Heft 4 / 1999:
Verfassungspotentiale?
50 Jahre Grundgesetz
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Der Mißbrauch mit dem Mißbrauch
Art. 18 GG, die Verwirkung von Grundrechten und die grundrechtsimmanente Mißbrauchsschranke
 

Art. 18 GG bestimmt, daß jemand, der Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitliche demokratischen Grundordnung mißbraucht, vom BVerfG zu einer Verwirkung seiner Grundrechte verurteilt werden kann. Normativ geht es somit um die äußerste Grenzbestimmung dessen, was die Verfassung an Freiheit zuläßt: Wer die elementarsten Regeln des Gemeinwesens mißachtet, soll in Zukunft nicht mehr mitspielen dürfen.
Als "streitbare Demokratie" zeigte die freiheitlich demokratische Grundordnung der BRD schon immer scharfe Zähne: So wurden bspw. in den Siebzigern massenweise linksorientierte BeamtInnen aus dem öffentlichen Dienst entfernt oder aufgrund ihrer Gesinnung gar nicht erst in diesen Aufgenommen. Das Establishment verteufelte alles links der SPD als verfassungsfeindlich.
Trotzdem hat die Verwirkungserklärung nach Art.18 GG in der Geschichte der BRD bislang nur eine geringe Rolle gespielt: vier Verfahren beschäftigten bislang das Bundesverfassungsgericht (BVerfG), die alle wegen überlanger Verfahrensdauer eingestellt wurden: 1952 gegen den stellvertretenden Vorsitzenden der Sozialistischen Reichspartei (SRP) Otto Ernst Remer und 1974 gegen den Verleger und Chefredakteur der "Deutschen Nationalzeitung" Dr. Gerhard Frey. Auch die 1992 noch von Innenminister Rudolf Seiters eingeleiteten Verfahren gegen die Rechtsextremisten Thomas Dienel und Heinz Reisz holten Art.18 GG zwar aus der jahrzehntelangen Versenkung, aber es kam ebenso zu keiner Verurteilung.

Die stumpfgeborene Universalwaffe

Das Potential zu einer politischen Universalwaffe im Kampf gegen Verfassungsfeinde hätte die Verwirkungserklärung zweifelsohne - würde sie den Betroffenen doch den Schutz der Grundrechte vor staatlichen Eingriffen entziehen. Daß es bisher nicht dazu kam liegt hauptsächlich am Entscheidungsmonopol des BVerfG. Vereinzelt wurde dieses anhand des für den jeweiligen Einzelfall einer Verwirkungsentscheidung nach Art.18 S. 2 GG kritisiert: Die Rechtsordnung werde durch langwierige Verfahren im Kampf gegen die Feinde der freiheitlich demokratischen Grundordnung handlungsunfähig.1 Diese Auffassung übersieht jedoch, daß Art. 18 GG nicht nur als Waffe zur Sicherung des Staatsschutzes, sondern auch dem Schutz des Bürgers durch die Monopolisierung der Verwirkungsentscheidung beim BVerfG dient.2 Man stelle sich dieses Instrument in der Hand einer Regierung vor!
Ein Schattendasein mag der Norm aber auch ihrer weitgehenden Unbestimmtheit wegen beschieden sein.3 Ein Mißbrauch nach Art. 18 GG soll zum Beispiel vorliegen, wenn "nachhaltig-aggressiv die Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlich demokratischen Grundordnung angestrebt wird" und die Mittel hierfür "zweckbezogen und planvoll ausgewählt" werden. Des weiteren müsse die Gefährlichkeit des Kampfes objektiv wenigstens noch bestehen.4
Neben der Frage, wann ein Mißbrauch und wann eine Verwirkung von Grundrechten vorliegt, ist insbesondere auch umstritten, ob Art. 18 GG eine Sperrwirkung im Verhältnis zu einfachgesetzlichen Normen, insbesondere dem politischen Strafrecht entfaltet. Unterläuft bspw. das als Nebenstrafe verhängte Berufsverbot gegen einen rechtsextremen Redakteur die außergewöhnliche Kompetenz des BVerfG?
Das BVerfG meint, daß ein Verstoß gegen sein Entscheidungsmonopol dann vorliege, wenn von anderen staatlichen Organen Maßnahmen ausgesprochen werden, die eine "Verwirkung" gem. Art. 18 GG darstellen oder ihr gleichkommen.5 Es wird dabei auf einen Vergleich der angedrohten Rechtsfolge abgestellt. Entscheidend sei nicht alleine der tatsächlich grundrechtsmindernde Effekt der Maßnahme,6 da dies zu dem Ergebnis führe, daß auch die Verhängung einer Freiheitsstrafe wegen Art.18 GG verfassungswidrig wäre.7 Hinzukommen müsse ein "finales Element" in der Gestalt, daß nur solche Grundrechtsminderungen einer Verwirkung gem. Art. 18 GG gleichkämen, die präventiv, zu Verhinderung künftiger Angriffe auf die freiheitlich demokratische Grundordnung verhängt werden.8
Andere Auffassungen beantworten die Frage der Sperrwirkung des Art. 18 GG nicht (nur) unter der Perspektive der besonderen Sanktion "Verwirkung" (Rechtsfolge), sondern im Hinblick auf die enumerative Beschränkung in Art. 18 S. 1 GG (Tatbestand). Dabei bestehen dann wiederum unterschiedliche Auffassungen darüber, wann eine Tatbestandsidentität vorliegt. In aller Verschiedenheit der Ansichten wird jedoch das politische Strafrecht als durch Art. 18 GG und die Kommunikationsgrundrechte begrenzt angesehen und in seine (vorwiegend) repressive Schranken verwiesen. Art. 18 GG bringt so dogmatisch die freiheitsverbürgende Funktion der Verfassung zum Ausdruck. Dies entspricht der Stellung der Norm im Grundrechtsteil. Folglich weist Art. 18 GG alle naiven Ansprüche auf autoritative Lösungen (Ausgrenzungen von Gegnern) zurück in die demokratische Arena.

