurück. Abgesehen vom fehlenden politischen Durchsetzungswillen - immerhin gibt es seit den 60er Jahren eine milde Aufsicht durch das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen - wäre das Projekt aber auch juristisch nicht machbar gewesen. Es stellte sich nämlich die Frage, ob Art. 15 GG überhaupt eine Eingriffsgrundlage bereitstellen könnte. Dann müßte das Bankwesen unter die von Art. 15 erfaßten Wirtschaftszweige fallen, also "Produktionsmittel" sein. Zu dieser Frage gab es damals etliche Stellungnahmen in der rechtswissenschaftlichen Literatur. Die "herrschende Meinung" war und ist aber der Ansicht, daß Dienstleistungen nicht als auf Sachgüterproduktion aufzufassende Produktionsmittel verstanden werden können. Die "Mindermeinung" weist dagegen mit Recht darauf hin, daß eine Sozialisierung der Banken geradezu Voraussetzung für die Sozialisierung der Industrie ist. Vertreter von Banken sind in unzähligen Aufsichtsräten vertreten, Banken sind in hohem Maße an anderen Unternehmen beteiligt, und die Kreditvergabe als eine wichtige Funktion der Banken hat erheblichen Einfluß auf die Investitionslenkung und damit auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung.
Alternativen zur Planwirtschaft?
Da in der DDR das Privateigentum an Produktionsmitteln fast vollständig aufgehoben wurde, ergänzte man die Wirtschaftsordnung durch den Grundsatz der Planung und Leitung der Volkswirtschaft (Art. 9 III DDR-Verf.): die Planwirtschaft. Auch der von SPD und Gewerkschaften ursprünglich mit der Einführung von Art. 15 GG verbundene Sinngehalt dürfte dem entsprechen. Die mittlerweile offenbar gewordenen Risiken und Schwächen dieses Wirtschaftsmodells - Mißlingen wegen des Fehlens ökonomischer Anreize, Gefährdung individueller wirtschaftlicher und politischer Freiheiten und Fehlplanung - lassen fragen, ob es zur Einführung einer Planwirtschaft nicht auch Alternativen gibt.
Eine Möglichkeit wäre die Einführung eines sog. Marktsozialismus. Diese Wirtschaftsform wurde von sozialistischen Theoretikern entworfen und in Ansätzen im früheren Jugoslawien praktiziert. Danach werden (eine Art Rosinentheorie) zwar die Produktionsmittel in öffentliches Eigentum überführt, der marktwirtschaftliche Wettbewerb bleibt aber erhalten. Unmittelbare staatliche Beeinflussung des Wirtschaftsprozesses wird allenfalls für vorsichtige zentrale Preisfestsetzung zugelassen.
Eine andere Alternative wären Teilsozialisierungen in einem marktwirtschaftlichen Umfeld. Art. 15 GG ließe dies zu. Jedoch fragt sich, ob ein solches Vorgehen - innerhalb der marktwirtschaftlichen Logik - auch funktionieren würde. Hierfür kann, neben dem Sonderfall Hessen, auf internationale Erfahrungen zurückgegriffen werden, da beispielsweise in England und Frankreich nach dem 2. Weltkrieg wichtige Industrien verstaatlicht wurden (Eisenbahn, Montan, Elektrizität; in Frankreich auch Banken und Versicherungen und das Renault-Automobilwerk). Die Ergebnisse ähneln den bereits oben für die bundesrepublikanischen öffentlichen Unternehmen dargestellten, so daß Skepsis angezeigt ist: Die verstaatlichten Industrien waren durch viele Auflagen gebunden, wiesen vergleichsweise geringe Wachstumsraten auf und erschienen ineffizient. Außerdem wirkten sich Gemeinwohlorientierungen marktstörend und wettbewerbsverzerrend aus. So konnten zwar durch staatliche Zuschüsse für die verstaatlichten Industrien deren Preise für ihre Leistungen bedürfnisgerecht ausgestaltet werden. Jedoch profitierten davon in erheblichem Maße auch privatwirtschaftliche Unternehmen, da die niedrigeren Preise häufig für Zwischenprodukte galten und somit die privaten EndverbraucherInnen gar nicht erreichten. Die geringeren Preise stellten somit mittelbar eine dauerhafte Subventionierung bestimmter Unternehmen dar, die Ineffizienz und Krisenanfälligkeit auslöste. Konservative Regierungen schließlich reduzierten die Funktionen der verstaatlichten Unternehmen auf die "bloßer" öffentlicher Unternehmen.
