Heft 4 / 1999:
Verfassungspotentiale?
50 Jahre Grundgesetz
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Sag' mir, wo die Väter sind
Eine verfassungshistorische Recherche
 

Mann kennt das ja. Plötzlich ist da ein schreiendes, hungriges Bündel in der Welt und irgendeine "Frauensperson" (§ 825 BGB) deutet auf den Vater, den sie zu kennen glaubt. Häufig wird der mutmaßliche Erzeuger im Zweifelsfall Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um zu verhindern, in Zukunft mit der poetischen Bezeichnung "Zahlvater" gerufen zu werden. Dann schlägt die Stunde der §§ 1600 n und 1600 o BGB, nach denen vermutet wird, daß das Kind "von dem Manne gezeugt ist, welcher der Mutter während der Empfängniszeit beigewohnt hat." Die Empfängniszeit bestimmt sich nach § 1592 BGB, aber bevor es hier bereits zu sehr in die fleischlichen Details geht, tauchen leise Zweifel auf, ob es sich hier überhaupt um die einschlägige juristische Materie handelt.
Naheliegender scheint doch zunächst folgende Überlegung: Der Erfolg hat viele Väter. Das Grundgesetz ist die am längsten gültige demokratische Verfassung in der Geschichte deutscher Staatlichkeit seit 1871. Wer möchte da beiseite stehen?
Man könnte vermuten, die geistigen Väter seien eher im Ausland anzutreffen, war das Grundgesetz doch inspiriert von französischer Freiheitsliebe, englischer Parlamentskultur und amerikanischem Föderalismus, wobei die ersten beiden Ingredienzen leider ein wenig schwach ausgefallen sind, und der Föderalismus ist im Zuge einer schleichenden Kompetenzerweiterung des Bundes im Lauf der Jahre... Aber wir wollen nicht meckern. Lassen wir die Kirche im Dorf und das Kruzifix im Klassenzimmer.
Am 1. Juli 1948 übergaben die drei Militärgouverneure England, Frankreichs und der USA den Ministerpräsidenten der westlichen Zonen die drei sogenannten Frankfurter Dokumente. Dokument I betraf die zu erlassende Verfassung. Der Arbeitsauftrag sah die Schaffung einer verfassungsähnlichen Grundlage für einen deutschen Weststaat vor. Drei Dinge sollte dieses Gebilde erfüllen. Es sollte lose genug sein, um Frankreichs Trauma vom transrheinischen Erbfeind überwinden zu helfen, stark genug, um ein westliches Bollwerk gegen den Bolschewismus zu bilden (am 24. Juni, eine Woche zuvor, hatte die Berlin-Blockade begonnen) und es sollte unbestimmt genug sein, um ein Hintertürchen für eine spätere Wiedervereinigung offenzuhalten. Heute wissen wir, daß das Grundgesetz alle Anforderungen "stets zur vollsten Zufriedenheit" erfüllt hat, wie es in Zeugnissen so treffend heißt. Dabei waren die deutschen Vertreter von der ihnen angetragenen Vaterschaft gar nicht begeistert.
Erst das Vorspiel half ihnen auf die Sprünge, die Arbeiten des Herrenchiemseer Verfassungskonvents nämlich, der im heißen und sinnlichen Monat August des Jahres 1948 im Schloß Herrenchiemsee zur Sache ging. Am 1. September 1948, in der schwülen Atmosphäre des Nachsommers, trat im seit jeher für seine Zügellosigkeit verrufenen Bonn der Parlamentarische Rat zusammen. 65 Abgeordnete und fünf weitere für Berlin unter dem Vorsitz von Konrad Adenauer zogen sich zu den "Beratungen" zurück, wie es in der keuschen offiziellen Geschichtsschreibung heißt.
Bleibt die Frage: Mit wem? Mit wem haben sich die Väter der Verfassung ein ums andere Mal gepaart? Wem wurde die Kraft ihrer Lenden zuteil? Eine in den letzten Jahren stärker werdende modernistische Strömung will in den Reihen des Parlamentarischen Rates "Mütter" ausgemacht haben. In der Tat gehörten zu diesem Gremium vier Frauen: Friederike Nadig und Elisabeth Selbert (beide SPD), Helene Weber (CDU) und Helene Wessel (Zentrum). Die Vorstellung allerdings, daß diese tapferen Vorkämpferinnen für ein demokratisches Gemeinwesen in diesen Wochen und Monaten ein ums andere Mal in innige Verbindung mit den 70 Vätern getreten sind, um große und kleine Koalitionen zu bilden, ist schwer vorstellbar. Mit wem also? Mit Justitia, die zum Blindekuhspielen animiert, sich jeglicher Zurückhaltung begab? Mit der "patria", die ja nicht umsonst grammatikalisch feminin ist? Aber wenn sich Männerstolz mit Vaterlandsliebe paarte, kam in Deutschland noch nie etwas Demokratisches dabei heraus.
Daß die in Frage stehende Frauensperson zumindest menschliche Züge besessen haben muß, legt die Dauer der Schwangerschaft nahe. Denn neun Monate nach Beginn der Arbeit des Parlamentarischen Rats, am 23. Mai 1949, erblickte ein strammes Grundgesetz und mit ihm ein neuer Staat das Licht der westlichen Welt. Es blieb Theodor "Papa" (sic!) Heuss vorbehalten, das neue Gebilde mit dem Namen "Bundesrepublik Deutschland" zu belegen. Seine Gründung mußte allerdings unter Aufsicht und in Anwesenheit schwerbewaffneten Militärs stattfinden. Bis zum 8. Mai 1945 und teilweise darüber hinaus war man nicht in der Lage gewesen, sich Hitlers zu entledigen, sich in einem Volksaufstand auf seiten der Alliierten gegen das Regime und seine Schergen zu wenden. Die Rede von den Vätern versucht die nicht stattgefundene Revolution zu ersetzen. Was blieb, war ein doppelt väterlich-fürsorglicher Neuanfang von oben, vermittelt durch die Autorität der Alliierten und den Parlamentarischen Rat. In der Feierlaune des Jubiläumsjahres 1999 wird übersehen, daß am 3. Oktober 1990 auch die "Erfolgsgeschichte" des Grundgesetzes unter alliierter Obhut zu Ende gegangen ist. Seitdem ist verfassungsrechtlich eigentlich nichts geschehen, was den Anschein erweckt, die nächsten 41 Jahre könnten eine weitere Verfestigung demokratischer Werte bewirken. Bevor es dazu kommt, müßte es zunächst mit dem Vatermord in Deutschland klappen. Im übertragenen Sinn natürlich.

Ralf Oberndörfer ist Volljurist. Er lebt in Berlin und ist Mitherausgeber der interdisziplinären Vierteljahreszeitschrift FAUST.