Das Prinzip der streitbaren Demokratie

Es war das BVerfG selbst, das der Grundrechtsverwirkung nach Art. 18 GG aber eine indirekte Geltung verschaffte: Die Bestimmung bilde verfassungssystematisch mit Art. 9 Abs. 2 und Art. 21 Abs. 2 GG die Normtrias für das Prinzip der "streitbaren Demokratie".9 Mit dieser verfassungsrechtlichen Grundsatzentscheidung eröffnete sich nach Vorstellung der BVerfG die Möglichkeit, Angriffe auf die freiheitlich demokratische Grundordnung energischer abzuwehren.10 Eine (allgemeine) Verfassungstreue als BürgerInnenpflicht,11 hergeleitet aus dem Grundsatz der "streitbaren Demokratie", revidierte das BVerfG zwar wieder, aber fordert seitdem in ständiger Rechtsprechung ebendies für BeamtInnen gemäß Art. 33 Abs. 2, 3 und 5 GG:12 Die freiheitlich demokratische Grundordnung fordere BeamtInnen, die aktiv für Staat und Verfassung eintreten. Eine "formal korrekte, im übrigen uninteressierte, kühle, innerlich distanzierte Haltung" genüge nicht.13 Sogenannte Radikalenerlasse setzten diese Grundrechtsdogmatik in Praxis um und sorgten in den Siebzigern für die Entfernung von extremistischen Lehrer- und BriefträgerInnen aus dem öffentlichen Dienst.
Mit der objektiv-rechtlichen Konstruktion der freiheitlich demokratischen Grundordnung setzte Karlsruhe den schon im Lüth-Urteil 14 eingeschlagenen dogmatischen Weg fort, objektive Grund- und Wertentscheidungen oder Grundsatznormen aus der Verfassung zu postulieren. Doch sind weder die genauen Inhalte dieser Grundordnung abschließend definiert, noch lassen sich Werte rational nachprüfbar begründen.15 Des weiteren schafft diese freiheitlich demokratische Grundordnung, als Essenz der "Wertentscheidungen" über die konkreten positiven Normen der Verfassung gestellt eine "Meta-Legalität", deren Ausflüsse zwar legitim sein mögen, aber auf Basis des positiven Rechts nicht legal sind.16
In den letzten Jahren ist die Hysterie der Extremisten-Debatten verflogen. Allein Klein, der Nachfolger von Dürig, forderte 1996 einen neuen Gerichtshof für Anliegen nach Art.18 und 21 GG damit der Staatsschutz nicht schon im Vorverfahren eines überlasteten BVerfG scheitern müsse.17
Ernstzunehmender und klandestiener ist dagegen die die objektivrechtliche Linie des BVerfG weiter fortführende Diskussion über den "Grundrechtsmißbrauch" durch Extremisten. Extremisten, so die Grundposition der, sollen keinen Grundrechtsschutz erhalten.
Zwar ist der Weg, den "Grundrechtsmißbrauch" zu ahnden, ohne zuvor eine (Verfassungs-) Treuepflicht für BürgerInnen zu statuieren. Um jedoch dem "Grundrechtsterror der Bürger" nicht ausgeliefert zu sein, der im Gewande von Kunst- und Religionsfreiheit daherkomme,18 haben sie folgenden dogmatischen Ausweg erkoren: "Mißbrauchsverhalten" soll von vornherein nicht mehr vom Schutzbereich des Grundrechts umfaßt sein.
Als Kronzeuge für die Figur des Grundrechtsmißbrauchs als immanente Schranke der Grundrechtsgewährleistung wird Konrad Hesse zitiert, der darauf aufmerksam machte, daß "Grundrechte [...] nur ihrem Geist gemäß, nicht ihrem Geist zuwider gebraucht werden" sollen.19 Bei Hesse jedoch bleibt offen, ob der Mißbrauch schon immanent im Schutzbereich eines Grundrechts oder erst bei der "praktischen Konkordanz", also der Verhältnismäßigkeitsüberprüfung des Grundrechtseingriffs eine Rolle spielen soll.
Noch weiter geht ein Vorschlag, der mit Hilfe einer "Verantwortungsethik" aus den Prinzipien der Art. 1, 18 und 20 GG allen Grundrechten verfassungsimmanent (Mißbrauchs-) Grenzen setzen will.20
Gegen all diese Auffassungen einer Mißbrauchsbegrenzungen von Grundrechten stehen gewichtige verfassungsrechtliche Argumente. Zunächst verkennt die Lehre den Wortlaut der Verfassung, die Grundrechte häufig unter spezifische und insofern abschließende Schrankenvorbehalte gestellt hat. Somit wird die Grenze zwischen einfachem Recht und Verfassungsrecht verwischt, da die Frage nach der Schutzwürdigkeit des Verhaltens (zum Nachteil des Grundrechtsträgers) von einem einfachen Gesetz bestimmt wird, so daß auch der Wesensgehalt eines Grundrechts gemäß Art. 19 Abs. 2 GG nicht mehr garantiert ist. Darüber hinaus kehrt jedwede Mißbrauchsdogmatik die Rechtfertigungslast, die der Staat für Grundrechtseingriffe trägt, gegen die Grundrechtsträger, der nach Art. 1 Abs. 3 GG ja geschützt werden soll, um. Extremisten den Grundrechtsschutz zu versagen ist kein gangbarer Weg. Die Konstruktion der freiheitlich demokratischen Grundordnung als Grundsatzentscheidung und neuerdings Versuche eine Mißbrauchsdogmatik zu schaffen offenbaren ein repressives Staatsverständnis. Staat und Gesellschaft werden getrennt gesehen. Dabei bilden die sozialen Spannungen und die aufeinanderprallenden Interessen im öffentlichen Raum gerade das produktive (Zukunftslösungs-) Potential eines republikanisch verfaßten Staates. Die Ausgrenzung im öffentlichen Prozeß nach dem Freund-Feind Schema ist zumindest verfassungsrechtlich erschwert. Das Austragen von Konflikten ist ein gesellschaftliches Therapeutikum, auch wenn es vielen unerträglich erscheint.21