Angesichts der erfolgreichen Restauration der bürgerlich-kapitalistischen Produktionsweise in den Gründungsjahren der Bundesrepublik stellt sich die Frage, ob das Grundgesetz überhaupt "wirtschaftspolitisch neutral" ist. Der Wortlaut gibt für eine Antwort nichts her. In der rechtswissenschaftlichen Literatur wurde von der Gewährleistung der sozialen Marktwirtschaft (Nipperdey) bis hin zur Gewährleistung des Sozialismus (Abendroth) alles vertreten. Das Bundesverfassungsgericht hat sich dagegen weise zurückgehalten. In seinem Investitionshilfe-Urteil von 1952 (BVerfGE 4, 7) hat es diese Neutralität betont und die gegenwärtige Wirtschaftsordnung nur als "mögliche Ordnung" bezeichnet. Im Mitbestimmungsurteil von 1976 (BVerfGE 50, 290) hat es die Argumentation der Beschwerdeführer, das Grundgesetz enthalte eine Wertentscheidung zugunsten des Privateigentums als Element der Wirtschaftsordnung, nicht aufgegriffen. Der Gegenstand dieses Urteils, die paritätische unternehmerische Mitbestimmung nicht nur in der Montanindustrie, ist übrigens die abgeschwächte Form einer der oben erwähnten "wirtschaftsdemokratischen" Forderungen.
Die wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes
Hinsichtlich der Alternative Planwirtschaft/Marktwirtschaft ziehen die Grundrechte dem Gesetzgeber klare Grenzen. Eine zentrale Planung des Wirtschaftsprozesses ist mit den grundrechtlichen Gewährleistungen der Berufs- und Eigentumsfreiheit in der gegenwärtig herrschenden Auslegung nicht vereinbar. Insofern ist die bundesrepublikanische Wirtschaftspolitik auf die Marktwirtschaft festgelegt. Eine derartige Fixierung ergibt sich wohl auch aus dem Europarecht (und dessen Anwendungsvorrang). Art. 4 I EG-Vertrag verpflichtet die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten in ihrer Wirtschaftspolitik auf den "Grundsatz der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb".
Gemeinwirtschaftliche Orientierungen sind damit aber nicht ausgeschlossen. Sie sind ebenso in einer Marktwirtschaft denkbar, wenn auch den dargestellten praktischen Schwierigkeiten ausgesetzt. Vor diesem Hintergrund erscheint Art. 15 GG also als Rahmen für einen möglichen Übergang zu anderen Wirtschaftsformen.
Fazit
Das politische Programm Sozialisierung gibt Antworten auf Fragen, die sich heute nicht mehr stellen. Als Forderung nach sozialer Umwälzung der Wirtschaftsordnung ist es auf eine industrialisierte Wirtschaftsstruktur bezogen und greift in der postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft zu kurz. Als Forderung an den Staat vertraut es auf eine politische Gestaltungkraft, die ein Staat, der sich beliebig Globalisierungszwängen fügt, nicht mehr wahrnehmen kann. Solange im politischen System marktwirtschaftlich-kapitalistische Denkmuster beibehalten werden, haben auch Teilsozialisierungen kaum eine Chance.
Der ursprüngliche Gehalt des Art. 15 GG ist somit obsolet. Dessen aktuelle Bedeutung besteht meines Erachtens in folgendem: In rechtsmethodischer Hinsicht können Auslegungstopoi wie die der "Einheit der Verfassung" oder der "objektiven Wertordnung des Grundgesetzes" nur unter Vorbehalt verwendet werden, weil eine solche "Einheit" oder die Vorstellung einer geschlossenen Ordnung der pluralistischen Offenheit des Grundgesetzes für alternative Konzepte zuwiderläuft. Art. 15 GG schafft somit Spannungen, die er- und ausgehalten und von verantwortungsvollen JuristInnen auslegend-schöpferisch bewältigt werden müssen. Politisch ist Art. 15 GG schließlich " [...] das fortbestehende Angebot an denjenigen, der die augenblickliche Wirtschaftsordnung ablehnt, innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung und nicht außerhalb dieser für seine Ziele zu kämpfen" (Bryde).
Andreas Funke studiert Jura und lebt in Köln.
Literatur:
Arnim, Hans Herbert von, Volkswirtschaftspolitik, 4. Aufl. 1983.
Büschgen, Hans E. / Steinbrink, Klaus, Verstaatlichung der Banken? Forderungen und Argumente, 1977.
Frotscher, Werner, Wirtschaftsverfassungs- und Wirtschaftsverwaltungsrecht, 3. Aufl. 1999.
Loesch, Arnim von, Die gemeinwirtschaftliche Unternehmung. Vom antikapitalistischen Ordnungsprinzip zum marktwirtschaftlichen Regulativ, 1977.
Rittstieg, Helmut, Eigentum als Verfassungsproblem, 1975.
Winter, Gerd, Sozialisierung in Hessen 1946-1955, in: Kritische Justiz 1974, S. 157 ff.
Winter, Gerd (Hrsg.), Sozialisierung von Unternehmen. Bedingungen und Begründungen, 1976.
Ziekow, Jan, Einheit in Freiheit - 50 Jahre Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, in: Juristische Schulung 1999, 417 ff.
Kommentierungen zu Art. 15 GG u. a:
Bryde, Brun-Otto, in: von Münch (Hrsg.), GG-Kommentar, 4. Aufl. 1992
Kimminich, Otto, in: Bonner Kommentar (Zweitbearbeitung 1965)
Rittstieg, Helmut, in: Alternativkommentar, 1984.
|
|