Felix Ginthum ist ADAC-Unfallberater und demnächst Beamter auf Widerruf in Potsdam.

Anmerkungen:

1 So Dürig in der vor Klein bearbeiteten Neuauflage des Art.18 GG, in: Maunz /Dürig, Art.18 GG.
2 Jetzt a. A. Klein, in: Maunz / Dürig Art. 18 GG Rdnr. 19 (November 1997, Lfg. 33)
3 Butzer / Clever, 638.
4 Krebs, in: von Münch, Art. 18 GG, Rdnr. 9.
5 BVerfGE 10, 118, 122f.
6 So aber von Mangold, Art. 18 GG, Rdnr. 2.
7 Vgl. dazu Gallwas, 149f; Hönsch, 121 ff.
8 Reissmüller, JZ 1960, 532; Maunz-Dürig, Art. 18 Rdnr. 91.
9 Vgl. BVerfGE 5, 85, 138 f.
10 Vgl. BVerfGE 39, 334, 367f.
11 Vgl. diesen Ansatz in dem Beschluß vom 18.02.1970, BVerfGE 28, 36ff.
12 Vgl. BVerfGE 39, 334, 358.
13 Vgl. BVerfGE 39, 334, 349.
14 BVerfGE 7, 398.
15 Denninger, Verfassungstreue, 276.
16 Frankenberg, KJ 1977, 367.
17 Frankfurt Allgemeine Zeitung Nr. 125 v. 25.06.1996, 12.
18 So Dürig / Klein, in: Maunz / Dürig, Art. 18, Rdnr. 34.
19 Konrad Hesse, Rdnr. 709.
20 Wiegand, 396, 399.
21 Vgl. im Hinblick auf das Republikprinzip: Frankenberg, 212 f.

Literatur:

Butzer, Hermann / Clever, Marion, Grundrechtsverwirkung nach Art. 18 GG: Doch eine Waffe gegen politische Extremisten?, in: Die Öffentliche Verwaltung (DÖV), 1994.
Denninger, Erhard, Verfassungstreue und Schutz der Verfassung, Der gebändigte Leviathan, 1990.
Frankenberg, Günter, Angst im Rechtsstaat, Kritische Justiz (KJ) 1977.
ders., Die Verfassung der Republik, 1996.
Gallwas, Hans-Ulrich, Der Mißbrauch von Grundrechten, 1967.
Hesse, Konrad, Grundzüge des Verfassungsrechts der BRD, 20. Aufl.
Hönsch, Gerhard, Die Verwirkung von Grundrechten nach Art.18 GG und das Monopol des Bundesverfassungsgerichts aus Art.18 GG, 1962.
Reissmüller, Johann Georg, Das Monopol des Bundesverfassungsgerichtes aus Art. 18 GG, Juristen Zeitung (JZ) 1960.
Schmitt-Gläser, Walter, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, 1968.
Wiegand, Bodo, Kein Grundrechtsschutz für Extremisten, Neue Justiz (NJ) 1993.